RETTET DIE ORTSKRÄFTE IN AFGHANISTAN

Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte

Pressemitteilung                                                                                     28.06.2021

Warme Worte, aber keine praktischen Maßnahmen zur Rettung afghanischer Ortskräfte: Bundeskanzlerin muss jetzt eingreifen!

So wie die Bundesregierung ohne viel Aufsehen ihre Soldaten aus Afghanistan abzieht und Bundeswehr-Stützpunkte an die afghanischen Streitkräfte übergab, zieht sie sich derzeit bei ihrer Verantwortung für ihre afghanischen Ortskräfte aus der Affäre. Während erwartet wird, dass in wenigen Tagen der letzte Militärtransporter mit Bundeswehrangehörigen, darunter zur Sicherung eingesetzte Angehörige des Kommandos Spezialkräfte (KSK), aus dem Hauptstandort Camp Marmal bei Masar-e Scharif abheben wird, gibt es kein Anzeichen für praktische Maßnahmen, dass die Ortskräfte und ihre Angehörigen ebenfalls ausgeflogen werden.

Die Ortskräfte hatten nicht nur in verschiedenen Funktionen den Bundeswehr-Einsatz, sondern auch politische Vorhaben der Bundesregierung in Afghanistan unterstützt. Damit setzten sie sich der Rache der jetzt zurück an die Macht marschierenden Taleban aus. Diese versicherten zwar am 7.6.2021, dass die Ortskräfte nicht zu befürchten hätten, wenn sie ihre frühere Kollaboration bereuten. Aber der am 26.6.2021 von AFP gemeldete (https://www.straitstimes.com/asia/south-asia/afghan-who-worked-for-french-forces-killed-by-taleban-say-relatives) Mord an einer früheren Ortskraft des französischen Militärs in Afghanistan deutet daraufhin, dass es keine Garantie für die Einhaltung dieser Zusage gibt.

Zuletzt hatte am 23. Juni 2021 Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einer Aktuellen Stunde zum Afghanistaneinsatz im Bundestag gemahnt, „unsere Schutzverpflichtung … im Übrigen auch gegenüber den afghanischen Ortskräften, die für die Bundeswehr, die Bundespolizei und andere deutsche Organisationen tätig gewesen sind … ernst zu nehmen.“

Über eine leichte Verbesserung der Aufnahmekriterien durch Beschluss der Innenministerkonferenz und warme parlamentarische Worte hinaus sind bis jetzt keine Ortskräfte in Sicherheit gebracht worden. Büros, an die sich die Ortskräfte wenden sollten, wurden bisher nicht eingerichtet. Offenbar versucht die Bundesregierung, die Abwicklung an die UN-Unterorganisation IOM auszusourcen – für die Zeit nach dem deutschen Abzug. Es fehlt offensichtlich am politischen Willen, die Zusage von Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer umzusetzen, allen Ortskräften schnell und unbürokratisch zu helfen.

Selbst diejenigen Ortskräfte, die zuletzt eine deutsche Aufnahmezusage erhalten haben, sitzen überwiegend noch in Nord-Afghanistan fest. Sie sollen sich Flugtickets ab Kabul selbst beschaffen, obwohl der Versuch, Kabul zu erreichen, angesichts des Taleban-Vormarschs auch im Umfeld Masar-e Scharifs immer gefährlicher wird. Viele Ortskräfte mussten bereits abtauchen oder sich von ihren Angehörigen trennen, um diese nicht zusätzlich zu gefährden.

Das Ausfliegen der Ortskräfte ist nötig und möglich

Die Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte weist deshalb noch einmal eindrücklich darauf hin, dass nur noch wenige Tage bleiben, den Ortskräften effektiv zu helfen. Noch hat die Bundeswehr Präsenz und verfügt über ein Flugfeld bei Masar-e Scharif, von wo aus deutsche Soldaten und Material über Tbilissi (Georgien) in die Heimat geflogen werden. Ein Korridor dorthin kann eingerichtet werden, um Covid-Infektionen auszuschließen. Zudem besteht die Option, die Ortskräfte vom Flughafen Masar nach Kabul zu bringen; auf dieser Linie operieren mehrmals wöchentlich die afghanischen Fluggesellschaften KAM Air und Ariana.

Die Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte fordert deshalb, dass jetzt die Bundeskanzlerin ein Machtwort sprechen, das Ressortgerangel um Zuständigkeiten und Fristen beenden und Maßnahmen zur Rettung von Menschenleben durchsetzen muss.

Kontakt zur Initiative:

Prof. Dr. Michael Daxner (michaeldaxner@yahoo.com)

Bernd Mesovic (bernd.mesovic@gmx.de)

Thomas Ruttig (thomasruttig@hotmail.com)

Winfried Nachtwei, MdB a.d. (winfried@nachtwei.de)

Österreich ist auch nicht anders, aber anders

Allenthalben, weltweit und auf allen Kanälen, werden der Verfall der Demokratien, die Brasilianisierung der Welt, die grundsätzlich „rechte“ Mehrheit in den meisten Staaten, trotz und neben „linken“ oder „liberalen“ Regierungen beschrieben. Das Maß an zuversichtlichem Widerstand ist die jeweilige Opposition, meist jugendlich, überwiegend weiblich, politisch schwer einzuordnen. Manchmal die Medien.

Als Doppelstaatsbürger hab ich es leicht, einmal D vor Ö zu setzen, was alles „besser“ ist im einen oder andern Land. Das erlaubt aber auch tiefe Einblicke in eine ganz und gar nicht einheitliche Sicht der Dinge, und das Bestehen auf der Differenz schafft erst Bewegung in Gesellschaften mit so vielen Identitäten. Jetzt müsste ich dazu einen Text schreiben können, mach ich aber nicht, weil ich hier auf Arbeit und zu nicht nur erfreulichen Besuchen bin.

Manche Fragen sind trivial bis zur Bösartigkeit, wenn sie sich darum bemühen zu beschreiben, was besser und was schlechter ist. Die Summe dieser Vergleiche gibt in etwa eine e Summe a) der eigenen Vorurteile und b) eine mögliche objektive Differenz an. Vergessen wir Deutsch-Österreich von 1919…

Dazu kommt, dass jeder Besuch in Österreich schon zwei Dinge aussagt, zum einen, dass mein sog. Lebensmittelpunkt in D ist und Ö eben das Land ist, in dem ich Menschen (Familie, Freunde, Berufskollegen) besuche oder Institutionen, Kultureinrichtungen aufsuche, die ich in D vor der Haustür habe. Aber D ist so wenig Daheim wie Ö und vielleicht bin ich seit 1974 in D auch nur zu Besuch und treibe auf dem Teich der Zeit wie die Seerosen auf dem Teich, immer fest verankert.

Wien schätzt man erst, wenn man wo anders wohnt und vergleichen muss. Nicht nur, weil jeder Quadratmeter andere Assoziationen an eine weiter entfernt liegende Jugend und Arbeit wiedererweckt, sondern auch wegen der vielen fragmentierten Steine, die sich zu einem urbanen Mosaik zusammenfügen, von dem etwa Berlin weit entfernt ist.

*

Bringen wir die beiden Absätze zusammen. Sind beide Länder in unterschiedlicher Weise an der Schwelle zu einem neuen faschistischen Zeitalter? Gegeneinwände zur Frage, die nicht gelten sollen: schon mit der Frage würde der Faschismus verharmlost oder nicht Zutreffendes könne man gar nicht vergleichen oder was ich denn mit dieser ausweglosen Frage bezwecke. Erlaubt und notwendig ist die Kritik an den Antworten.

D und Ö sind ähnlich in ihrem zunehmend fremdenfeindlichen, teilweise rassistischen Abwehrverhalten gegen Asylsuchende, spontan Geflüchtete und systemische Exilsituationen. Im Detail sind die Unterschiede allerdings dann groß, wenn es um die angebliche Gefährdung der eigenen Gesellschaft qua Volk geht. Das funktioniert nur in D. Ö war immer zusammengewürfelt und multiethnisch, deshalb überwiegt ein kulturell formulierter Rassismus oft kontrafaktisch (wo das Zusammenleben oberflächlich (?) klaglos funktioniert, frägt man sich schon woher etwa das Folgende stammt: auf dem offiziellen EKG Befund einer renommierten Krankenanstalt steht unter den Personaldaten des Patienten „Rasse: unbekannt“. Historisch sind die beiden Erinnerungskulturen immer getrennte Wege gegangen, weil der Austrofaschismus unter Dollfuss und Schuschnigg noch nach 1945 Ausläufer bis in meine Schul- und Kulturjugend hatte (Da tat man sich mit der formellen Ablehnung der Nazis leichter), während sie dann verharmlost wurden, wenn sie Österreicher waren, aber eigentlich unter dem Diktat der Deutschen. Die korrekte Frage wäre, ob Kanzler Kurz mit einer beachtlichen aber nicht majoritären Unterstützung in der Gesellschaft an die Prinzipien des Austrofaschismus anknüpft…das muss er gar nicht wollen oder ansteuern, aber die Praxis muss schon untersucht werden, oder ob Kickl von der FPÖ den neo-faschistischen Duktus von Haider wirklich reanimieren möchte.

Unterschiede sehe ich auch im Widerstand, der in Ö eher unverbundene Parallelwelten aufweist, während in D symbolische oder verbale Konfrontation sich diskursiv und bisweilen im mikrosozialen Detail zeigt. Im kulturellen Bereich scheint hier der italienische mehr als der deutsche Faschismus ein fernes Leuchten hervorzubringen.

Zu all dem gibt es genügend Forschung und Literatur, auch in der Literatur und anderen Künsten. Aber zu meinem zweiten Punkt: wenn ich durch Wien gehe, werden diese Themen wach wie die Tattoos auf dem Illustrated Man – zusammen mit den tatsächlichen Erinnerungen: soviele Dinge interpretiere ich bereits durch die unterschiedlichen Variationen des Urteils über die beiden Faschismen, die Wertschätzung der sozialdemokratischen Errungenschaften, den Vorzug, den ich der Nachkriegskultur im allgemeinen gebe, etc. Am Detail. Wie man zB. Die Ästhetik des kommunalen Wohnbaus einzuschätzen hat, warum die sozialen Sicherungssysteme so unterschiedlich sind, worin sich die Korruptionen unterscheiden, aber auch, warum die seriösen Medien, viel weniger prominent als in D, um soviel expliziter in ihrer Kritik sind. Wie im übrigen auch etliche AutorInnen. Dann gibt es wieder Analogien, etwa im Streit, ob man Namen von Nazis von Straßennamen entfernen oder kommentiert belassen soll. Dass es dabei auf den Kontext der Erinnerungskultur ankommt, wird selten gesagt.

Beispiele für all das werde ich in einem „Reisebericht“ deutlich machen, der auch ein Arbeitsbericht ist und eine Erinnerungsarbeit.

*

Die anfangs gestellten Fragen habe ich nicht aus den Augen verloren. Wenn, anders als vor 50, vielleicht 40, Jahren die Gesellschaften wieder nach rechts sich auspendeln, dann wohl bei uns, in D und Ö, nicht so, dass sie mit Ausnahme des religiösen und teilweise des sexuellen Bereichs die sozialen und kulturellen Errungenschaften wieder kippen oder beseitigen – das ist in den umgebenden Faschismen Ungarn, Polen, teilweise auf dem Westbalkan längst der Fall. Es heisst nur, dass sich alles, alles=Kultur, Soziales, Infrastruktur, den Wünschen einer zunehmend sich unverwundbar fühlenden reichen und einflussreichen Klasse unterzuordnen hat, und das ist keineswegs nur reaktionär oder anachronistisch. Nur die Legitimation von Herrschaft ist so, wie etwa das Wahlprogramm der deutschen C-Parteien zeigt. Stimmt die Eingangsvermutung, bedeutet das Stimmenzuwachs beim Volk. Laschet als Steigbügelhalter.

Über den Widerstand demnächst. Aber vorher sollte man die Realität in Augenscheinnehmen, nicht voluntaristisch. Mit der Vokabel haben wir damals was richtiges gesagt.

Kann man, darf man, soll man NAZI sagen oder nicht?

Zwei Meldungen.

Mir geht es um eine Frage, die mich selbst und viele andere betrifft: unter welchen Umständen darf

WER WEN oder WAS MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS; NAZIS; VERGLEICHEN?

Ist dieser Vergleich geeignet, eine Ausnahme zu markieren im unbedingten Gebot der Meinungsfreiheit?

Antwort: meistens NEIN, bisweilen JA.

Holocaust-Vergleich: Trump-Anhängerin Greene entschuldigt sich

Die republikanische US-Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Green hat sich für Vergleiche zwischen chutzmaßnahmen in der CoV-Pandemie und der Judenverfolgung durch die Nazis entschuldigt. …. …

Greene hatte unter anderem geplante Impflogos auf Namensschildern von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eines Supermarktes damit verglichen, dass die Nazis das Tragen von Judensternen erzwangen.

Anhängerin von QAnon-Verschwörungsmythen

Mit ihren wiederholten Vergleichen der CoV-Maßnahmen mit dem systematischen Mord an sechs Millionen Juden hatte Greene über die Parteigrenzen hinweg Empörung ausgelöst und ihre eigene Fraktionsführung gegen sich aufgebracht.

Auch warb sie schon mehrfach offen für die QAnon-Verschwörungsmythen. Deren Anhänger glauben etwa, dass Trump versucht habe, systematischen Kindesmissbrauch durch satanistische Politiker der US-Demokraten aufzudecken.

red, ORF.at/Agenturen 14.6.2021

UND

https://www.tagesschau.de/inland/bundeswehr-litauen-109.html

Schwere Vorwürfe gegen Bundeswehrsoldaten

Stand: 15.06.2021 00:41 Uhr

Sexuelle Nötigung, Rassismus, Extremismus – schwere Vorwürfe werden gegen mehrere Bundeswehrsoldaten in Litauen erhoben. Das teilte das Verteidigungsministerium den Obleuten im Bundestag mit. Vier Soldaten wurden abgezogen. …  Dabei sollen in einem Hotel Ende April rechtsradikale und antisemitische Lieder gesungen worden sein … (ARD online)

TÄGLICH SOLCHE MELDUNGEN: UND MAN BEOBACHTET ZWEI PHÄNOMENE.

  1. Die Nazis bezeichnen andere Gruppen als Nazis und identifizieren sich oft mit Naziopfern. Paradigma – Sophie Scholl oder Einschränkung der Meinungsfreiheit, wo doch die Nazis für die Grundrechte eintreten (AfD, Querdenker)
  2. Innerhalb der Gruppe der objektiven Nazigegner wird der Begriff zum Schimpfwort, hinter das man nicht mehr gehen kann, und damit verliert er seine Qualität als Begriff.

Das Erste ist ärgerlich und kann nicht durch die Behauptung der illegitimen Aneignung eines Bergriffs durch die „Falschen“ entkräftet werden. Dazu müssen wir uns genau mit der Bedeutung und der Wirkung der Zuordnung des Nazibegriffs so auseinandersetzen, dass man entweder die Justiz zu Recht einschalten kann oder öffentlichen Widerstand organisieren muss, wie das beim Missbrauch der Weißen Rose ja möglich ist. Aber wir müssen darüber nachdenken, warum bei den Nazis gerade in Deutschland die Verlagerung der Brandmarkung auf ihre Gegner so populär geworden ist.

Das Zweite betrifft uns alle, die wir nicht nur „gegen die Nazis“ sind, sondern versuchen, anders, demokratisch und republikanisch zu leben, und damit politisch zu sein. Das setzt neben Kritik auch Konfliktfähigkeit und Konfliktbereitschaft voraus.

Begrifflich werden die Bereiche durch einen diskursiven Kampf um die Deutungshoheit von Grundrechten verbunden. Oft hört man mit Bedauern, dass eine Demokratie eben Angriffe hinnehmen müsse, die in einer Diktatur gleich gar nicht aufkommen könnten –  also dürften die Nazis die Grundrechte eben auch in einem weiten Maße für sich beanspruchen. Aber so eindeutig stimmt das nicht. Wenn ich einen Lügner als „Lügner“ bezeichne, kann das eine strafwürdige Beleidigung sein – es sei denn ich beweise seine Lügenhaftigkeit vor Gericht oder anderswie öffentlich glaubwürdig und zugänglich. Und genau das ist im Fall der Nazizuschreibung. Die kann und soll erfolgen, wenn der Nachweis ihrer Berechtigung angemessen und sinnvoll kommuniziert werden kann, und sie muss unterbleiben, wenn der Angriff mit Faschismus nichts zu tun hat, sondern anderswie abzulehnen ist. Trivial? Gar nicht, denn wer meint man verharmlose die Nazis, wenn man sie in ihrer heutigen Gestalt als solche bezeichne, irrt doppelt: er setzt die Vergangenheit wichtiger als die Gegenwart und er verharmlost die Gefahr, die von den Nazis ausgeht, bevor sie nach der Macht greifen – denkt an die Jahre 1929 bis 1933.

Es geht nicht anders: wir müssen uns alle mit den anwachsenden Mengen von Nazis auseinandersetzen, die längst in der Mitte angekommen sind und nach bestimmten Phänomenen am ganz linken Rand greifen, v.a. in der Identitätsdiskussion. „Alle“, d.h. das kann und soll man nicht den Experten überlassen. Gebraucht man das Wort falsch, kann man das einsehen und sich entschuldigen. Gebraucht man es als Begriff aber zutreffend, dann muss man dazu stehen und sich offensiv verteidigen.

Und  noch etwas: die Nazis sind nicht dümmer als wir und sie treten nicht so auf, wie unsere Geschichtsbücher sie verkürzen.

Ich habe eine Meise…

…gerettet und sterben sehen, gemeinsam mit meiner Frau. Auf einem Alleenweg im Park Sanssouci flatterte gestern eine winzige Meise, die offenbar aus dem Nest gefallen war, um ihr Leben. Aus der Nähe konnte man schon gierige Krähen sehen. Leichte Beute. Also hoben wir die Meise behutsam auf, trugen sie nachhause, setzten sie mit Wasser, einem kleinen Käfer als Futter und ein wenig Zucker in eine Schachtel. Heute Morgen wollte ich noch Mehlwürmer für die kleine Meise holen, da war sie schon gestorben.

An sich nicht Berichtens wert. Auch keine Metapher auf menschliches Leben oder Umweltgeschicke. Eigentlich gar kein ausdeutbares Gleichnis. Was berührt, außer dem Mitleid mit der Kreatur, ist die Distanz, mit der wir schon die kultivierte Naturkulisse betrachten: es ist nicht selbstverständlich, dass in diesem von der Trockenheit so sehr beschädigten Park sich kleine Tiere überhaupt zeigen, die Ringelnatter vor ein Paar Tagen, ab und an ein Waschbär, ja und in diesem Jahr etwas mehr Regen und einige Insekten mehr.

Kein Anlass zu Kitsch oder Sentimentalität, auf dieser Ebene der Wahrnehmung schon gar nicht, gemessen an den großen Zerstörungen, vom Klima bis zur organisierten Tötung von Flüchtlingen zu den Abschiebungen zu den wirtschaftlichen Übeltaten…und dann eine Meise, mein Gott, das kommt ja jeden Tag vor, nur habt ihr es diesmal selbst gesehen?!

Nihil est in intellectu quod non antea in sensu fuerit, sagen die Philosophen, nichts ist im Verstand, das nicht vorher in den Sinnen war[1] stimmt so nicht, klar, aber es ist ein Hinweis, wie man immer wieder aufgeweckt wird, über bestimmte Dinge erneut und anders nachzudenken als davor. Das wiederum klingt trivial, ist es aber nicht. Viele Kinder haben keine Schmetterlinge mehr gesehen, und viele werden bald keine Gletscher mehr sehen. Aber darüber nachzudenken, was man erleben kann, und was nicht, wird durch solch kleine Erlebnisse angeregt. Ich habe (natürlich (?)) auch schon andere Tiere sterben gesehen und tot gesehen. Und es geht mir nicht um die Rührung, die sich herbeizitieren lässt wie in einer Opernarie. Aber es geht mir nahe, dass es dieses kleinen Ereignisses bedurfte, an einem Tag, der mir die Gedanken eher durch die Politik belastete, damit ich auf den Boden der Tatsachen geholt wurde. Und die sind begrenzt.

*

Ihr mögt euch fragen, warum ich diese fast private Geschichte hier in den Blog schreibe. Sie beschäftigt mich, weil ich fast alltäglich Tiere und Pflanzen sterben sehe, an deren Auslöschung Menschen beteiligt sind – Verkehrsunfälle, Achtlosigkeit, Umweltgifte, also „normale“ ethische Konstellationen. Das tote Meisenküken war offenbar aus dem Nest gefallen, niemand hatte es gestoßen, es galt nicht das survival of the fittest, Menschen finden das kranke Tier – und es setzt mehr als ein Instinkt, „es“ zu retten.

Dieser Instinkt und eine ethische Selbstverständlichkeit fehlen unseren Regierenden, fehlen vielen in der politischen und ökonomischen Oberschicht, und hier z.B. könnte man darüber nachdenken, ob das Hinhauen auf die Eliten eine Ersatzhandlung ist. Natürlich geht’s nicht um die Meise. Bei allem Bedauern auch mir nicht. Aber was mir aufstößt, dass niemand von den Seehofers, Maas, Scholz etc. auf der Ebene von Menschen-LEBEN-Rettung etwas verlangt, das auch mit der Wahrnehmung dieses Elends, dieser Not zu tun hat. Sie beschränken ihre „Ethik“, ihre „Moralität“, ihre „Kultur“ auf ein anscheinend unangreifbares Handeln innerhalb der Gesetze. Und sind deshalb gerichtsfest. Das Handeln außerhalb des Normalzustands bedeutet nicht den faschistischen Ausnahmezustand, sondern das Überschreiten dessen, was wir an Wahrnehmung als normale Bandbreite von Glück und Unglück, von Erfolg und Scheitern ansehen.

Wenn ich jetzt sage, für menschliches Handeln gelten die staatlichen Gesetze nur eingeschränkt, müsste ich ein Seminar anhängen, um es zu erklären. Ich betone einmal anders: menschliches Handeln, und vor allem menschliches Handeln.

Brauche ich dazu den Umweg über die erfahrene Meise und den halb -unsinnigen Satz aus der Philosophie? Umgekehrt.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Sensualismus?fbclid=IwAR063P890i7oiQh8S-xsDsInXujiHx3ZYK6-YLim9hyyFn0cBIdMZs2uA7g –  Variationen gibt’s dazu, egal.

Seid illoyal

die schärfsten Kritiker der Elche

waren früher selber welche

(Robert Gernhard)

https://www.sueddeutsche.de/medien/baerbock-ard-farbe-bekennen-1.5318705 – lest das und zieht den Kopf nicht ein. Die Baerbock macht das schon gut, nicht sie allein…

In welchem Land leben wir?

Bei den Grünen wird am Parteitag heute und morgen 11.-12.6.2021 wirklich darüber diskutiert, ob Deutschland im Mittelpunkt der Partei steht …300 Antragsteller wollen Deutschland raus aus dem Motto. “Bisher heißt das: „Deutschland. Alles ist drin“. Aber geht es nach dem Kreuzberger Antragsteller, der bundesweit Unterstützer mobilisiert hat, soll sich das ändern. In der Begründung heißt es: „Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Und nicht Deutschland.“ (tagesspiegel 11.6.2021). Mit Recht wird darüber diskutiert. Ich sage voraus, dass Deutschland im Titel des Slogans bleibt, aber es ist gut, dass es thematisiert wird. Es kommt darauf an, was aus Deutschland wird, nicht was es schon oder bis jetzt ist.

Im Augenblick fällt der Pöbel über Annalena Baerbock her. Vergessen die Korruption von Scheuer (CSU), die Finanzskandale von Scholz (SPD), die Unsäglichkeiten von Spahn (CDU), die Lobbyunterwerfung von Klöckner (CDU), der Abschiebezynismus des ansonsten untätigen Maas (SPD), das Ranranzen von Lindner FDP an die AfD, vergessen das Spitzelprogramm des „Staats“Trojaners, vergessen die digitale Rückständigkeit des Landes, vergessen die außenpolitische Irrelevanz des Landes, vergessen die unmenschlichen Abschiebungen und die Gefährdung von Ortskräften der Bundeswehr in Afghanistan…

Das zeigt, dass ein Teil der herrschenden Klasse Angst davor hat, Macht an die Grünen zu verlieren.

Ich weiß, das klingt nach dem linken Sektensprech der 68er Jahre. Ich schreibe es absichtlich SO, weil die Retropolitik UNSERER STAATSTRAGENDEN Gruppen – die ja nun weiß Gott keine Eliten sind – eine passende Antwort braucht.

Die innerparteilichen Kritiker des Mottos – siehe oben – irren. „Der Mensch“ steht nicht im Mittelpunkt, weder bei den Grünen noch irgendwo in der Zivilisation. „Den Menschen“ gibt es nicht, nur die Menschen oder Menschen. Eine Kleinigkeit? Ums Ganze geht’s hier. Selbsternannte linke Marginalisten machen ein Fässchen nach dem andern auf, können aber noch nicht richtig trinken. Natürlich müssen wir erstmal schauen, dass wir vieles in Deutschland besser machen, dazu gehört auch, den Nationalismus zu reduzieren. Und auch die politische Dilettantenrunde, die sich weit unterhalb der Kanzlerin angesiedelt hat und dort zwischen neoliberal und reaktionär schmatzt. Manieren, meine Herrschaften, bitte wenigstens die.

Dass der Pöbel auf die tatsächlichen Fehler bei Baerbock und anderen so reagiert, ist in gewisser Weise eine Selbstanklage. Bläst man die Fehler auf, sieht man sich selbst. Ignoriert werden sie nicht, aber sich darauf zu konzentrieren in einem Land, das hinten nachhinkt und vorne nicht glänzt, ist peinlich. Die Gegner der Grünen ahmen die AfD nach.

  • Warum redet der Daxner vom Pöbel? Das gehört sich doch nicht in der von ihm angemahnten zivilisierten Sprache. Nein, dort gehört es sich nicht. Aber was anderes sind denn die Ausfälle gegen die Grünen, nicht nur in den Drecksmedien, sondern auch in reputierlichen Blättern und AV-Medien: Merkt ihr denn nicht die Erleichterung, scheinbar doch eine Grüne kurz vor dem Ende auszubremsen?

Da hilft jetzt nur Solidarität mit Personen und, ja, eine heftige Auseinandersetzung um das Programm. Kein Kleinreden der Differenzen. Leicht regiert es sich nicht in einem Land im Sinkflug.

*

Darum also meine Ansage: Loyalität an das Land, an den Staat nicht freigiebig anbieten. Der Gesellschaft gegenüber, der man ohnedies ausweglos angehört, kann man Loyalität jederzeit entwickeln oder reduzieren, aber nie abschaffen. Oft ist nur der Widerstand loyal, aber auch oft ein Kompromiss, das ist Politik.

reiss di zsamm!

Reissts euch zsamm…sagt man bei uns zuhaus, wenn sich jemand beherrschen soll oder nicht so blöd daherreden oder wenn jemand aus dem leim oder aus dem ruder läuft, im plural immer einer gruppe zugeeignet.

Man kann das auch an sich selbst richten, wenn man befürchtet, dass bestimmte assoziationen oder so genannte schnell-schüsse einen selbst beschädigen oder gar gefährden können. Reiss di zsamm, sagt man sich dann. Zeit gewinnen. Nach der weissrussischen flugzeugentführung und folterung nicht gleich sagen, bombardiert umgehend kiew mit der nato und nehmt den botschafter fest, bis lukashenka nachgibt. Oder wenn der seehofer wieder abschieben lässt, ihm die begleitung seiner opfer so androhen, dass er sich selbst in gefahr wähnt. Oder wenn der spahn wieder in die virenwolke hineinredet, seine immobilien besprühen. Oder…nichts von dem macht man und noch nicht einmal droht man es öffentlich an, man verlangt es gar nicht.

ICH SCHREIBE DAS ALLES IN KLEINBUCHSTABEN, WEIL ICH MICH NATÜRLICH VON SOLCHEN ASSOZIATIONEN SELBST DISTANZIERE: GROSZBUCHSTABEN WÜRDEN DAS ALLES JA HERVORHEBEN.

Also ich reiss mich zsamm. Und frage mich, wie man als individuum, als „person“ inmitten einer sich merklich auflösenden so genannten welt nicht nur ruhig und alltagsnormal bleiben kann, sondern als beobachter ein kultiviertes leben in genau umschriebenen kreisen „führen“ kann, während um einen herum – im „makro“ – nichts mehr so ist, dass man meinen könnte, jemand wäre in der lage, es einzufangen; jemand, eine Regierung, eine Armee, ein Mittelfinger Gottes (groß geschrieben, ihr wisst schon….).

Zum chaos gehört, dass es fast gleichgültig ist, an welcher stelle man anfängt es aufzudröseln und – manche behaupten, das könne man – es zu ORDNEN. Durch den coronadiskurs wisst ihr ja, was TRIAGE heisst, das kann man natürlich auch auf die politik anwenden (https://de.wikipedia.org/wiki /Triage), aber auch triangulierung. die reihenfolge der aktionen an einem schema ausrichten, das einem nachher als legitimation dient. Erst kiew bombardieren oder erst orban aus der EU werfen oder erst dänemark daran hindern, weiterhin so grausam mit flüchtlingen umzugehen oder… da die liste unendlich ist, muss wiederum borges‘ bibliothek von babel angewendet werden. Die hat den vorteil, dass jeder zeitpunkt zum einstieg und jeder anlass zu fast gleichen resultaten führen kann.

Ich will darauf hinaus, dass nicht jeder beobachter der unglaublichen, ja schrecklichen zustände der welt schuldig als untätiger zeuge wird, automatisch, unentrinnbar. Wenn wir, einer allein, also ein „ich“ kann das gar nicht, wenn wir die zustände der welt überhaupt fassen, sie in ihrer monstrosität begreifen und nicht daran irre oder verzweifelt werden liegt das daran, dass die abstände zwischen den ereignissen, das „dazwischen“, noch gerade so viel raum lässt, dass man selber sich begreift und teil der großen katastrophe jetzt ist, jetzt also im augenblick des beobachtenden erkennens wie schlimm das alles tatsächlich ist. stoisch zwischen den kriegen, sage ich mir ein wenig pathetisch.

So wie jetzt müssen sich doch vergleichbar die besseren, klügeren, anständigeren menschen der zwischenkriegszeit begriffen haben. Gerade wenn sie hinschauen und urteilen, kritik üben, gar reformen wollten, könnten sie denn, gerade dann müssen sie ja doch sie selbst bleiben und sich nicht überantworten, was leider im lauf der zwanziger und dreißiger jahre doch die mehrheit der deutschen getan hatte. Weil der satz ohnedies auf etwas anderes gemünzt war: wir müssen geradezu das richtige leben im falschen (Adorno) auch leben, sonst gehen wir zugrund bevor alles zugrunde geht.

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Diese überlegungen stelle ich an, nachdem ich die unkommentierbar oberflächlichen berichte zum ergebnis der wahlen in sachsen-anhalt vernommen habe. Dass 37% CDU AUS ALLEN DEMOKRATISCHEN PARTEIEN ZUSAMMENGEKRATZT DEN ABSTAND ZUR AFD ZU RECHT VERGÖSSERT HÄTTEN: weshalb alle anderen parteien verloren haben oder ärmer aussehen, und hier die demokratie gesiegt hätte.

1932 gab es eine koalition NSDAP und DNVP, die nazis waren die stärkste fraktion. Ich vergleiche nicht – NICHT – die cdu mit der dnvp, aber die nazis von der afd stehen für eine derartige koalition bereit. Und eine reihe cdu-mandatare auch, sagen sie, und wollen „wählerinnen und wähler von der afd zurückholen“, keine funktionäre. Reiss di zsamm mit deinen vergleichen, sagt das über-ich. Nein, sage ich. Erst die unstimmigkeit der vergleiche zeigt die problematik der situation. Und in der situation habe ich begonnen, die integrität der person gegen den zeitgeist und mainstream zu verteidigen.

Damit man sich widersetzen kann, darf es erst einmal keine frechheit sein, „ich“ zu sagen (adorno). Zweitens ist es mit der ablehnung oder kritik nicht getan, wenn man praktisch werden darf (in der meinungsfreiheit kann man sich als opposition vor der praxis mit guter kritik noch fernhalten, aber wenns um diese praxis selbst geht, nicht mehr). Darum geht es in der jetzt so ausufernden diskussion um sophie scholl. Das ist sozusagen der schritt vom bewusstsein zum handeln, einem öffentlichen und einem wirksamen, das über einen hinausweist. Aber davor, daneben, dazwischen war man ja auch ein anderer. Von denen gab es in den zwanziger jahren viele, die wir heute erinnern, lesen, hören, sehen, und noch mehr, in deren umgebung sie so waren, dass wir sie heute erinnern. DARUM haben wir dann ihr handeln so besonders gefunden, sie bewundert oder bedauert, und sie einem leben eingeschrieben, das die anderen nicht oder nur am rand geführt haben.

Das hatte ich vor dreißig jahren mit kollegen über tucholsky und ossietzky diskutiert, das wird durch eine erinnerungskultur zerstört, die die ankerplätze dieser in die gegenwart geholten erinnerung nicht bewahren will. Aber neben diesen beiden namen noch ganz viele zu rezitieren, mag eine farge des wissens und der bildung sein, darum geht es nicht. Wichtig ist, angesichts dessen was überall und ständig geschieht, lebendig zu bleiben und sich durchaus für den beobachterposten auch zu kräftigen und nicht gleich in verzweiflung auszubrechen, die ja nur den Capos nützt und ihnen gefällt.

Die konsequenz ist scheinbar paradox. Jederzeit bereit zu sein, aus der deckung in die politische praxis zu steigen, aber in dieser latenten situation nicht in alarm „stimmung“ sich zu versetzen, sondern den alltag, das denken und fühlen, vor allem aber die beobachtung der welt wirklich zu leben. Nur die helden der geschichte waren immer herrscher, heerführer, anstifter und haben atemlos 25 stunden am tag ihrer sache geweiht. Meistens ohne erfolg, darum sind sie ja auch helden.