Neoliberale Bildungslücke

Spenden Sie auch? Das entlastet ihr Gewissen und hindert Sie nicht an einem Lebensstandard, dem Sie ja nichts abzweigen. Sie zahlen aus dem Überhang.

Wenns nicht so ist, pardon, dann knappsen Sie sich wirklich etwas zugunsten der Ärmeren, Notleidenden, Hungernden, Frierenden ab.

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Der FDP-Politiker Köhler hat nun einen weiteren: Wer Hartz IV bezieht und beim Heizen spart, soll finanziell profitieren.“ (ARD 30.7.2022)

Da sieht man, was ein gutes Herz ist. Die Armen müssen beim Heizensparen, damit sie einen Zuschlag bekommen zu ihrer Lebenshaltung. Ein bisschen frieren, im Dunkeln sitzen, und wofür geben sie dann den Zuschlag aus, der so hoch ist wie das „Eingesparte“? Ratet einmal.

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Dass das aus der Luxusinselpartei kommt ist kein Wunder. Lindner und seine Neoliberalen sind schon von Chernobyl und Fukushima so verstrahlt, dass sie auch gerne die AKWs weiter laufen lassen. Entsorgen brauchen wir nicht, weil in drei Generationen ohnedies niemand mehr lebt, und die FDP ohnedies nicht kinderreich ist.

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In drei Generationen? Können auch fünf sein. Aber das Klima lässt sich nicht umdrehen, darum bitte keine Tempolimits für PKW, Ausbau des Flugverkehrs und Straßenbaus und vor allem die Spaltung der Gesellschaft als Kampf gegen die erwartbar aufbegehrenden Armen befürchten. Das liest sich wie der Klassenkampf im späten 19. Jahrhundert oder die Romantikstube der alten Linksparteien. Aber hört genau zu bei Wohlstandslindner, der die Grünen und andere anständige Menschen jagt.

Eine Folge der Bildungsmisere Deutschlands ist, dass die meisten die Schuldenbremse nicht verstehen. Dabei muss man nur ein wenig Volkswirtschaft wissen, um klar zu sehen, dass es bei Staatsschulden nie um die Schuldensumme und immer nur um die Rückzahlfähigkeit der Zinsen und Raten geht. (Anders als im Privathaushalt mit Privatkrediten). Und da hat Deutschland keine Probleme und wird sie nicht haben, die EU insgesamt auch nicht. Die wirklich armen Länder, die gerade weiter ausgenommen werden, schon eher. Aber bleiben wir hier.

Den FDP Satz werden viele gut finden, weil es die Reichen nichts kostet und die Armen selbst an ihrer Sanierung mitwirken können, das heißt fördern und fordern in der Sprache der Geldgläubigen.

Man könnte auch vorschlagen umzuverteilen. Es gäbe vielleicht anständige Mehrheiten dafür. Aber dann würde der Spalt kleiner und die Gesellschaft solidarischer, und das hat dem Wohlstand noch nie genützt.

Zwischen den Kriegen: kein Frieden

Der Erste Krieg wurde der große genannt, und er war kaum zu Ende, da bereitete sich der Zweite Weltkrieg vor, das heißt: er wurde vorbereitet. Obwohl er vielleicht 1919 noch nicht absehbar war. Der zweite Krieg war kaum zu Ende, da ging er in den Kalten Krieg über, und an dessen Ende begannen die meisten Menschen zu spinnen: sie glaubten 1989, dass alles besser würde, weil ES sich verändert hatte. Aber SIE haben sich nicht verändert, denn Evolution geht langsamer als das vorauseilende Bewusstsein, das schon vom Frieden weiß, bevor irgendjemand davon träumen kann.

So sehe ich das in den heißen, wolkenlosen Stunden des ausdörrenden Landes und trockenliegenden Bewusstseins. Nicht jetzt diskutieren, bitte, ob es noch oder wieder oder welche Hoffnung gebe, und was man erwarten müsse oder könne, auch ob man jetzt anfangen könne zu beten oder zu fluchen.

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Als ich vor ein paar Wochen schrieb, wir seien im Krieg, und wenn ich diesen Zustand im politischen Quantensystem auch ablehne, so muss ich mich doch entweder auf ihn einstellen, oder aber wir sind gar nicht im Krieg, sondern im Frieden. Dann sind bestimmte Handlungen ausgeschlossen, aber auch bestimmte Konsequenzen nicht denkbar. Und, wichtiger, was ist das für ein Frieden, bei dem die Empathiekurve mit den Opfern russischer Gewalt korreliert mit der Raumtemperatur im nächsten Winter?

Auch die Kriegsoption ist nicht ohne Probleme: wenn die Wirklichkeit uns nur von aktiven Kämpfen, aber nicht von der Beteiligung ausschließt, dann sind wir Etappe, stark von NATO, den USA und der EU-Spitze abhängig, aber auch gefordert, z.B. bei Waffenlieferungen.  

Die Unterwerfung, die Ghandi gegen die Kolonialmacht zum Sieg getragen hatte, ist nicht anwendbar auf Diktatoren wie Hitler, Putin, Stalin, Mao, und schon nicht übertragbar auf deren kleinere Spiegelungen, Erdögan oder Orban oder…Sie ist nicht anwendbar, aber ihre Verfechter drohen sich und uns damit6, dass im anderen Fall die Russen atomar reagieren, und das den Amerikanern, die ja 6000 km weiter weg sind, nicht so unmittelbar vorkommt wie uns, hier und jetzt.

Jetzt mache ich wieder Halt, keine Kommentare, wie immer. Ich frage mich vielmehr, ob die Gedanken an das mögliche Ende analog zu 1913/4, analog zu 1933, angemessen sind, und bejahe es doppelt. Es gibt ja ein Doppelpendel, über dem realen Kriegsgeschehen, global, pendelt der Klimawandel, global, und verschärft den Krieg bis zur Unmöglichkeit, ihn zu behandeln als politisches Entscheidungsfeld. Das ist nun nicht die Anbetung des „reinigenden“ Kriegs von 1914; auch nicht die Hoffnung, dass es „im Krieg“ besser sei als in der NS Diktatur „zu hause“, weil man im Krieg ja nie zu hause ist. Nein, gerade die Ablehnung des Krieges macht seine Wirklichkeit so schwierig und grausam.

Und dazu gehört, dass die Normalität des Alltags in der „Etappe“, im ökonomischen, sozialen, kulturellen „Hinterland“ des Krieges so unwirklich wirkt. Eingreifen durch Ermahnen und Zuschauen, während die Russen morden, vergewaltigen und brandschatzen, ist keine Politik, d.h. es ist doch eine, die die Nachfolgewirkung abschätzt und für sich, d.h. für uns erträglicher absieht als andere Alternativen.

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Jetzt sagt, was zu tun ist. Jetzt denkt, was ihr sagt.

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Die schwer zu beantwortende Frage ist, ob wir uns verteidigen, wenn wir Selenskyj und der Ukraine solche Waffen liefern, die die Russen im Zaum halten. Und was wir verteidigen.

Deshalb können wir nicht alle Bestandteile der Antwort der Politik übergeben und warten, wie dort entschieden wird. Wir müssen unsere Meinungen hinter uns lassen und auch dann antworten, wenn uns dabei etwas gruselt.

Inzwischen Frieden.

Wortkrieg im Sommer, Frieren im Winter

Weil ich mich aus den Kommentaren zum Krieg Russlands gegen die Ukraine (und Europa) weitgehend heraushalte, darf ich einmal eine Ausnahme machen. Einstieg: Begriffskrieg: Norbert Frei beschreibt in der Süddeutschen die unterschiedlichen Auffassungen zur deutschen Haltung in diesem Krieg (SZ 22.7.2022, und dabei geht es auch um die Analogien zu Hitlers Krieg und zum Faschismus. Da gibt es die zwei Seiten, Adam Tooze hält die Deutschen eher für eine gelungene postheroische Gesellschaft, aber Timothy Snyder verfolgt eine Faschismusthese, auch im Detail. Das kennen wir, dazu sage ich schon genug. Aber dann gibt es eine Passage: In Russland fehlt die Massenbewegung, die den Führer stützt, dafür gibt es eine Reihe anderer, diktatorischer Regime, die sowohl von den Massen getragen werden als auch die Merkmale faschistischer Systeme tragen.

Das ist schon ein besserer Leitartikel als viele zum Thema. Aber zum letzten Punkt habe ich eine Perspektive, die mit dem Krieg gegen die Ukraine wenig zu tun hat, mehr mit der Frage, ob wir der Illusion der Demokratisierung weltweit nach 1989 erlegen sind. Ich spreche von Illusion, also einer unvollkommen begründeten Wunschvorstellung. In unseren Zeiten (1968) und davor, in der Zeit der Dekolonialisierung, war die Illusion, dass die Befreiung von FremdHERRSCHAFT zur Demokratie führen würde. In den meisten Fällen gab es aber Überginge in neue Formen der Diktator und autoritären Staatssystemen. Und bis heute ist der Nord/SüdKonflikt noch immer eingekleidete in verlogene Markt- und Wachstumsideologien der globalen Ökonomie.

Das ist nicht neu, aber nicht Gegenstand von Allgemeinbildung und weithin geteiltem Politikverständnis. Ich bin zunehmend Bildungs-skeptisch geworden und setze mehr auf Wissen und Wahrnehmung. Wenn heute die Klimakrise die dominierende unabhängige Variable ist, wo gehört dann die Demokratie hin? und wie kann sie den Unsinn von Wachstum als Motor für (angestrebte) soziale Gerechtigkeit ausbremsen?

Desillusioniert kann man sagen, dass es keine lupenreinen Demokratien gibt, dass vielleicht ein Viertel der Staaten weltweit demokratisch strukturiert sind, genauso viele sind lupenreine Diktaturen und der Rest tendiert mehr zu diesen als zur Demokratie. Die postkoloniale Weltökonomie ist kolonial, auch im Inneren, also im nationalen und subnationalen, und die angestrebte globale Demokratie kann schon durch das Gerülpse von China und Russland im Sicherheitsrat oder den Selbstentzug einer Weltjustiz wie durch die USA ausgehebelt werden. Es triumphiert der so genannte Exzeptionalismus (den Begriff habe ich nicht erfunden, er sagt nur, dass ein Staat oder eine Gesellschaft für sich Ausnahmeregeln vom ansonsten durchaus vertretenen universalen Anspruch verlangt, und natürlich sind die Atommächte da im Vorteil).

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Ich mache keine politischen Vorschläge, wie denn auch auf einer Seite. Aber ich verlange, dass sich Demokratie dort ausbilden kann, wo die Menschen wissen, was der Fall ist, und worum es geht, wenn es z.B. im Winter zuhause weniger warm wird. Lassen Sie einmal einen der Demagogen zum Thema das den so genannten Massen erklären, anstatt den richtig argumentierenden Habeck als pessimistisch anzugreifen, wie der Blackrockmanager Merz tut; und, auf noch höherer Ebene: nehmen Sie sich die Mühe, den wirklichen Zusammenhang zwischen Putins Angriffskriegen seit der Krim und unserem Wirtschaftsgefüge erklären, anstatt die Behauptungen dazu immer und immer wieder auszumalen, bis die Menschen die Begriffe sich wie Implantate nicht mehr rausnehmen können. Erklären kann Demokratie sein, wo Behauptungen nur Wandmalereien sind. Auch die Unterscheidung ist Demokratie (bzw. ihr Gegenteil, wenn der Diktator Putin Krieg durch Militäraktion ersetzt, ist das wie in „1984“, wo das Kriegsministerium Friedensministerium heißt).

Zurück zum Anfang: Faschismus, Kommunismus und andere undemokratische Herrschaftsformen haben meist die Massen inspiriert, indem sie ihnen die Sprache entfernt und in verheerend anderer Form zurückgegeben haben. Wo die Massen nicht folgen, werden sie gefoltert und in Angst gehalten, das ist übrigens auch dort der Fall, wo sie „eigentlich“ ihrem Führer folgen wollen, wenn es nur für die persönlich nicht so schrecklich ausgeht wie für die, die es nicht besser verdien.

Weiches Hirn und harte Fakten

Wenn die Not am größten ist, zeigt sich a) das Rettende auch, wenn aber nicht b) gewöhnen sich die Menschen an die Not, und dauert diese an c) wird sie als nicht so schlimm oder gar als lebenswerte Alternative gewendet.

Ich bin nicht Hölderlin, also scheidet a) aus. Dafür sind b) im Übergang zu c) der Rahmen, in dem wir die in die Hitzewelle, Wasserknappheit und Trockenheit hineintorkeln, als ob nicht manche PolitikerInnen sinnvolle und viele von ihnen blödsinnige Vorschläge raussprudeln würden, ermattet und aufgeweicht durch das Sommerwetter.

Das Klima wird verdrängt durch Russlands Angriffskrieg, die Ukraine in Not wird verschoben, wenn die Raumtemperatur im Winter unter 17° fallen sollte, die Staatshilfen werden dafür gespalten in Hilfen für alle (Reichen) und die weniger Wohlhabenden und besonders Not Leidenden (die Armen). Ja, es gibt im reichsten großen Land Europas viele Arme; das ist den neoliberalen Markttrotteln egal, weil sie nur in ihrer gegenwärtigen Lebenszeit denken können, und es ist den Spitzenbürokraten egal, weil sie alle Probleme mit der engführenden Planwirtschaft des „Wir wollen“ abfangen.

Währenddessen beobachte ich mit vielen anderen (Gleichdenkenden?) wie die tatsächliche katastrophale Häufung dazu führt, dass der klassenübergreifende Pöbel die Probleme aufschiebt (AKW Fortführung) anstatt Konflikte regeln zu wollen (dass wir alle im Banne der Kriege leiden werden, ist klar, und die Regelung bestünde darin, die enormen sozialen Spannungen zwischen den besser Gestellten und der breiten Masse abzubauen. Stattdessen brüllen die Inselmagnaten Freiheit! Und die Bürokraten Gerechtigkeit!).

Das alles ist eigentlich nicht neu und lässt sich durch Realpolitik nicht nachhaltig ändern. Aber genau die wird gefordert, vor allem die Liberalen sehen darin „Entideologisierung“. Über all das kann man reden, soll man nachdenken, und vor allem, wir müssen handeln. Dass sich die aufgeregten Halbdenker nach wie vor mehr über die documenta 15 und den Konflikt zwischen Antisemitismus und Antikolonialismus erregen als über Morde an jüdischen und ausländischen Menschen, zeigt nur, wieviel an unseren Potenzialen schon beschädigt ist.

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Wie immer, geht es mir nicht um die weitere Kommentierung des bis zur Unkenntlichkeit kommentierten Geschehens an der Oberfläche unserer Gesellschaft. Dazu reichen die Kolumnen der besseren Medien, die aber die nicht die Meinungsbildung des Pöbels beherrschen. Ihr fragt, warum ich vom Pöbel spreche. Man denkt an Brot und Spiele, an die Populisten, Le Pen, Trump, auch bei uns gibt’s die, aber ich meine damit noch mehr: Pöbel, das sind die Gegenwärtigen, die sich nicht vorstellen können, wie ihre Kinder und Enkel in Zukunft nicht besser leben können, sondern schlechter.

Viele von uns hatten 1989, bei Überwindung des alten Kalten Kriegs gedacht, die aufkommende Demokratie würde den Klassenkonflikt beenden, so wie das Ende der Geschichte wohl angekommen sei. Von Nord/Süd war überraschend wenig die Rede. Zwanzig Jahre davor war auch wenig die Rede davon, wie viele Gesellschaften im Zuge der Entkolonialisierung in neue Formen der Diktatur übergehen würden, und davor…Befreiung von einem Übel heißt nicht Freiheit von jedem anderen Übel. Trivial? Wohl nicht, sonst hätte man vielleicht anders mit alle dem umgehen können.

Es klingt seltsam: aber ich denke, dass ein angestrebter Kompromiss immer falsch ist und der Demokratie schadet. Ein Kompromiss als Ergebnis des ausgetragenen Konflikts kann, muss nicht, die einzige, beste Alternative sein.

Dass man den Konflikt in der Demokratie austragen kann, wird heute bezweifelt. Manche träumen von der Ökodiktatur, andere von der Zwangsverteilung des potenziellen Reichtums. Dahinter steckt oft eine gute Absicht. Aber die Voraussetzung einer Änderung der Verhältnisse zum Guten ist ja nicht einfach, richtiger und besser als bisher am Objekt zu handeln (=Politik statt Meinung, oft auch Befreiung statt Freiheit). Da sind ja auch noch wir.

Rilke dichtet dazu: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
(1908, Archäischer Torso Apolls).

Da geht es auch um die Tatsache, dass wir angesehen werden von den Objekten, in diesem Fall von der Schönheit einer Skulptur. Peter Sloterdijk, den ich nicht mag, hat einem seiner guten Bücher diesen Titel gegeben „Du musst dein Leben ändern“ (Suhrkamp 2012), es kommt nicht darauf ein, seine These nachzuvollziehen. Vielmehr ist wichtig, dass wir unser Leben ändern (nicht unbedingt verbessern!!!), damit wir mit dem umgehen können, was uns ansieht: und das ist ja das Ende der Gattung durch unsere Untätigkeit.

Zu apokalyptisch? Schaut euch verdursteten Viehherden an. Den Gletscherabbruch. Das weiche Hirn der Aufschubpolitik.

Jüdischer Einspruch: Mendel hat Recht

Jüdischer Einspruch. Den macht Meron Mendel in der SZ vom 11.7.2022: „Wir brauchen keine Oberaufseher“.

Er hat sich als Vermittler von der documenta 15 zurückgezogen, erklärt das, und spart an einer Stelle nicht mit einer wichtigen Kritik, die ich teile: Über den Auftritt von Botmann vom Zentralrat im Kulturausschuss. „Die Documenta wird jetzt genützt für eine Generalabrechnung mit allen vermeintlichen Feinden. Man wirft das Banner, die Konferenzen ‚Hijacking Memory‘ und das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung in einen Topf…-Es gibt offenbar Menschen, die den Skandal dazu nützen wollen, um vorzugeben, was in diesem Land diskutiert wird, und diese Vorstellung basiert auf einem weiten Verständnis dessen, was Antisemitismus ist“.

Dass der Zentralrat nicht nur hier, auch anderswo den Antisemitismus nicht nur bekämpft, sondern auch fördert, ist bekannt und lässt sich nachweisen. Aber auch hier gilt, dass schwarz-weiß als Diskurslogik verboten ist, und man endlich dem Zentralrat mit adäquater Kritik entgegentreten muss, wie das Mendel sehr präzise tut. Mir geht’s nicht um die Documenta, sondern um das Reden darüber, vor allem von Menschen und Gruppen, die zum Thema nichts zu sagen haben und sich hinter ihrer Definition des natürlich abzulehnenden Antisemitismus verstecken.

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In Zeiten wie diesen darf der Diktator Putin den jüdischen Selenskyi Nazi nennen. Darf er nicht? Er tut es. Wenn manche sagen, man müsse mit Putin trotzdem reden, dann frage ich nicht, ob ja oder nein, sondern worüber. Über seinen Nazi-Vergleich? Nein. Nicht mit ihm. Darüber müssen wir reden. Wir umschreiben so vieles bis zur Unkenntlichkeit, dass selbst Megaworte, die längst keine Begriffe mehr sind, zur taktischen Waffe verkommen. Man kann und vielleicht muss man Putin als Faschisten bezeichnen, wenn man Faschismus als wissenschaftlichen Begriff ernst nimmt. Man kann und vielleicht muss man die AfD als Nazipartei bezeichnen, der klassische Faschismus passt weniger auf sie. Man kann und vielleicht muss man die ukrainische Geschichte, von den Judenmassakern 1920f. bis hin zu Bandera, ebenso kritisieren wie die Abwägung der Position zur Gegenwart. Ob das von ausgerechnet denen kommen sollte als Argument, die an der Abdrängung der Ukraine aus der deutsch-russischen Freundschaft beteiligt waren, bis vor ganz kurzem, ist eine innenpolitische und eine Frage der Aufrichtigkeit.

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Zurück zu dem verdienstvollen Mendel. Dieser reflektierte Mensch fasst in ein paar Sätzen zusammen, was im Augenblick untergeht, weil die Diskussion über die Ufer tritt. „…Mit dem Völkermord an den Herero und Nam muss man auch in Deutschland daran denken, wie man auf Rassismus gegen Schwarze reagiert. Darum dreht sich ja die aktuelle Diskussion um multidirektionale Erinnerung von Holocaust und Kolonialverbrechen. Diese Diskussion kann nicht durch Dekret für beendet erklärt werden. Deshalb tue ich mir auch schwer mit Statements wie dem, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson ist, wie Angela Merkel 2008 vor der Knesset verkündet hat. Wir brauchen keine Oberaufseher, die sagen, wie über Israel diskutiert wird, wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion…“ Er schreibt noch mehr richtiges, aber das sitzt bzw. soll wirken.  

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Jüdische Argumente gegen den Antisemitismus sind selten deckungsgleich mit deutschen Argumenten dagegen, und mit den Argumenten anderer Gesellschaften. Manches muss man als jüdischer Deutscher dann den Deutschen überlassen, wenn man die nicht verheilte Wunde des Bindewortes weiterhin schwären sieht. Deutsche UND Juden.

Deutsche Argumente gegen den Kolonialismus sind selten deckungsgleich mit den Argumenten anderer Gesellschaften, wenn es um die konkrete Geschichte und nicht um den universellen Begriff geht.

Was Mendel mit multidirektionaler Erinnerung meint, steht der so sehr herbeigeredeten Eindeutigkeit, auch in der Politik, entgegen.

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Die deutsche Zeit scheint manchmal still zu stehen. Da tobt der Krieg Russlands gegen die Ukraine, da versucht der globale Süden sich aus dem Schwarzweiß-Denken der postkolonialen Zeit zu befreien, da strickt sich Deutschland einen weiteren wärmenden Pullover für den nächsten nicht nur Kalten Krieg.

Schluss jetzt.

Erinnert euch daran, dass vor einigen Jahren ein Gedicht von Eugen Gomringer an der ASH zensiert und durch einen absurden, angeblich politisch korrekten Text, ersetzt wurde. Zur Auffrischung des Gedächtnisses: Streit um Gomringers „avenidas“-Text: Das neue Gedicht für die Alice Salomon Hochschule – Wissen – Tagesspiegel.

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Die Zensur schreitet weiter voran. Schon den BEGRIFF darf man nicht verwenden, es ist so ähnlich wie Putins Verbot, vom KRIEG zu reden (7 Jahre Haft). Wer die identitätsschwere Ablehnung von Kritik oder kontroversen Meinungen selbst ablehnt, wird mit Shitstorm oder Ausgrenzung bestraft. In einem ganz neuen Fall mit Ausladung. Lest erst einmal: Marie-Luise Vollbrecht: Der Vortrag, den ich nicht halten konnte (ZEIT #28, 7.7.2022, S. 11.). Die Hauptthese des Vortrags ist:

„Zu erklären, warum es aus biologischer Sicht nur zwei Geschlechter gibt. Klarzumachen, dass Debatten um soziale Geschlechterrollen etwas anderes sind. Und zu begründen, warum ich es für falsch halte, wenn beides vermengt wird“.  Es geht im Kern um die Vermengung von zwei Begriffen, Sex und Gender, die unterschiedliches bedeuten und verschiedenes in Kommunikation und Praxis bewirken.

Peinlicher noch als die Absage ist die selbstgerechte Unterwerfung des Vizepräsidenten der Humboldt-Universität unter die möglichen Folgen und Kontroversen, wäre der Vortrag in der Langen Nacht der Wissenschaften wirklich gehalten worden. Er hat im Übrigen die Differenz von Sex und Gender nicht verstanden und sagt zum Abschluss des Interviews: „Die Universität ist aber nicht dazu da, die politische Meinung ihrer Mitarbeiter zu schützen“. (Gleiche Ausgabe, S. 39).

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Schlimm, aber mit dem Vorteil, dass nun sehr viel mehr Menschen den Vortrag von Frau Vollbrecht kennen und darüber nachdenken oder auch streiten können. Auch das Gedicht von Gomringer ist nun weit verbreitet und ist überall nachzulesen. Das nenn ich Dialektik. Dass es in beiden Fällen um Sex und Gender geht, ist besonders auffällig und nachvollziehbar, die beiden Begriffe berühren ja wirklich alle Menschen. Begriffe: nicht jedes Wort ist ein Begriff, und Adorno setzt in seiner Negativen Dialektik (Adorno 1975), eine zugegeben schwierige, aber überraschend aktuelle Kritik der neuerdings so modischen Identitäts-Konstruktion in den Text.

So, wie ich mich nicht hindern lasse, LGBTQY zu unterstützen, im Allgemeinen und meist in den besonderen Fällen, so wenig lasse ich mich daran hindern, andere wissenschaftliche Erkenntnisse daraufhin zu prüfen, wieweit sie gesellschaftlich in das Konkrete unseres sozialen und individuellen Lebens übersetzbar sind. Kritik und Übersetzung macht unsere Kommunikation aus, nicht Ablehnung des Abgelehnten (und nicht Verstandenen?).

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Ich würde das gerne ausdehnen auf meinen Appell, aufzuhören mit dem mittlerweile dummen Anti-(anti)-Anti²- ANTI-semitischen Kommentaren zu dem, was sich auf der Documenta 15 tut. Viele, die da mitzureden meinen, meinen nur ihre Mein8ungen zu etwas, das mit jüdischen Menschen, meinetwegen „Juden“ nichts zu tun, aber mit deutschen Nabelschau, die sich nur als gereinigt und moralisch einwandfrei betrachten möchte. Damit kann man Vergangenheit auch auslöschen oder unscheinbar machen. Den Antisemiten machts Freude. Sagt mal schnell, um welchen Begriff es hier geht.

Adorno, T. W. (1975). Negative Dialektik. Frankfurt, Suhrkamp.

Deutschland so klein, so klein…Ach ja, der Westen. Ich bin nicht allein

HA! Ausnahmsweise war ich früher. Aber die SZ von gestern hat nachgezogen: Deutschland im Stillstand. 2.7.2022). Aber lest trotzdem erst bei mir weiter.

Die Selbstverzwergung der europäischen Führungsmacht, vor der Alpenkulisse, im Verkehr, in den Medien, wäre ein Thema für eine gesellschaftliche Opposition, nicht einfach Nahrung für den Meinungsstreit. Da aber die Auseinandersetzung entweder in der Blase der regierenden Eliten incl. Opposition erfolgt oder sie in der „Breite der Bevölkerung“ oft grund- und bodenlos aufspritzt wie ein Geysir und dann schnell zusammenbricht, bleibt vom zurückbleibenden Deutschland der schale Geschmack einer sich abhängenden Nation.

VORSICHT: selbstverständlich gibt es personale Ausnahmen, PolitikerInnen, die das ähnlich sehen und auch aussprechen, Medienkommentare, die sich daran hängen…ABER der Mainstream faltet die Hände vor dem Wohlstandsbauch und wehrt sich dagegen, dass die Armen es besser haben sollen und die Wohlhabenden abnehmen müssen, und dass das mit der Zwergenperspektive sehr wohl ursächlich und logisch zu tun hat.

Solche Gedanken könnten innenpolitisch aus der Linken kommen, tun sie aber nicht. Der außenpolitische Zwerg hat sich wieder brav dem Transatlantik statt der EUROPA-Sicht der Krisen- und Kriegssituation untergeordnet.

VORSICHT: das ist kein Antiamerikanismus, sondern die Einsicht, dass die USA im Falle einer wirklichen Ausweitung des Kalten in einen Heissen Krieg von den russischen Atomwaffen weit genug entfernt sind, um sie in Deutschland und Europa zu stationieren. Sehr wohl ist meine AMERIKAKRITIK stärker geworden mit der Spaltung der USA in einen faschistischen Flügel, von der Gerichtsmehrheit bis hin zu den neuen Rassismen, und einer ungeordneten Verteilung von geschwächtem Vorbild an Demokratie. Diese Kritik ändert nichts an meiner ABLEHNUNG  der russischen und chinesischen Diktaturen, also kein Einfallstor für die amerikafeindlichen Urdeutschen, die noch immer an den Vorsprung der deutschen Kultur vor dem Rest der westlichen Welt glauben, und in Putin auch das Opfer der früheren westlichen Aggression sehen (teilweise Frau Dardelen im DLF am 1.7.). Noch schlimmer aber ist, dass die Verhandlungsbefürworter (das sind WIR auch immer, wir nicht-Bellizisten) einfach vom Westen reden, als wäre das eine objektive Macht: Im Appell „Waffenstillstand jetzt!“ (ZEIT, 30.6.) ist dauernd vom Westen die Rede, da kommen wir so wenig vor wie die USA. DASS alle Forderungen der AppelliererInnen ganz gut sind, versteht sich. NUR wie die diplomatische Großoffensive zustande kommen soll, wenn es den herbeischwadronierten Westen SO nicht gibt…?).

Dieser Zugang ist nicht von mir gewählt, um das Land aus der Zwergenblase in die aufrechte Wunschgröße zu befreien, das wäre ein neuer Nationalismus. Bloß nicht. ABER wie kann Kritik zwischen dem erwünschten, aber nicht erwarteten Kosmopolitismus und einer erhofften nationalen Selbstbesinnung „richtig“ und breit verankert politische Perspektiven bieten, die über das Meinungsniveau hinausgehen?

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Ich bin da überhaupt nicht allein mit diesen Ansichten. Denn es ist kein monolithischer Block von Kritik, der sozusagen eine Politikwende fordern würde, sondern jedes Element am Zwergenmenu hat sein Thema und seine Alternative. Teile davon sind in den Medien, andere Teile richten sich gegen die Medien. Ich fange mit Beispielen zum letzteren an:

Da wird tatsächlich berichtet, wenn ein Mensch oder mehrere Dächer in Bayern durch ein Gewitter umkommen – und die hunderten, tausenden Toten im Krieg der Russen gegen die Ukraine werden vergleichsweise marginal erwähnt. Das ist nicht trivial und lässt sich analog vervielfältigen.

Zwergisch ist auch die deutsche, neoliberal ruinierte Coronapolitik, die nach wie vor mehr Tote in Kaufnimmt und noch nicht einmal eine auswertbare Statistik vorweisen kann.

Zwergisch ist die lächerliche, hinter der Dritten zurückgebliebene IT Politik, die auch auf einen Mangel an technisch-zukunftsorientierter Perspektive zurückgeht. Was wiederum auch auf

die zwergische Bildungspolitik zurückgeht: Deutschland investiert in Tankstellen, aber nicht in Bildung (–> OECD Übersichten), wir sind im Mittelfeld und werden nicht nur von wohlhabenden Ländern abgehängt.

Und so kann ich die Verzwergung an einer langen Liste weiterführen, aber ich bin kein Dichter und mache keine Märchen draus. Keiner bremst Lindner mit seiner blödsinnigen Klientelpolitik für die Reichen. Die Verarmung ist auch ein Ergebnis der Verhinderung von Konflikten, dort wo sie eigentlich hingehören: in die Öffentlichkeit.  Das machen fast alle, und die Aufarbeitung, wo die Katastrophen und Zwergenlandschaften herkommen, lässt auf sich warten. Mehdorn läuft noch immer frei herum, und er ist nur ein Symbol für viele seinesgleichen. Geld für Hitler/Hindenburg (=Garnison)kirche in Potsdam ist in Millionenhöhe da, die Armen werden mit nichts abgespeist; und weil nicht einmal der Klassenkonflikt, sondern die Stimmung mitregiert, wird nicht wirklich und aufrichtig von einer Notwendigkeit der Wohlstandseinschränkung gesprochen, die nicht nur die Armen trifft, sondern die Vermögen der Vermögenden in einer der reichsten Gesellschaften der Welt (ob sie nun auch noch Geld in Westchina verdienen oder durch den Export von verdorbenem Fleisch in den globalen Süden, ist dann nur ein Element….). Es geht wirklich ums Ganze, und kaum jemand erinnert sich wirklich, wieviel die europäischen Siegermächte nach dem 2. Weltkrieg sozial erdulden mussten, so 1945-1950 ca., obwohl sie gesiegt und andere befreit hatten. Noch verdienen etliche am Krieg Putins gegen den Westen. Und dass es „den“ Westen längst nicht mehr gibt, sollte endlich auch ins Zwergenreich durchdringen, so wenig wie es Osten ja nie wirklich gegeben hat, polit-geographisch.

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Wie ich zu solchen Sätzen komme? Ich bin ja nicht so blöd, dass ich nicht wüsste um wieviel komplexer die Situation ist. Aber für die Zwerge ist das anders: da gehören Orban und Erdögan und noch ganz anderes Gesindel „dazu“, und bei der Frage, wozu dieses „Dazu“ eigentlich da ist, wird auf der abstrakten Ebene der Zeitenwende geantwortet und die Einigkeit vor dem Alpenpanorama. Ich bin dafür, diese Einfachheiten sofort zurückzunehmen, wenn die Komplexität auch angesprochen wird. (Übrigens: Habeck und Baerbock können das, es ist kein Zauberkunststück; aber wieweit dringen sie gegen das laissez-faire in den Grundsatzfragen des neuen Kriegs durch?). Vieles, das ich hier schreibe, findet sich in den Medien auch, ich erfinde nichts.

Und noch etwas wichtiges: Wenn ich diese Dinge, ausführlich und differenziert, mit anderen diskutiere, erklären mir manche, dass die Züge hier zwar zu spät sind, aber anderswo, in Vietnam und Kenia, noch viel mehr Verspätung haben; dass unser Internet zwar lückenhaft ist, aber man muss ja nicht alles digitalisieren; dass unsere Milde gegenüber der Korruption anderswo nur formal gekontert wird, bei uns aber alles doch relativ normal vor sich geht; „EIGENTLICH“ geht’s uns doch gut. Und dann werde ich ärgerlich, nicht wie in diesem Artikelchen. Ja, es geht uns gut, zu lasten anderer, und eigentlich heißt ja nur, dass wir die bestehenden Spaltungen nicht beseitigen wollen. In dieser, nur in dieser, Hinsicht sind mir die Konflikte in den USA in der politischen Praxis näher, weil sie noch etwas bewegen wollen, während wir eher nur befestigen.

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Im Bewusstsein, dass berechtigte Kritik an diesen Zeilen schon deshalb kommt, weil vieles an der Politik auch richtig (?) ist, sage ich jetzt nur noch, dass die Maßstäbe im Zwergenreich andere sind, wie bei der Spielzeugeisenbahn. Es macht keinen Spaß.