Reisebericht II: Bergsturz und flache Landung

Nein, ich bin nicht vom Berg gestürzt. Aber ich habe viele Bergstürze gesehen.

REISEBERICHT AHRNTAL  2021, 11.-27.9.2021

Seit zwei Wochen schweigt mein Blog. Die Begründung geht teilweise in diese neue Staffel meiner Mitteilungen und Reflexionen ein, teilweise bleibt sie bei mir, wohl noch längere Zeit. Ich hatte schlechte Monate, was meine Work-Life-Balance betrifft, und damit auch, was meine Kommunikation mit anderen, Familie, Freunde, Andere, angeht. Der Hauptaspekt sind die Ereignisse in Afghanistan, die ich unter der Rubrik UMSONST, ABER NICHT VERGEBLICH – oder umgekehrt zusammenfasse. Diese Neubewertung von zwanzig Jahren Arbeit an einem Schwerpunkt, es gab und gibt andere, gut so, ordnet andere Arbeiten und Schwerpunkt um, damit bin ich nicht zu Ende, und auch die Bundestagswahl spielt hier plötzlich keine große Rolle (die neue Regierung wird schon zur neuen Staffel gehören…Jetzt einmal Ahrntal. Mehr als nur eine Zäsur, ein Einbruch in die Zeitreihen. Und nach dem Regen zwei Wochen schönsten Wetters.

Die Fakten, die ein Tourenbuch aufzählt, sollen knapp, nachvollziehbar und für spätere Tourengeher und Bergsteiger brauchbar sein. Das Ferientagebuch würde dagegen Reflexionen aus einem Freizeitintervall wiedergeben, sozusagen die Anekdoten eines Zwischenbereichs, der sich von der vorherigen Arbeitsperiode erholt und auf die nächste vorbereitet. Beides geschieht hier nicht. Die Reise ins Ahrntal ist zu einem wiederholten Ritual geworden, seit fünf Jahren in den letzten beiden Wochen des September. Vor drei Jahren hat es die ganze Zeit geregnet und geschneit und war gut, dies mal hat bis auf einen Tag nur die Sonne geschienen und es war gut. Die Personenkonstellation war im Grunde gleich wie in den vergangenen Jahren, aber doch in einer kleinen Variation: 1-3 – 6 – 4 -2.

1 war ich, zwei Tage früher aus der Projektarbeit in Österreich kommend, die zwei am Ende sind Birgit und ich. Ganz stimmt das nicht, denn die beiden Hunde Fia und Mopsa, haben durchaus Gewicht, bei der Planung, beim Gehen und Rasten, bei der Anpassung an die Umstände des nach wie vor exzellenten Bühelwirts, wo man natürlich nicht möchte, dass die aufgeschreckte Fia sich mit anderen Menschen anlegt (weshalb Birgit und ich eines Tages schnell mit dem Bus nach Bruneck gefahren sind, einen Maulkorb für das edle Tier zu besorgen). Alles ok, die Hunde zeigen auch unsere Grenzen, die gestaffelt sind nach Alter, Laufbereitschaft und Alpinophilie. Zum Abendessen sind dann immer alle zusammen, und dieses Ritual, zwei Wochen lang erstklassiges Menu, beste Weine und freundlichstes Ambiente zu genießen, bedeutet wirklich viel. Zumal es selten ist, dass einem nichts einfällt, was man an diesem Haus kritisieren könnte oder gar sollte, und das nach so vielen Jahren.

Nun könnte man beinahe das Gleiche über das Ahrntal sagen, aber die Sache ist komplizierter. Finge ich mit der Kritik an, würde es dem Gesamterlebnis so wenig gerecht wie der Abwägung und Vergleichung mit anderen Gegenden, finge ich aber mit der Lobeshymne an, dann wäre das aus meinem Munde unglaubwürdig.

Also Potpürré. Dieses Tal jenseits des Alpenhauptkammes und konkret des Zillertals in Österreich liegt geologisch, historisch und soziologisch so komplex, dass man gar nicht auskann als immer wieder Knoten- und Anknüpfungspunkte zu festzustellen. Schon dass man nicht direkt hineinkann ins Tal, sondern aus dem Eisacktal ins Pustertal, von Bruneck nach Sand in Taufers und dann erst ins Ahrntal, quasi in einer großen Schleife zurück an den Hauptkamm, kommt, ist merkwürdig. Und ist man da, wird’s mit jeder Straßenbiegung schöner. Aber es ist kein Tal, das seit Jahrhunderten für Touristen geschaffen wurde. Es gibt sozusagen industrielle Inseln, und eine, wie subventioniert auch immer, sehr aktive Landwirtschaft, die die Traktoren schon um sieben den Feriengästen Prioritäten beibringen lässt, zumal in diesem Jahr, wo das jetzige Schönwetter die Regenperiode davor kompensieren muss. Jeder Heuballen zählt. Die wirklich großen Gebäude auf den Höfen sind die Ställe und Heulager, auch die modernsten subventionierten Maschinenparks gehören so dazu wie die Almstraßen, ohne die hier nichts liefe – da sollten Touristen mit dem Schimpfen über die einheimischen (wenigen) Autos vorsichtig sein: Anders wollen die meisten Almen nicht erreicht sein. Irgendwo, noch weiter oben, oberhalb von 1700 m, wird’s dann fahrweg- und autofrei, nur mehr ein paar Mountainbiker und e-Biker erzeugen noch Fragezeichen, aber man weiß schon, Natur als unberührte „Natur“ gibt’s natürlich nicht. Aber viel schöne Naturlandschaft.  Und zwar von ganzen unten im Tal bis ganz oben. Es lohnt die verschiedenen Kulturschichten von den Bauernwirtschaften bis zu den Almen genauer anzuschauen, auch die Waldschichten und die unentwegte Bewirtschaftung. Es lohnt unter anderem deshalb, weil man sehen kann, welche Vorsorgen und Nachbesserungen gemacht werden müssen, und zwar aus gegebenem Anlass (Kyrill, der Regen im Juli und August…) und den Folgen des Klimawandels. Die Narben von Kyrill, die mittlerweile nach Jahren gesäuberten und geräumten großen Waldflächen sind mittlerweile schonungslos einsehbar, und auf bestimmten Wegen kann man sie bis heute nicht durchqueren, was vor der Räumung noch möglich war. Der diesjährige Starkregen war verheerend, nicht nur für die Heuwirtschaft. Große Muren sind abgegangen, aber auch ganze Grasteppiche haben sich vom Untergrundgelöst und sind nach unten gerutscht, oft gefaltet wir Stoff. Es wurde und wird repariert, aber vieles wird sichtbar bleiben. Natürlich, wie ich schon früher schrieb, ist der Schwund der Gletscher sehr weit oben nochmals fortgeschritten, ich fürchte, ich werde es noch erleben, dass man in einigen Gebieten gar kein Eis mehr sieht. Und die grauen Geröllhalden ehemaliger Gletscher sind zwar auch Natur, aber ihre Ästhetik ist eher bedenkenweckend als Lernstoff. Das alles hat das Tal nicht hässlicher, nur bedenklicher gemacht. Die Bausubstanz ist natürlich weiter gewachsen, langsam zwar, aber immerhin hoch verdichtet, sodass ins Grün dazwischen nicht soviel eingegriffen wird, aber klar: das wächst (und muss wohl, wenn es bleiben will, was es ist – Landwirtschaft + Tourismus + lokale Ökonomie). Dafür, sagen mir Bekannte, gäbe es weniger Abwanderung und viele ausgelernte und studierte junge Menschen blieben oder kämen ins Tal zurück. So viele Arbeitsplätze brauchen die Höfe auch nicht mehr.

Solche Gedanken begleiten mich bei jeder Wanderung, sie sind auch Gesprächsthema. Aber: da ist ja noch die Anwandlung von Berg und Wald und Fels und Getier, mit jedem Schritt, mit jeder Anstrengung, als basso continuo oder als leise Oberstimme, wie letztlich der röhrende unsichtbare Hirsch, der begleitende Rabe, oder aber der kreisende Habicht oder Bussard. Man beobachtet das alles und zugleich spürt man sich, die Anstrengung, die nicht gleichmäßig mit der Gewöhnung an sie abnimmt. Steil allein macht nicht müde. Als wir zum Waldner See hochsteigen, haben wir schon eine lange Wanderung und den Ruhetag der Hütte hinter uns. Der hohe natürliche Wall, der den See daran hindert, das ganze Tal zu vermuren, ist praktisch, weil man so von oben aufs Wasser schauen kann und alle Spieglungen und Kräuselungen aus nächster Nähe sieht. Der Hund hat kein Bedürfnis, hinunter zu springen, weil sie ohnedies schon aus jedem Bächlein getrunken hat und gerne auch darin watet. Zuviel Wasser wird allerdings dem Berg entzogen, nicht nur für die Winterbeschneiung der (wenigen) Skipisten, sondern wohl für Wasserleitungen weiter nach unten. Man sieht einige Austrocknungserscheinungen. Aber es gibt in großer Höhe auch sorgfältige gepflegte Biotope, Hochmoore und Teiche, denen man bisweilen sehr nahe kommen kann. Ein Waldweg durch mehrere Schichten von Lawinensicherungen ist beeindruckend. So weit unterhalb der Felsgerölle im Wald und noch eine Lage Draht und Stahl nach der anderen. Wir kennen diese Gegend aus dem frühen Winter vor vier Jahren, die Schneemassen sind beeindruckend, aber der Laie unterschätzt ihre Gefährlichkeit. Die Drahtverhaue und mächtigen Stahlanker schauen aus wie moderne Skulpturen. Wo sie nicht gewirkt haben, sind die Abbrüche und Geröllmassen entsprechend erschreckend, und man kann sich das zugeröllte Dorf gut vorstellen. Franz Hohler taucht aus der Erinnerung auf. Auch die Schwarze Spinne des Jeremias Gotthelf, die das Tal über Generationen hinweg auf den richtigen Pfad bringen möchte. Und wenn ich nach der Sauna auf dem Rasen des Hotels ins Tal schaue, drängt sich auf, wie groß der See wäre, wenn man die wirklich enge Klamm bei St. Peter mit einer Staumauer verschlösse. Kein Kirchturm schaute noch heraus. Dieser Rasen wird zur Freude der Hunde von einem Computerrasenmäher mikroklein gehalten, wo sonst überall kundig gemäht wird.

In der letzten Nacht vor der Abreise hat es geregnet. Der Abschied fällt trotzdem schwer, zumal das Frühstück schon um 7 und nicht erst um 9 die neuen Lebensgewohnheiten auch hier möglich macht (worauf ich mich in Potsdam freue), jetzt gehts los: Schwer bepackt zu Tal, diesmal ohne auszurutschen, Bus, Lokalbahn, IC, ICE, just in Berlin Südkreuz die notwendigen zehn Minuten Verspätung, dass wir den Anschluss in Berlin nicht bekommen, dafür pinkelt der Hund und beginnt sich zu freuen. In Potsdam scheisst Fia freudig und fühlt sich wie verrückt freudig im heimischen Revier. Man merkt uns die Erholung schon an, das nachhaus Kommen ist keine Depression. Und am ersten Tag danach regnet es gerade stark genug, dass ich mich daran freue.

P.S. wir haben die Wahl am Sonntag natürlich verfolgt, aber selbst die internen Kommentare müssen warten. Das ist alles demokratiegerecht kompliziert und ich freu mich so oder so für meine Grünen und werde Herrn Scholz weiterhin nicht leiden können, Herrn Laschet noch weniger, und alles weitere bringt die Politik. Zurück zum Anfang des Berichts: die Nach- und Aufarbeitung geht weiter, beginnt vielleicht erst richtig.

Kein Reisebericht: Wien I

Die mit Furcht vor Unzulänglichkeiten angetretene Reise nach Wien war ein Erfolg: Pünktlich der BER2 Bus von Potsdam, problemlos das Einchecken bei easyjet (EIN einzelner Mensch dirigiert die vollkommen digitale Prozedur, nur die Gepäckklebebänder müssen richtig um den Griff gewickelt werden), schnell ist man bei der Sicherheit, und hier hat Securitas dazugelernt, höflich und kompetent und mehrsprachig. Ich möchte schon zu Toms Lachen sagen, so ganz anders als die blöde DB. Der Flughafen ist nach 13 Jahren Bauzeit nicht schön und bis auf die vielen Eincheckinseln recht übersichtlich und man geht halt lang, wenn die Laufbänder stillstehen. Kaufen tät ich hier eh nichts, und wenn der Flieger nicht verspätet gewesen wäre, lobte ich auch easyjet, die wirklich ordentlich alles machen und die Passagiere dazu bringen, ihren Müll wieder mitzunehmen. So entfällt die Bodenbordreinigung. Und so geht’s in Wien weiter, als ich aus dem Zoll rauskomme, ist mein Koffer schon am Band, nach ein paar Minuten bin ich im S Bahnzug und bin über die sich ausdehnende Industriestadt immer neu erstaunt. Vom EKZ, pardon: Wien Mitte, fahr ich mit dem O in die Laxenburger Straße und gehe eine halbe Stunde zu Hannes, Freitag nachmittags in einem Stadtviertel, das bestenfalls halb von der Stammbevölkerung belebt ist: sehr viele Türkinnen, Afrikanerinnen, Albanerinnen, fast alle diszipliniert doppelt maskiert, ein Volksfest für Vorurteile und das angenehme Gefühl, dass es neben dem rechtslastige Kanzler Kurz auch noch echte Menschen gibt. Ernsthaft, Migrationsphobie kommt hier nicht auf, allenfalls Fragen nach dem Hintergrund der vorurteilsgespaltenen Gesellschaft, so schlimm wie Deutschland, etwas anders – weil die Praxis multiethnisch angepasster ist, gut, aber sich auch ethnische Inseln bilden – weniger gut. Die Gesellschaft allerdings geht im Gleichschritt mit der globalen Entwicklung nach rechts, und Covid nach oben.

Wenn ich durch den früher und teilweise auch heute oberklassigen Dritten Bezirk fahre (Landstrasse, Ungargasse, Fasangasse), dann geht die Transformation in den Wiener ebenso schnell vor sich wie etwas später am Hauptbahnhof und dann durch endlosen Gemeindewohnungen, die Wien so sozial und unliberal auszeichnen, wie natürlich Protektion und Korruption blühen und grade jetzt aufgedeckt werden, wie so häufig. „Mein“ Wien ist auch eine Konstruktion, Heimat – nein, so wenig wie Stanisic seine wirklich beschreiben kann. Aber, anders als Berlin, ist das einer Stadt. Ich musste etwas zufrieden lachen, als abends im Fernsehen zufällig die erste Folge von Unterleuten wieder gesendet wurde. Das Land ist auch anders, auf das die Städter ziehen.

In der Wohnung des Freundes schnell eingezogen, alles angeschaltet und den hellen Himmel mit guten Wetterprognosen genossen. Das Nachlesen von einer Woche österreichischer Medien zeigt Parallelen zur Süddeutschen Zeitung, aber man erfährt „mehr“ als in Deutschland, was unkonventionelle Nachrichten betrifft. Natürlich meine ich noch immer Afghanistan, Flüchtlinge, aber auch kleinste und detaillierteste Kriminalfälle, die so geschildert werden, als gäbe es keinen Zusammenhang mit der grossen, globalen Krise (Karl Kraus hatte mit den Letzten Tagen der Menschheit am besten die Zeit vor und während der Katastrophe geschildert, nur stimmt heute Merkels Satz, dass man hinterher immer klüger sei, nicht mehr – und das reduziert die Hoffnung, lässt die Zuversicht schrumpfen.

Das also war der Abend des Nachbereitens. Ich melde mich nicht bei den Freunden, bis auf Jochen, und gehe morgen zu Batya in den Verlag. Es wird eine Arbeitswoche, geschmückt mit Toss, der Montag kommt, Fahrten nach St Pölten und Poysdorf, und eine hoffentlich disziplinierte Parallelaktion mit dem, was ich tatsächlich wahrnehme, denke und „fühle“, weil die Sicherungen im Alter ja bekanntlich schwächer werden. Lange Assoziation, erotischer intellektueller wissenschaftlicher und banalster Natur, keine Kommata, lassen den neuen Status der grösseren Gleich=Gültigkeit entstehen, Meissner oder Barnes…als Vorbilder. Abkehr vom Glück.

Ich hätte ja genug zu tun, aber ich überbrücke den Mittag mit einer Fahrt zu einer alten Freundin, die die Gefährten meines besten Lehrers und Mentors war, Renate. Die Badner Bahn durchquert ein Dienstleistungs-, Shopping- und Handwerksgebiet, das mich an die IS 80 von New York nach Rockaway erinnert, mindestens 20 Minuten lang, der Zug füllt und leert sich pulsartig, Parkplätze und Einkaufstaschen quellen über. Viele Ausländer, aber auch viele Hiesige, alle tätowiert. Zwei Kirchen aus dem 18. Jh. Stehen noch an den Durchfahrten der längst integrierten älteren Orte, die passen zu einer entkatholisierten Gesellschaft, in USA schauen Banken oft so aus.

Bei Renate war es nett, sie ist sehr gealtert, dabei erst 80, und gar nicht einmal noch kränker, sie kann halt nicht gehen, aber sie liest und nimmt Anteil und ist agil. Ich habe ihr mit meinem Besuch gefallen, eine Mizwah zu den Feiertagen. Ohne Hans wäre sie nicht glücklich und ich nie erwachsen geworden. Shana tova, da ist sie noch immer dabei, die Badner Gemeinde aber ist zerfallen.

Zurück in den sonnigen Samstag. Und weiter geht’s. Von der Oper zum Stephansplatz: es wälzen sich Tausende, halb nur Touristen, aber babylonisch. Vor dem Casino filmwürdige Einlasskontrollen. Bei P&C würden Gürtel 129 Euro kosten, dann lieber die eine, die sündige Burenwurst: da stand eine kleine Kolonne, die Wurst kostet noch immer 3,50. Ich staune am Graben, Knize ist im Vergleich zu 1993, mein schönster Anzug!, nicht teurer, sondern billiger geworden…Ansonsten greift der Luxus schon um sich, vor Dior mindestens 20 Wartende. Ich gehe zum Schottentor; die gentrifizierten und kommerzialisierten Palazzi in der Herrengasse von der NÖ Landesregierung befreit, nur mehr teilweise von diesem Land beschlagnahmt, treiben mich schnell voran. Dann gehe ich, andante sostenuto, die ganze Währinger Strasse bis fast zum Gürtel. Diese Strasse, aber auch die Parallelen Liechtensteinstrasse und ein wenig Alser Strasse und was dazwischen ist, bieten eine Häufung an wichtigen Symbol- und Realorten, manchmal jedes Haus, ich mache ine Stadtführung durch meine Vergangenheit. Mein erster Bankautomat. Das Institut, in dem drei Tage Pharamazie studieren wollte, bis mich mein Freund und Lehrer Hans Meissner davon abgehalten hat. Davor der wohl beste Würstelstand der damaligen Zeit, der macht jetzt nur am Abend auf. Gegenüber das Hotel Regina, damals nur betretbar, wenn eingeladen, später Übergangsort spätabends. Dahinter, in den Gassen rund um die Votivkirche wohnten Freundinnen und Freunde, Uni-nah und doch abgesetzt. Das Anatomische in der Währinger Strasse gehört jetzt zur Medizinuni, es schaut zeitlos aus und vielleicht rieche ich den Seziersaal bis hierher. Daneben ein neuer Äthiopier, sonst alles unverändert. Das herrliche Josephinum, spätes 18. Jahrhundert, stilecht renoviert, damals studierte meine Mutter in den Labors, heute natürlich ein Museum, neben so vielen anderen. Gegenüber war die Forschungssektion des Ministeriums, mit guten Freunden und unten einem der gern besuchten Cafés. Ich kannte die Gegend schon von Schulzeiten her: neben der Forschungssektion das Palais Clam-Gallas, französisches Kulturinstitut und Hauptsitz des Lycée Francais, das ich 1953-56 besuchte, nachdem ich das erste Schuljahr in der ölbodenbestreuten Breitenseerkaserne lernen durfte. Das für damalige Verhältnisse wahnsinnig moderne Schulgebäude konnte nur von unten betreten werden, die Strudlhofstiege mit allen Assoziationen führt am Palaisgarten hinunter, dort war ein anderes Zentrum meiner Wiener Geschichte. Wenn ich oben bleibe, dann steht da noch das gewaltig große Physik-Gebäude der Uni Wien, mit zahlreichen Instituten (Boltzmanngasse, mein Freund Peter Hille war lange Zeit da, es roch nach den präparierten Nobelpreisen und ab und an traf man noch auf Berta Karlik (1904-1990), die schon eine großartige Wissenschaftlerin war. Auch habe ich hier meine erstmaligen physikhistorischen Studien gemacht, die ich ja erst 1986 eingestellt habe, einstellen musste, man kann nicht alles machen…Gegenüber eine wirklich gute Kunsthandlung, die mir einiges an Erbe gerahmt hatte und heute z.B. Arik Brauer anbietet. Und daneben ein für Rendezvous aller Art geeignetes Café in bester Nähe zu allen universitären Einrichtungen und eben geeignet zum Abhandenkommen so viel wie zur Boheme des Verlassenwerdens. Daneben das Museum des damaligen Bezirksamts, langweilig, hingegen schräg gegenüber Doderer. Am Talpunkt kreuzen sich noch immer die wichtigen Strassenbahnen, ich bin oft hier durch nach Hause, die Währingerstrasse stadtauswärts bis fast zur Hockegasse in Gersthof, wo ich in den 90er Jahren eine Wohnung neben Hilles hatte. In jener Hockegasse, in der Jahrzehnte vorher geboren wurde, 1947 in der damaligen Semmelweis-Klinik, die heute ein Ausländerpassamt ist… gegenüber der Haltestelle sieht man heute noch die Bohrlöcher, da war jahrzehntelang eine Tafel: Ella Firbass, Gesangslehrerin.

Und das alles wäre eine Tagestour für eine Führung durch das wirkliche Wien schon wert. Mir fallen da noch ein paar Leute ein, ein paar vergessene Namen und ein paar Nebengassen, in denen sich abgespielt hat, was auch nicht mehr aufrufbar ist. Aber ich schreibe ja über die Systemumgebung von Daxner und nicht über mein System. Schade, eigentlich…primum scribere, deinde vivere.

Mit Jochen Fried bei Lechner herrlich gegessen, Robelzwistbraten. Ein sehr kleines Beisel, das unbeeindruckt von Sushithaifusionstarbucks weiterhin Kultur repräsentiert. Bei der Heimfahrt in den Zehnten angeregte Diskussion mit vier MaskenverweigerInnen, AlbanerInnen, deren Anführer erschrocken war, dass ich freundlich über die Verkürzung und Verlängerung der Ewigkeit bei frühem oder späteren Sterben mit ihm gesprochen habe und nicht mit Nehammers Bullen gedroht hatte.

Das Wiener Verkehrsnetz ist nicht zu überbieten. Auch das gehört zur Führung.

Bemerkenswert die Burgtheatereröffnung mit scharfer Kritik an der Afghanistanpolitik von Nehammer und Kurz. Das ist seltsam in Österreich: Teile des Establishments und der herrschenden klassenübergreifenden Kleinstbürgerei tragen durchaus post-austrofaschistische Züge, dem aber steht sehr viel mehr kritische und vor allem treffende Opposition der denkenden Klassen gegenüber, nicht so sehr an die politische Ökonomie gebunden als vielmehr an ihre Sublimierung.