Resignation ist unmoralisch

Ich hatte mir vorgenommen, im Blog, nach Trump auch Corona, das C Wort, nicht zu verwenden, so es sich nicht vermeiden lässt. Ich bleibe dabei, trotz der Einleitung:

Gegen die Wissenschaft und die Mehrheitsmeinung machen 16 MP’s Lockerungsübungen“, schimpfte am Sonntag auch Ex-Charité-Direktor Ulrich Frei: „Nach der 3. Welle müssen sich Staatsanwälte dann fragen, ob dies nicht Beihilfe zu Körperverletzung mit Todesfolge war.“ (Tagesspiegel online 29.3.2021). Falsch daran ist, dass nicht alle 16 MPs so unsinnige Übungen veranstalten, richtig ist, dass die Merhehitsmeinung nicht die von den Medien behauptete ist. um die Politik bzw. Politiker gehts mir aber hier nicht.

In Großbritannien sind bei mehr als 18 Millionen Impfungen mit AstraZeneca insgesamt rund 30 Fälle von seltenen Blutgerinnseln gemeldet worden. Das teilte die britische Arzneimittelbehörde MHRA in einem Bericht mit. „Das Risiko, diesen speziellen Typ von Blutgerinnseln zu bekommen, ist sehr klein“, heißt es darin. Es seien bisher (Stand: 24. März) 22 Fälle von Hirnvenenthrombosen und acht andere Arten von Thrombosen gemeldet worden.

Unsere Politiker können Gefahr und Risiko nicht unterscheiden. Sie vor Gericht zu bringen hat wenig Sinn, man betrachte Stuttgart zu Ostern. nachdem T weg ist, sollte man zu C auch nichts mehr sagen.

Mir geht es um die Körperverletzung mit Todesfolge. Viele Entscheidungen der Politik in einem reichen, gut strukturierten Land mit einem tragfähigen Gesundheitssystem sind anders zu bewerten als vergleichbares Handeln und Nichthandeln in ärmeren, schlecht ausgestatteten oder armen und diktatorischen Systemen. Das macht einen Unterschied. Auch beim gemeinsamen Bewerten und Betrauern von Todesfällen und Einbrüchen in Wirtschaft und Kultur. Der un-notwendige Tod, das aus prinzipiellen Gründen in Kauf genommene Sterben erinnert oft an Kriegsmoral, oft an undurchdachtes Festhalten an Verwaltungsabläufen und an der Beharrung der Agenten staatlichen und interessengeleiteten Handelns. Das alles unterscheidet unsere Gesellschaft, auch unseren Staat, von armen und hilfsbedürftigen Ländern.

Wir sind wissenschaftlich schon weiter, aber in der laienhaften Vorurteilsstruktur, im Rassismus und der Abwertung des als unnormal Angesehenen bedeutet „survival of the fittest“ eben, dass die, die ohnehin nichts besseres verdient haben oder bei denen nicht besseres angelegt ist, früher krank werden,  früher sterben. Das ist halt so…was bei den Querdenkern eine neu aufgelegte Nazi-Argumentation ist, ist in der Politik eine unpolitische Form der Resignation.

*

Diese Gedanken sind mir unweigerlich gekommen, weil ich das obige Zitat schon vorhergedacht hatte in den letzten Tagen, aber dann in einem ganz anderen Zusammenhang. Werden die Menschen in Syrien, in Myanmar, in Weißrussland überleben? Wie viele werden an der Körperverletzung mit Todesfolge zugrunde gehen, nicht nur in diesen drei Diktaturen?

Die häufigste Antwort der westlichen Demokratien: Diplomatie, Verhandeln, vielleicht Sanktionen, aber keine Gewalt. Das sagen sie untereinander, z.B. bei Grenzstreitigkeiten zwischen Bayern und Tirol, oder gegen Verträge, fordern sie aber meistens von den Demokratien ein.  Verträge und Abkommen werden – wenn es keine win-win-Situation gibt – meist nur geschlossen, wenn hinreichend viele Drohungen im Raumstehen: wenn nicht – dann. Die Gewürze solcher politischen Speisefolge sind Vertrauen, Hoffnungen, aber vor allem Unterordnung unter stärkere Macht oder Erwartung solcher Unterordnung durch die stärkeren Mächte.

Ich habe jetzt ungefähr 50.000+ Texte der politischen Wissenschaften, Überlegungen und Philosophien zusammengefasst. Auf etliche davon blicke ich in meiner Bibliothek, an viele erinnere ich mich. Keine Antworten auf die Frage nach Weißrussland, Myanmar, Syrien, und noch etliche Krisen mehr. Und ich weiß, auch wenn ich es nicht durch Nennung konkreter Namen beweisen kann, wie viele denken – da sollte man doch einmarschieren, kann man doch die kleineren Diktaturen schnell zur Räson bringen. Manchmal, bei den verschiedenen Stammtischen, sagen sie es, um ganz schnell wieder diese Gedanken zu verwischen. Weil sie nicht statthaft sind in unseren demokratischen Gesellschaften. Auch das ist noch trivial, obwohl.

Hätte man in Syrien, nach Assads Giftgasangriffen, eingreifen können, sollen, müssen? Die größere Gewalt mit angemessener Gewalt beenden? Was kostete es, die Generäle und ihre ökonomischen Hintermänner in Myanmar auszuschalten? Würde die Ausschaltung Lukashenkos die Russen auf den Plan rufen? Wiederum: genügend Material für tausende Doktorarbeiten.

Tatsache ist, dass im internationalen Aktionsraum Diktaturen stabilisiert werden, wenn man den Menschen in ihren Ländern hilft, ohne politische Änderungen massiv anzudrohen oder mit Gewalt einzufordern (Syrien ist das heutige Beispiel). Trotzdem wird niemand die Hilfe für die Millionen von hungernden Menschen deshalb kritisieren. Der Vorsprung der Diktaturen vor den Demokratien kann so nicht bemäntelt werden. ich nenne das „Support for the fittest“

Noch einmal: hätte man eingreifen sollen, als es noch möglich war, eingreifen=angreifen? Das Sollen hängt vom Können ab, und von den Folgen.

Anscheinend ist die Vorstellung einer globalen Verständigung aufgrund menschenrechtlicher Prinzipien auf dem Rückzug.  Einschließlich der Tatsache, dass ein großer Teil der humanitären Hilfe die autoritären Systeme stützen muss, um bei den Menschen anzukommen. Da hilft Diplomatie wenig.

*

Wie hängt die Aussage von Ulrich Frei mit diesen Wahrnehmungen zusammen? Resignation lockert beides: den Zusammenhalt der individuellen Handlungsmechanismen und die politische Konsistenz von Gesellschaften.  Man schlackert sozusagen zwischen Moral und Macht. 

Wenn man nicht resigniert ist, muss man Macht einsetzen, und wenn nicht als Gewalt, dann als Drohung. Die aber muss glaubwürdig sein. Und ist deshalb riskant. aber unterlassen darf man das trotzdem nicht.

Die Todesfolgen abzuschwächen ist auch eine Definition von Politik.

Glauben oder anstecken?

Ich habe mein Versprechen gehalten, nicht mehr über T und C zu bloggen. Auch jetzt geht es nicht um C. Aber der Anlass ist das andere C, das christliche.

Allerorten ist dein Tempel, wo das Herz sich fromm dir weiht. (Schubert, Deutsche Messe h-moll, D. 872)

ALLERORTEN. Muss ja keine Kirche sein, keine Moschee, keine Synagoge. Aber nein, um von massiven Kirchenaustritten, von der Missbrauchsdiskussion, von Seehofers C in der Parteienlandschaft abzulenken, bestehen bei uns die christlichen Kirchen auf Präsenzgottesdiensten. Als ob die jeweilige Gottesmutante nicht ALLERORTEN  anwesend sein könnte. Das wird den engdenkenden Gläubigen gefallen und den andern egal sein, wenn nicht noch mehr nicht-christliche Menschen dadurch angesteckt werden, leiden, sterben. Das hat mit Christentum nichts zu tun,  auch nicht mit Islam, Judentum oder Hinduismus…ALLE RELIGION, die versucht, sich eine Ausnahmestellung in der Gesellschaft zu verschaffen, irrt. Und wenn man sich aufs Grundgesetz beruft, dann sollte man weiter denken.

Das Grundgesetz ist klüger als die Bischöfe: Artikel 4.

  • Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Natürlich fängt der Artikel mit dem Glauben und nicht mit dem Befolgen der Statuten der Religionsgemeinschaft an. Und nirgendwo steht, wo und wie man seine Religion „ausüben“ muss – die Literatur über die Grenzen der Religionsfreiheit ist unübersehbar, und jede Religion hat ihre Ausnahmeregelungenim Augenblick von Lebensgefahr.  Aber die Bischöfe u.ä. wollen nicht zwischen Glauben und Religion unterscheiden, obwohl manche von ihnen das durchaus könnten. Über den Glauben haben sie keine Macht. Aber wenn sie die Herde zusammentreiben, dann können sie dem Staat Macht demonstrieren und dem Widerstand der geistigen Gelbwesten ihr Opfer bringen.  Und im Zweifel sind die Ansteckungen durch die Gottesmutanten in der Präsenz eben gottgewollt. Glaubensfreiheit ist die bestimmende Variable, könnte man sagen, und die Religionen haben sich verdammt noch mal an das zu halten, was unsere Gesellschaft zusammenhält.  Dann ist es gut und richtig, über die Wechselwirkung unverfügbarer und begrenzter Freiheiten zu sprechen. ALLERORTEN

Kein Ende am Hindukusch

 vor einigen Tagen ging ein digitales Seminar auf Sendung, von StipendiatInnen der kas initiiert. es gab spannende und kontroverse Diskussionen, die vor allem eines zeigten: wenn wir wollen, dass Afghanistan und die deutsche Beteiligung an Intervention und Neuaufbau nicht vergessen werden soll, muss man einiges wissen. und darum ging es auch und vor allem bei diesem Seminar. ich lege diese vier Seiten auf den Blog, weil es Teil meiner Arbeit, auch an der Uni Potsdam ist, auf so vielen Ebenen wie möglich dem Vergessen entgegen zu wirken.

Konrad-Adenauer-Stiftung: Afghanistan – Ursprünge und aktuelle Herausforderungen des Konflikts

KS 10-120321-IS/2021 digital

13. März 2021

Heute morgen geht die Nachricht über den Ticker:

Stand: 12.03.2021 00:13 Uhr Tagesschau

Mädchen und junge Frauen in Afghanistan dürfen nicht mehr in der Öffentlichkeit singen. Der Beschluss des Bildungsministeriums gilt als Zugeständnis an die Taliban – und könnte weitere Verbote nach sich ziehen.

Von Bernd Musch-Borowska, ARD-Studio Neu-Delhi, z.Zt. Hamburg

Das afghanische Bildungsministerium hat angeordnet, dass junge Frauen und Mädchen ab dem 12. Lebensjahr nicht mehr in der Öffentlichkeit singen dürfen, nicht mal die Nationalhymne. Höchstens bei Zeremonien und Veranstaltungen ohne männliche Teilnehmer. …

Das ist das Ergebnis der Umkehrung von Politik ohne hinreichenden Grund. Wir werden den Zusammenhang mit den Taliban noch diskutieren, aber um die geht es hier nur am Rande: wer hofiert denn die bestehende Afghanische Regierung, welche Konzessionen macht der US Unterhändler Zalmay

Khalilzad[1], und wen interessiert das schon in Deutschland? Immerhin: das Gesangsverbot wird heute bereits öffentlich diskutiert, aber Konsequenzen gegen die afghanische Regierung sehe ich noch nicht – leider.

Mittler weile hat die afghanische Regierung den Frauenfeindschaftserlaß zurückgenommen. Die Amerikaner wissen nicht, ob und wann sie abziehen. Die Taliban dominieren den Diskurs. Spekulationen verbieten sich, Informationen sind spärlich. Vgl. Fußnote 3.

Gerade habe ich einen Aufsatz fertig geschrieben, in dem es darum geht, dass Afghanistan in Deutschland nicht vergessen werden soll. Auch deswegen bin ich gerne zu dieser Tagung gekommen, weil sie einen Beitrag zu diesem Anliegen leistet. Gestern, erst gestern wurde der erste Dachverband afghanischer Organisationen vorgestellt: VAFO[2]. Man kann auch sagen: warum erst jetzt? Man kann auch fragen: warum hat die afghanische Diaspora keine einheitliche Politik gesucht? Wir diskutieren hier nicht abstrakte Kriege vergangener Zeiten, sondern eine Vielzahl von Konflikten in einem Land, das durchaus mit Deutschland in einer komplizierten Beziehung seit über 100 Jahren steht – und doch im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent ist[3]. Ich kann in so kurzer Zeit weder eine historische Übersicht noch eine politische noch eine Kulturgeschichte präsentieren, aber ich werde versuchen, einige Elemente der afghanischen Wirklichkeit herauszuarbeiten, die wir dann in Bezug auf uns hier in Deutschland und vielleicht darüber hinaus diskutieren können. Sie werden viele Quellen und Literatur am Ende dieser Vorlesung finden, und irgendwie passe ich zwischen die Vortragenden gestern  und heute als Sozialwissenschaftler ganz gut hinein. Man hat mir den Titel „Ursprünge und Herausforderungen des Konflikts“ gegeben.

Die erste Herausforderung ist, wie wir über Afghanistan und den Konflikt sprechen. Was geht das Land uns an ?, als Einsatzland der Bundeswehr, als potenzieller politischer Bündnispartner, als künftiges Urlaubsland, als Handelspartner, als Land, aus dem hunderttausende Geflüchtete bei uns Zuflucht suchen und in das wir hunderte von ihnen wieder abschieben. Was müssen wir wissen, um zu verstehen, warum unsere Truppen dort von 2002 bis 2014 im Kampfeinsatz waren, der so nicht heißen durfte, und heute noch eine Ausbildungsmission erfüllen? Was müssen wir wissen, um zu verstehen warum Menschen aus dem Land flüchten und bei uns Zuflucht suchen? Es macht einen Unterschied, ob wir diese Fragen aus Sicht der deutschen Außenpolitik stellen und beantworten, oder aus der Sicht der afghanischen Bevölkerung oder aus der Sicht vielen Regierungsorganisationen, NROs, der Vereinten Nationen (UNAMA), der NATO (OEF, ISAF, MRS) oder aus der Sicht der Nachbarländer. Wir können einiges davon ansprechen, aber es muss klar sein, dass eine deutsche Sicht bei noch so viel Wissen nicht ausreicht und dass auch einzelne Fächer, Geschichte, Geographie, Sprachen, Religionswissenschaft usw. verbunden werden müssen, damit ein tragfähiges Wissen entsteht.

Aber ich kann auch abkürzen: in allen Antworten kämen die Taleban[4] irgendwie vor. Und deshalb werden wir uns ihnen wohl zuwenden müssen.

Erst einmal die zweite Herausforderung: Afghanistan, der Staat, die Monarchie, der sich Deutschland und Österreich vor 110 Jahren zugewendet haben[5], würde uns vielleicht weniger interessieren, wenn es damals nicht auch gegen die Briten gegangen wäre und um die afghanische Unabhängigkeit, obwohl da Land ja keine Kolonie war. Und das Land interessiert uns, weil sich König Amanullah[6] 1892-1960) auch der Reichsschulkonferenz und der Berliner U Bahn zugewandt hatte und sein Land nach deutschem, französischem und türkischem Vorbild modernisieren wollte (1919-1929)[7].

Die dritte Herausforderung ist schwierig zu bewältigen: das Wissen um ein Land und seine Gesellschaft sagt immer auch etwas über das eigene Land aus, also auch über die Augen, mit denen man das andere Land sieht. Afghanistan, ein Riesenland, mit sehr hohen Bergen, Wüsten, wenigen großen Städten – was ist das Besondere daran? Ein Land mit einer Tausende Jahre alten Kultur, mit vielfältigem Einfluss auf den Iran und Indien, auf die Entwicklung von Religion und Kunst – was ist das Besondere daran? Ein Land, das lange Zeit imperialistisch unterdrückt war von Russland und England, und sich erfolgreich gegen koloniale Unterwerfung gewehrt hat – was ist das Besondere daran? Das Besondere machen wir dazu, und deshalb müssen wir uns in Deutschland dagegen wehren, ein künstliches, ein imaginäres Afghanistan zu erfinden[8] – und, genauso wichtig, Afghanen sollten sich wehren, ein künstliches, imaginäres Deutschland und Europa zu erfinden, auch wenn wir viel dazu getan haben, diese Erfindung zu fördern.

Nehmen wir die drei Herausforderungen als Paket. Deutschland hat für die afghanische Entwicklungshilfe einiges geleistet[9], aber das Land war nach 1945 nicht wirklich im Fokus außenpolitischer Gesamtstrategien, auch nicht für Zentralasien[10]. Eine diskussionswürdige Frage ist, warum die große Afghanistankonferenz 2001 ausgerechnet in Deutschland stattgefunden hat. Darüber, und über die deutsche Präsenz auf allen Ebenen muss man ebenso diskutieren wie über die unterschiedlichen Effekte dieser Präsenz, die Wirksamkeit. Das hängt damit zusammen, dass Deutschland generell ein unterentwickeltes Bild von Afghanistan hatte und hat, und dass die deutsche Rolle im außenpolitischen und im militärischen Kontext geringer und einseitiger ist als man das gerne möchte, als eine der größten Wirtschaftsnationen.

Die Korrektur des Bildes ist von der Politik ganz anders als vom Militär und wieder anders von den Hilfsorganisationen schrittweise und unabgeschlossen erfolgt. Im Bundestag war die humanitäre Unterstützung der Regierung Ausgangspunkt und wurde sehr spät durch die Anerkennung der Tatsache, dass es auch einen Krieg gab, an dem man beteiligt war, korrigiert. Für die Afghanistanpolitik war und ist nicht nur Wissen über das Land, sondern auch über die Rolle weiterer Akteure, v.a. der USA, notwendig.

Das lässt sich ganz aktuell an einem Punkt auf die Taliban beziehen. Haben die USA unter anderem ab 2000 interveniert, um das Land vom autoritären Regime der Taliban zu befreien, so sind sie jetzt intensiv bemüht, zwischen Regierung und Taliban ein Abkommen zu erzielen, das nicht nur wie eine Kapitulation vor den Taliban erscheint, sondern auch die gesamt gewaltige Militärmaßname der letzten 20 Jahre in Frage stellt[11]. Von hier aus kann man die Geschichte der Taliban zurückverfolgen – und auch das Verhältnis von Politik und Religion im Islam allgemein, in Afghanistan besonders. Dazu komme ich noch. Zuvor aber muss man auch die Militärgeschichte nachvollziehen, also vor der sowjetischen Invasion beginnen und bis zur gegenwärtigen Situation aufschlüsseln[12]. Man muss aber auch die Veränderungen, Fortschritte und Rückschritte in den letzten 20 Jahren Interventionspolitik beobachten: Frauenemanzipation, Landflucht, Warlords, Drogenökonomie, Korruption, externe Einflussnahme von vielen mächtige(re)n Akteuren, Bildung und Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung, Umwelt und Klimawandel – das wären die wichtigsten Kapitel einer Gegenwartsanalyse, die nicht einfach unter einer Wunschvorstellung von Demokratisierung und Modernisierung dargestellt werden kann.

Wenn ich ermüdet von langen Diskussionen die Frage gestellt hatte: wer ist denn der Feind, sagte bestimmt wenigstens eine Stimme: na,  die Taliban. Wenn es so einfach wäre, dann herrschte längst Frieden und Wohlstand im Land, abgesehen davon, dass so ein Satz natürlich in Deutschland seltsam klingt: die Taliban als Feind.

Wenn man die Geschichte der Taliban nachzeichnet, dann spielen religions-politische Motive eine ebenso große Rolle wie ethnische Auseinandersetzungen und der Wandel von einer puristischen Reformbewegung zu einer Diktatur, nicht selten bei fundamentalistischen  Religionen, so wie sie die Herrschaft erringen. Es kommen hier zum Tragen die Herkunftsgeschichten aus Pakistan, der Kampf gegen das korrupte Regime nach der Niederlage der Sowjets, die Instrumentalisierung der Taliban, ihre anfängliche Unterstützung durch die USA und die 1997 massive Gegnerschaft. Das ist noch nicht alles, aber man kann die Taliban sozusagen als Schnittstelle vieler politischer Entwicklungen inszenieren, um die letzten 20 Jahre auszuleuchten, v.a.  auch den Einfluss von 9/11 auf die amerikanische Politik. Ethnische, stammespolitische, sprachliche Aspekte sollen dabei nie übersehen werden.

Zur Religion muss noch deutlich gemacht werden, dass der Einfluss fundamentalistischer islamischer Doktrinen v.a. aus der Golfregion erheblich ist und wir heute nicht von einer autochthonen „Volksreligion“ sprechen können – das wäre ein eigenes Kapitel, das sich auch auf das Verhältnis von Taliban und IS bezieht. Was mich besonders interessiert hat, ist die soziale Verbindung bestimmter religiöser Vorschriften mit dem ökonomischen und kulturellen Umfeld – das geht von der Kleidung bis zum Umgang mit Alkohol, von den Nachwirkungen urbaner Säkularisierung unter den Sowjets bis zur doppelbödigen Auslegung der Scharia gegenüber der Verfassung.

Die Religionsgeschichte von Afghanistan ist geprägt durch viele, auch liberale und mystische Spielarten des Islam, incl. Sh’ia, Sufismus und durchaus tolerante Schnittstellen zum Säkularismus. An dieser Stelle muss ich meines Freundes Sharif Fayez (1944-2019) gedenken, mit dem ich seit 2003 gut zusammengearbeitet habe, sowohl als er noch Wissenschaftsminister war als auch in seiner Zeit als Gründer der American University of Afghanistan[13]. Fayez war ein Poet und Gelehrter mit jenem Wissen, das ich heute auch von vielen verlangen würde, die über die Neugestaltung von Politik nachdenken: die Verbindung von Kultur und Politik, den aufgeklärten Pluralismus als Prinzip gegen doktrinäre, auch religiös unterlegte Herrschaft. Ich führe ihn hier an, weil er ein Beispiel dafür war, was im neuen Afghanistan auch möglich und sinnvoll ist, jenseits von Clangefolgschaft. Eine Nebenbemerkung zur Religion ist auch  wichtig: christliche Mission spielte nicht immer eine gute Rolle in der Politik[14], und die Konversion zum Christentum hat erhebliche Konflikte nach sich gezogen[15]. Ganz anders die jüdische Geschichte in Afghanistan, die lange vor dem Mittelalter begann und weitgehend in den 1930er Jahren bzw. nach dem Weltkrieg zu Ende ging[16].

Das bringt mich wieder zu den Herausforderungen zurück. Das Wissen über Afghanistan sollte sich aus unseren deutschen und europäischen Engführungen befreien, die ja erst in den letzten Jahrhunderten zu den imperialistischen und kolonialen Aufteilungen der Erde und dementsprechend zu Urteilen über Fortschritt und Rückständigkeit geführt haben. Ich habe viel afghanisches Unverständnis über diese Form der Unbildung erfahren.

Nun hat man versucht, eine demokratische Verfassung in einer islamischen Republik einzuführen. Das konnte nicht reibungslos und gut gehen, zu viele waren bei der Gründung des neuen Staates in Bonn 2001 gar nicht anwesend, zu viele wurden übergangen. Sehen wir den Prozess positiver, dann ist einiges an Verbesserungen der Lebensumstände gelungen, anderes schlechter. Es kommt immer darauf an, wer was bilanziert.

Politische Parteien spielen eine andere Rolle als bei uns[17], aber vergessen wir nicht, wie lange es in Europa gedauert hat, bis Parteien einen festen und produktiven Platz in der Demokratie gefunden haben. In Afghanistan konkurrieren sie mit anderen sozialen Einflussgruppen, die wiederum ethnische, familiäre, politische und andere Hintergründe haben[18]. Diese Hintergründe haben es vielen Interessierten, auch mir, erlaubt, wirklich zu kommunizieren – und dabei natürlich nicht nur erfreuliches zur Kenntnis zu nehmen.

Lassen Sie mich einen Ausblick geben. Die Gefahr besteht, dass Afghanistan zunehmend in den Status eines unregierbaren Landes, um das sich große und mächtige Akteure nicht vorrangig kümmern; zurückfällt. Dass die internationale wirtschaftliche und ökonomische Hilfe noch geringer wird, und dadurch die demokratische Erneuerung weiterhin leidet. (Oft wird der umgekehrte Schluss gezogen, dazu muss aufgeklärt werden). dass Korruption, Clankriminalität, Milizen sozusagen den Staat substituieren, ihn lokal ersetzen – aber dann auch nicht viel anders handeln können  als dieser.

Ich weiß, dass dies eine sehr steile und bestreitbare These ist. Vasall zu werden, zurückgezogen hat, agieren jetzt mehrere Akteure und konkurrieren um Einfluss. Ich kann mit Pakistan beginnen, das großes Interesse hat, Einfluss auf die afghanische Politik zu behalten, auch um sich selbst an anderen Grenzen abzusichern. Ich  kann den Iran nennen, der großes Interesse daran hat, an seiner Ostgrenze keine gegnerische Macht vorzufinden, im übrigen gibt es auch hier Problem mit Geflüchteten und Rückführungen. Ich kann Russland nennen, das wieder verstärkt auf den Plan tritt, nicht zuletzt wegen des Wettstreits um seine früheren Republiken im Süden – eines Wettstreits mit China, das eher langfristig seine Einflusssphäre zu erweitern und festigen trachtet. Die Türkei ist für mich ein spezieller und ambivalenter Fall, noch schwerer einzuschätzen. Wo bleiben die USA, die EU, Deutschland, die NATO, die Vereinten Nationen?

Für uns , in der Diskussion ist die Frage nicht so schmerzhaft wie für Politiken, die tatsächlich keine brauchbaren Antworten wissen. Ich plädiere nach wie vor durch hinreichende Entwicklungszusammenarbeit, v.a. im Bildungs- und Gesundheitswesen und für langsame Justizreformen, auf diese Bildung ebenso angewiesen sind wie auf  das Bedürfnis nach unabhängiger Rechtsprechung, die zur Zeit von staatlicher wie von Scharia-Seite höchst mangelhaft ist.

Das bedeutet für uns Hinschauen, Lernen und mit den in Deutschland lebenden Geflüchteten zusammenarbeiten: von denen können wir eine Menge lernen, u.a. welche Kommunikation über große Entfernungen hinweg allen Seiten hilft. Auch uns.

Literatur

Daxner, M. (2010a). „Wir erfinden Afghanistan.“ Kommune 28(4/2010): 44-52.

Daxner, M. (2017). A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS. (Daxner 2017)

Koenigs, T. (2011). Machen wir Frieden oder haben wir Krieg? Auf UN- Mission in Afghanistan. Berlin, Wagenbach.

Kreutzmann, H. (2014). Süße Intervention – Die Zuckerfabrik in Baghlan gestern und heute. Michael Daxner. Oldenburg, BIS: 25-38.

Münch, P. (2015). Die Bundeswehr in Afghanistan. Freiburg, Rombach.

Nachtwei, W., Ed. (2009). Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr – Von der Stabilisierung zur Aufstandsbekämpfung. Zentrum für Niederlandestudien – Jahrbuch. Münster, Aschendorf.

Ohkrimenko, A. (2020). Deutsche Zentralasienpolitik. Deutschland und seine östlichen Nachbarn: Eine Studie zur Gestaltung einer „vorausschauenden Außenpolitik“. J. Menzer. Opladen, Budrich: 75-83.

Rashid, A. (2010). Taliban : Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch. Bonn, BPB, Bundeszentrale für Politische Bildung.

Rybitschka, E. (1927). Im gottgegebenen Afghanistan. Leipzig, Brockhaus.

Schetter, C. (2004). Kleine Geschichte Afghanistans. München, Beck.

Spanta, F. D. (2018). Neopatrimoniale Netzwerke in Afghanistan: Kulturelle und politi-sche Ordnungsvorstellungen der afghanischen Eliten PhD, Free University.

Sthers, A. (2006). Die Geisterstraße. München, Luchterhand Literaturverlag.

Von Hentig, W. O. ( 2003). Von Kabul nach Shanghai. Bericht über die Afghanistan-Mission 1915/16 und die Rückkehr über das Dach der Welt und durch die Wüsten Chinas. Lengwil, Libelle.

Alle Angaben aus dem Internet sind am 12.3.2021 überprüft worden.

Weitere Informationen erhalten Sie bei

Prof. Dr. Michael Daxner

michaeldaxner@yahoo.com


[1] Sehr ausführlich: https://en.wikipedia.org/wiki/Zalmay_Khalilzad

[2] https://app.hopin.com/events/auftaktevent-afghanischer-verband/stages/3645020e-58d8-4e63-9d97-c78a5a01b675 , www.vafo.de ,

[3] Um die gegenwärtige Situation in der bestmöglichen und zugleich knappen Form zu verfolgen, ist die regelmäßige Information durch das Afghanistan Analysts Network (AAN) sehr hilfreich, dessen deutscher Co-direktor Thomas Ruttig zu besten Experten für Geschichte, Politik und Kultur der afghanischen Gesellschaft zählt: https://www.afghanistan-analysts.org/en/ . Auch der Blog Zhaghdablai ist äußerst informativ: https://thruttig.wordpress.com/author/thomasruttigaan/

[4] Es gibt dazu mehrere hundert Literatureintragungen, die Auswahl ist sehr schwierig. Ich verweise deshalb in erster Linie auf AAN (s.0.) und dann auf Rashid, A. (2010). Taliban : Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch. Bonn, BPB, Bundeszentrale für Politische Bildung. Vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Taliban

[5] Rybitschka, E. (1927). Im gottgegebenen Afghanistan. Leipzig, Brockhaus, Von Hentig, W. O. ( 2003). Von Kabul nach Shanghai. Bericht über die Afghanistan-Mission 1915/16 und die Rückkehr über das Dach der Welt und durch die Wüsten Chinas. Lengwil, Libelle.

[6] https://www.munzinger.de/search/go/document.jsp?id=00000001034

[7] Schetter, C. (2004). Kleine Geschichte Afghanistans. München, Beck.

[8] Daxner, M. (2010a). „Wir erfinden Afghanistan.“ Kommune 28(4/2010): 44-52.

[9] Kreutzmann, H. (2014). Süße Intervention – Die Zuckerfabrik in Baghlan gestern und heute. Michael Daxner. Oldenburg, BIS: 25-38. – ein Beispiel für langdauernde Entwicklungen. Allgemein: https://www.bmz.de/de/ laender_regionen/asien/afghanistan/index.jsp

[10] Bei dieser Politik spielt nicht nur Afghanistan eine Rolle, sondern auch die Zusammenarbeit mit Russland: Ohkrimenko, A. (2020). Deutsche Zentralasienpolitik. Deutschland und seine östlichen Nachbarn: Eine Studie zur Gestaltung einer „vorausschauenden Außenpolitik“. J. Menzer. Opladen, Budrich: 75-83.

[11] Vgl. ganz aktuell: https://www.bbc.com/news/world-asia-56322062 Afghanistan: Will America’s ‚moonshot‘ peace plan work? By Lyse Doucet & Mahfouz Zubaide, BBC News, Kabul;

[12] Nachtwei, W., Ed. (2009). Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr – Von der Stabilisierung zur Aufstandsbekämpfung. Zentrum für Niederlandestudien – Jahrbuch. Münster, Aschendorf, Münch, P. (2015). Die Bundeswehr in Afghanistan. Freiburg, Rombach. https://berghof-foundation.org/news/latest-developments-in-the-afghan-peace-process-a-commentary-de .

[13] https://www.auaf.edu.af/about-us/about-dr-sharif-fayez-auafs-founder/ , https://www.presse.uni-oldenburg.de/mit/2019/079.html ; https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/context-culture/aan-obituary-muhammad-sharif-fayez-1944-2019-a-higher-education-reformer-come-too-early-or-maybe-too-late/ .

[14] Ein eklatantes Beispiel noch 2001: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/afghanistan-taliban-hart-gegenueber-festgenommenen-christen-127501.html ; wobei Mission in einem Land ohne etablierte christliche Minderheit immer problematisch ist

[15] Besonders drastisch: Koenigs, T. (2011). Machen wir Frieden oder haben wir Krieg? Auf UN- Mission in Afghanistan. Berlin, Wagenbach. S. 40ff.

[16] Über den „letzten Juden“ in Kabul. http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/4206909.stm . Vgl. auch Sthers, A. (2006). Die Geisterstraße. München, Luchterhand Literaturverlag.

[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_politischer_Parteien_in_Afghanistan

[18] Spanta, F. D. (2018). Neopatrimoniale Netzwerke in Afghanistan: Kulturelle und politi-sche Ordnungsvorstellungen der afghanischen Eliten PhD, Free University. Berlin

doch, wir sind SO

Selbst wenig Gebildete merken bald, dass man IMPFEN  auf SCHIMPFEN reimen kann. Nachteil: so ein Reim nutzt sich schnell ab, ist zu nahe an Herz/Schmerz und Liebe/Triebe.

Das Volk schimpft oder sinkt ermüdet in sich zusammen, um langsam aber sicher eine Art deutscher Gelbwesten aufzubauen, natürlich keine wirklich neue Erfindung: Hauptsache, wir sind dagegen – davon erhofft man sich eine wunderbare Stärkung des persönlichen Selbst. Voraussetzung: Illoyalität. 

Ergebnis: autoritäre Herrschaft. Wer glaubt, dies wäre bei uns ausgeschlossen irrt; aber, dass wir uns vielfach in diese Richtung auch bewegen können, ist sozusagen ein Rückstoß gegen die demokratischen Reformen, die wir in den letzten 60 Jahren unzweifelhaft errungen haben.  Retro ist der Kampfruf der ewig rückwärtsgewandten Reaktionäre.

*

Es ist nicht schwer, global zu spielen, folgenlos. Die Junta in  Myanmar zu verdammen, ist einfach – auch wenn sich kaum jemand in diesem Land auskennt. Es ist nicht schwer, den Faschisten Orban zu kritisieren, auch wenn wir kaum wissen, wie man dieser neuen nationalistischen Herrschaft begegnen kann. Es ist nicht schwer, den Diktator Erdögan für alle seine Missetaten zu verachten, aber man fährt natürlich gern auf Urlaub in die Türkei, und das Land bleibt ein geschätzter Partner bei NATO und Flüchtlingsabwehr. Das sind drei Beispiele für viele…die Liste ist sehr lang, umfasst die Mehrheit der UN-Mitglieder und eine beträchtliche Minderheit in der EU. Das ist nicht neu, und war früher nicht viel besser. Aber spätestens 1968, oder 1989, sind die Hoffnungen auf eine globale Demokratisierung immer wieder angefacht worden. Weil man irrtümlich davon ausging, dass „die Menschen“ aus der Geschichte institutionell und damit staatenweit lernen würden, weil man eigentlich lernen müsste. Und die Hoffnung setzte sich auf die fahlen Pferde der Globalisierung, weil sie meinte, grenzüberschreitende Demokratisierung sei unvermeidlich. 

Es gibt für diese gescheiterte Hoffnung eine Menge von Erklärungen, von der Wissenschaft und auch von populistischen Slogans. Aber für uns konkret, d.h. für Menschen in sozialen Gruppen und realen Zusammenhängen, wirken diese Erklärungen nicht in das hinein, was heute noch fälschlich Innenpolitik genannt wird, obwohl diese etwas weltfremde Verengung der globalen Realität immer auch eine Entschuldigung für Handlungsschwäche oder gar -verweigerung darstellt. Die Trennung von Innen- und Außenpolitik hat in der Globalität längst ausgedient. Aber da sind manche unserer Politiker eher Antreiber von Gewalt und Nichthandeln .

Ausgerechnet der fremde Blindgänger Seehofer beruft sich auf das C in CDU/CSU, um persönliche Kontakte in Ostergottesdiensten zu fordern, ähnlich dem Kirchenklüngel, der von den Missständen in den Kirchen ablenken will. Damit zeigt er, wie sehr ihn die bayrische C-Sekte von der Wirklichkeit entfernt hat. Seehofer gibt das Muster an, das weltweit, in allen Religionsgemeinschaften, auf der dogmatischen Seite gegen die Demokratie, gegen die Humanität angewendet wird. Die Kirche als Osterhotspot ist nur ein schlechter Witz, der die Politik des halbherzigen Pandemieschutzes decouvriert. Seehofer ist ein Beispiel, nicht ein Anführer einer reaktionären Bewegung, einer ständig anbrandenden Welle des kulturellen und ökonomischen Rückschritts. Man braucht nicht ihn dafür isoliert zu beschimpfen, aber man könnte ihn mit Vernunft impfen, ihn und viele andere.

Warum ich das schreibe, und heute schreibe? Eine kleine Erklärung.  Nicht alle in den c-Parteien sind so unmenschlich wie der Flüchtlingsfeind Seehofer. Gerade der Minister Müller gibt z.B. einen ganz anderen Blick  auf das Partei-C. der zweite Grund ist wichtiger: mit einiger Arroganz beten  die reaktionärsten politischen und medialen Stimmen Wilhelm Buschs Credo nach.

Das Gute – dieser Satz steht fest – Ist stets das Böse, was man läßt! Ei, ja! – Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!! (aus: die fromme Helene)

Deutschland ist nicht so. stimmt. Und deshalb darf alles guten Gewissens relativiert werden, was bei Covid zu mehr Toten als virus-nötig führt. Genauso wie die sanfte Behandlung der Rechtsradikalen bei den deutschen Sicherheitsdiensten (KSK ist nur die Spitze). Genauso wie…

Wenn sich die so genannten Gläubigen in den Kirchen zu Hotspots treffen und auf ihren so genannten Gott berufen, dann müssen sie schon sehr fest an ein Leben nach dem Tod glauben. es gibt im übrigen auch ein Leben vor dem Tod. hoffentlich.

reichlich Kriegsflagge

Auf Coronademos ist sie immer wieder zu sehen: Die Reichskriegsflagge stammt aus der Kaiserzeit, auch die Nazis verwendeten sie in ähnlicher Form. Schon lange wird gefordert, das Zeigen der Flagge unter Strafe zu stellen. Die Bundesregierung will wohl trotzdem kein Verbot per Gesetz. 22.3.2021 ntv.

Das ist doch nur natürlich. Nur wenn wir den Neonazis alle Freiheiten gewähren, können wir beweisen, dass sie sie missbrauchen.

In Kassel verstoßen Tausende Demonstranten gegen die Corona-Regeln. Sie tragen keine Maske, ignorieren den Mindestabstand – und einige attackieren die Polizei. Die Zurückhaltung der Beamten zeigt ein altes Muster und löst Kritik aus. Warum wurde nicht durchgegriffen? Die Grenzen der Staatsmacht wurden wieder sichtbar, diesmal in Kassel. Die Welt, 22.3.2021

Auch das ist natürlich. Nur wenn wir die Gefährdung der Menschen durch Coronaleugner zulassen, können wir von der Polizei jenes härtere Vorgehen fordern, das wir ansonsten bei unverhältnismäßigen Einsätzen ablehnen.

Ebenso natürlich aber ist es, zu verstehen, warum die Polizei gar nicht hart vorgehen möchte, weil sie sonst in einer Deeskalation selbst angegriffen werden könnte, was ihrem Selbstverständnis natürlich noch nicht entspricht.

Viele Gerichte – nicht alle, viele Politiker – keine kleine Minderheit, viele Meinungsführer in den Medien – auch hier keine Mehrheit, missbrauchen die Grundrechte, um die Wachstumshormone der Rechtsradikalen zu schonen. Die Asymmetrie zwischen links und rechts wird deutlich, wenn auch nicht als geradlinige Fortsetzung der politischen Justiz von Weimar (vgl. Emil Julius Gumbel), sondern gebrochen.

*

Die Ambivalenz der Nazivergleiche hat Josef Joffe versucht, einzufangen: „Die Medien sind zwar keine Genetiker, wissen aber, dass Hitler besser läuft als Mutter Teresa. Folglich das Wiedergänger-Syndrom: Weimar, Faschismus, Nazismus. Was machen wir jetzt bloß ohne Trump?“ (ZEIT #10, 4.3.2021). So richtig dieser Hinweis ist, so sehr verkürzt er davor die Anmaßung der AfD, anderer Nazis und Querdenker, sich als neuen Juden, also die „Juden“ darzustellen. Joffe zählt alle die Unsäglichkeiten der Selbst-Verjudung dieser Extremisten auf, aber er übersieht, dass die sich als Opfer gerieren, sozusagen kontrafaktisch die Geschichte okkupieren. Ich habe das früher bei den „Republikanern“ wahrgenommen. Damit sie nicht als Opfer erscheinen, erlauben ihnen die Gerichte, sich hinter den Grundrechten zu verstecken, und mit deren Hilfe sich als Opfer zu deklarieren. (um als angeblich Marginalisierte sich darzustellen, braucht es nur des geringen Mutes eines „coming out“, ohne Maske, unter der Reichskriegsflagge. Dass Querdenker und Impfverweigerer im Verein mit dieser Bürokratie selbst potenziell töten, wird dabei übersehen: demonstrieren ist wichtiger. Also muss man, muss ich, doch die historischen Analogien gegen diesen Pöbel anwenden, um klarzumachen, dass dies schon jenseits eines Anfangs der Weg in die Diktatur ist.

Wie bitte – jetzt übertreiben Sie aber, Herr Daxner.

Der Weg muss ja nicht weiterverfolgt werden, aber so fängt er immer wieder an.

Die rechtsradikalen Netzwerke bei den Sicherheitskräften, KSK, Polizei etc. werden geschont, gerade weil sie vorgeblich rechtsstaatlichen Überprüfungen ausgesetzt sind, aber weitgehend folgenlos. Viele Linke haben u.a. deshalb vor dieser Rechtsstaatslinie Angst, weil sie im Zweifel für sie nicht folgenlos sein könnte.

*

Wenn sich jetzt nach Demonstrationen von Kassel u.a. Hotspots noch mehr Menschen anstecken und vielleicht einige mehr sterben, wird man keine individuellen Täter ausfindig machen können und der selbst auferlegte Opfermythos wird den Querdenkern und Nazis weiter Auftrieb geben, sie sind ja noch nicht krank oder gar tot.

Der Aufschlag von Joffe könnte in zwei andere Richtungen gehen: zum einen selbstkritisch an die 61er bis 68er, die (wir) leichtfertig die Nazianalogien und die Marke „faschistisch“ zu freigebig verteilt haben – übrigens gottseidank auch folgenlos, weil uns die Rechtsprechung und Gesetzgebung der Jahre danach doch vielfach Recht gegeben hat. Zum andern aber, dass man die Analogie zum Nationalsozialismus nicht behaupten soll ohne Belege, ohne begründete Zeitzeugnisse und ohne zu bedenken, was sich am Habitus der Nazis geändert hat, damit sie weiterhin so agieren können.

Giuseppe Tomaso di Lampedusa: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist. (Der Leopard). Damit punkten die Rechten aller Lager im Land. Das ist die Geburtsstunde der deutschen Gelbwesten, wenn man so will…so lange alles bleibt, wie es ist,  dürfen sie die Grundrechte ausnützen, um andere anzustecken und die Polizei auch noch sich loben lassen, weil sie das hinnimmt.

Keine Feinde Brandenburgs

                                            In Staub mit den Feinden Brandenburgs

                                                                          (Heinrich von Kleist)

Keine Coronageschichte, ich bleibe mir treu. Ein Impftermin war nur der Anlass. Magdeburger Landstraße 228, in der Stadt Brandenburg an der Havel. Ums kurz zu machen. Ich war vergeblich dort, sie hatten nach dem Astrazenecaverbot für vier Tage keinen Impfstoff mehr…so, jetzt kommt die Geschichte.

Noch kam ich pünktlich in Brandenburg an,  wollte eigentlich durch den mir bekannten Teil der Altstadt zur Magdeburger Straße wandern, weil ich diesen Ortskern, umhüllt von Bürgerhäusern, DDR Architektur und Nachwende-Postismus interessant finde. Du hast ja Zeit sagte ich mir. Fragte zur Vorsicht eine vermummte Brandenburgerin, wie ich denn am besten zur Landstraße käme … ach, das sei zu weit zu laufen, nehmen Sie die 1 oder die 6, Straßenbahnen gibt’s, ist ja keine Kleinstadt mehr.  Durch die mir noch bekannten Stadtviertel, incl. Kirchen und Tramdepots…lohnt hinzuschauen. Es gibt nur eine Station an der Magdeburger, also steige ich aus. Hausnummer 2. Ich frage, wie lange ich denn zu laufen hätte…ja, schon eine halbe Stunde oder mehr. Schöne Umgebung, Gericht, Uni, Klinik und vor mir eine Umleitung, weil die große Brücke gesperrt ist. Ich versuche ein Taxi zu rufen. Wir sind ausgebucht für eine Stunde, nur Dialysepatienten. Ich stelle mich an den Straßenrand, autostoppen, an einer Ampel. Ein Wagen, Mama, Tochter, Enkelin hält. Ich erkläre ihnen mein Problem, und…o wunder, ja, dann steigen Sie ein. Durch die gesperrte Brücke eine Umleitung von ca. 4 km…und irgendwann kamen wir am Impfzentrum im Stahlpalast (!) an, offenbar die größte Halle der Stadt, im Industriegebiet. Neben mir bricht eine alte Frau in Tränen aus, für sie ist auch kein Impfstoff da. Na gut, denke ich, suchst du dir einen Bus zurück zum Bahnhof…den zu finden war nicht schwer, aber die Fahrt der Expresslinie dauerte fast eine Stunde, weil die Umleitungsstrecke  ein einziger Stau war und ich die Wohnsiedlungen am Rand genau studieren konnte. Dass ich den Zug von hinten sah, war nicht mehr schlimm. Ich komme wieder.

*

Das wäre für mich auch die Einleitung einer Ausflugsempfehlung in die Stadt Brandenburg. Wir waren da mehrmals, die Kirchen und die offen liegenden vielen Schichten einer wechselvollen Geschichte, mit einem deutlichen Abstieg nach der Wende und einer bemerkenswerten Auferstehung in den letzten Jahren. Von den hunderten prominenten Namen der Stadt seit tausend Jahren empfehle ich dem Gedächtnis nur Rudi Schurike und Loriot (man findet überall die von ihm inspirierten Möpse von Clara Walter). Brandenburg war auch eine Stadt furchtbarster Zuchthäuser.

Wer uns in Potsdam besucht, wird gerne mit uns eine wunderbare Radtour entlang der Havel nach Brandenburg machen, ca. 2 Stunden und entlang von großen mehr oder weniger attraktiver Vögel (Canada Geese) und Touristen.

Frage an Spahn

Die Presse meldet.

Wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Regierungskreise berichtet, habe die Bundesregierung aus juristischen Gründen keine Alternative zum Aussetzen der Impfungen gehabt. Denn nach der PEI-Empfehlung hätten ansonsten Körperverletzungs-Klagen gedroht, da es sich um eine staatliche Impfkampagne handele. https://www.tagesspiegel.de/wissen/pei-chef-erklaert-impfpause-bei-astrazeneca-es-handelt-sich-nicht-um-alarmismus-sondern-um-vorsorge/27009530.html

ach ja. und wenn zur Impfung angemeldete Personen sich NACH DEM IMPFTERMIN der abgesagt wurde, mit covid infizieren, dann hat das keine juristische Folgen? auch wenn solche Personen schwer erkranken oder gar sterben…

Wenn…Dann…

Eine kurze Rezension. Jill Lepore: IF / THEN, New York 2020 (Liveright). Untertitel: How the Simulmatics Corporation Invented the Future. Kein Fragezeichen. Wenn man die heutigen globalen Netzwerke und den verzweifelt sinnlosen Versuch von Politik, sie wieder einzufangen und durch Datenschutz und Privatheit zu begrenzen, auf ihre Herkunft untersuchen will, ist das ein idealer Text.

Man liest dieses Buch wie in einem Rausch, und am Ende kann ich kaum sagen, was es war, das mich nicht hat aufhören lassen. Jill Lepore kann gut schreiben, und in ihrer Dekonstruktion der lange festgeklebten Ansichten zur Geschichte der USA „These Truths“ hat sie eine Meisterleistung vorgelegt (Lepore 2018). Kurz darauf kam ein nächstes, fast so umfangreiches Buch, IF / THEN (Lepore 2020).

Die Geschichte der USA beginnt sehr früh und war immer mit bestimmt durch die Auseinandersetzung zwischen weißen Eliten und indigenen Gruppen, oder aber später Sklaven.  Und durch die Konflikte zwischen Freiheitsrechten und dem gleichen Zugang zu diesen Freiheiten. Großartig nachvollziehbar von der amerikanischen Unabhängigkeit bis in die Gegenwart, und zugleich fast beschämend als Korrektiv all dessen, was wir gerne von den USA glauben wollten. Das neue Buch konzentriert sich auf die Periode von 1950 bis heute. Anhand einer minutiös recherchierten Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Firma – Simulmatics – werden drei Themen miteinander verzwirbelt: der Aufstieg der computergestützten Vorhersage mithilfe von Big Data; die Ambivalenz des politischen Einsatzes von Simulationsverfahren – ob es um Werbung, gezielte Wähleransprache oder Counterinsurgence in Vietnam geht; die geradezu unvorstellbaren kommunikativen und kulturellen Querverbindungen innerhalb einer relativ kleinen Gruppe von Politikern – meist Männern – Wissenschaftlern. Das alles bestückt mit einer Reihe intervenierender Personengruppen, z.B. Ehefrauen, Geschäftspraktiken, den ansteigenden Einfluss des Pentagon auf die Wissenschaft (IT, BigData) und mehr oder weniger ethisch legitimierten Verhaltensweisen.

Man kann dieses Buch lesen als die Vorgeschichte der heutigen Netze wie Facebook, Google, Spotify etc. Man kann es lesen als den Basso continuo zur Melodie des Fortschritts – da gab es einmal nur 20 Computer in den USA, und dann werden schon bald PCs und Tablets vorhergesagt. Man kann es lesen als fast systemischen Endkampf zwischen der Freiheit von Bürgern und ihrer Manipulation, – vieles erinnert an Baudrillards Vorhersage. Der Ersatz der Realität durch Zeichen…“Die Zeichen „simulieren“ eine künstliche Realität als Hyperrealität, anstatt eine wirkliche Welt abzubilden.“ [1]. Das alles stellt Lepore atemberaubend genau vor: wer spielt aller mit, und das gute ist, dass man neben bekannten Präsidentennamen auch noch andere Personen aus seinem Gedächtnis rausholen kann: Daniel Ellsberg, Jerry Rubin, Noam Chomsky, Paul Baran, Barrington Moore…ganz viele. Aber im Kern des Geschehens agieren nicht mehr als zehn Personen, rund um die und in der Firma Simulmatics, die am Ende der Geschichte, in den 1970er Jahren, selbst zum Simulacrum wird, und dann schnell vergessen.

Das wird besonders deutlich, wenn Lepore den Versuch der Simulmatics beschreibt, eine Gegenstrategie zum Vietkong mit Büro und Feldarbeit in Vietnam zu schaffen, und dabei mit untauglichen Mitteln Daten unter potenziellen Verbündeten sammelten. Dabei werden zwei ganz unterschiedliche Ebenen sichtbar: die unglaublich verknotete, bisweilen ignorante, bisweilen korrupte Politik um die Regierung in Washington herum, die gegen die Antikriegsbewegung jede Lüge, und jedes Argument gebrauchen kann; und die abenteuerliche pseudowissenschaftliche Rahmung der gewinnbringenden Aufträge trotz methodischer Schwächen und unsinniger Versprechen. Das wissen zwar die wichtigeren Auftraggeber in Washington, aber vielfach fallen sie auch auf die Wirkung von noch mehr Daten hinein, mit denen man dann besser Vorhersagen machen kann. Die Vorhersage des Wahlverhaltens, des Kaufverhaltens, des Beziehungsverhalten soll mit der People Machine fundiert werden, die Vorhersage des politischen Verhaltens soll nicht zuletzt die Prävention ermöglichen, Aufstände, Rebellion, Widerstand, Abwendung zu verhindern.

Die zentrale Gründungsfigur wird zum Ende, nach der Insolvenz von Simulmatics, so beschrieben: „Years before, man y years before, Ed Greenfield had pulled together the best and the brightest: scientists of human behavior, ad men, computer men. He wanted to build a machine to predict human behavior. Greenfield must have believed they’d failed. He’d lost everything. But Simulmatics hadn’t failed. The automated simulation of human behavior became the human condition” (S. 319).  Den Beweis treten ja die Algorithmen der großen Netze an, sie brauchen gar nicht mehr die große Datensammelzentrale, um die in den USA erbittert gestritten wurde, mit dem Datenschutz als Kontrahenten.

Was mir außerordentlich gut gefällt, ist die Tatsache, dass mit Ausnahme einiger sinistrer Politiker die Protagonisten nicht einfach „gut“ oder einfach „böse“ sind, sondern in mehr als einer Dialektik schwingen. Das ist besonders deutlich an der Art des studentischen und akademischen Protests gegen die Pentagon-MIT-Verbindung, wenn die Argumente sich erklärend von der nun wirklich realen Kriegsgegnerschaft abheben. Da tauchen bei mir auch Erinnerungen an die 68er „Ableitungen“ auf. Wie schon in These Truths, werden die USA gesellschaftlich und kulturell filetiert. Das macht, gerade jetzt, nach Trump, die Hoffnung auf grundlegende Besserung nicht leichter.

Es gibt nicht nur eine deutsche Naivität gegenüber dem militärisch-wissenschaftlichen Politik-Komplex. Es gibt auch eine amerikanische Doppelbödigkeit, die Naivität der Mehrheit und einen gewissen Fortschrittsglauben der Wissenschaft, die nur auf den Zuwachs und die Folgen des Wissens setzt.

Gut zu lesen, schwer zu verdauen.

Was mich noch beruhigt: in einer durchaus chronologisch und systematisch nachvollziehbaren Historie wird mit so vielen fachübergreifenden Elementen gearbeitet, dass die Leserinnen und Leser ein plastisches Bild der Gesellschaft und Kultur erhalten, die wir, gebildet oder weniger gebildet, eben doch nicht so gut kennen wie wir gerne in Europa glauben. 

Lepore, J. (2018). These Truths: A History of the United States. New York, Norton.

Lepore, J. (2020). If Then. New York, Liveright.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Baudrillard#Simulationstheorie

Preis und Kosten der Geduld

Diktaturen und grausame Regime ab einer gewissen Größe kann man nur indirekt, politisch, diplomatisch bekämpfen. Gegen China oder Russland helfen weder Säbelrasseln noch Einreiseverbote für 5 Parteimitglieder. Bei weniger global agierenden Diktaturen helfen Wirtschaftssanktionen, aber auch nur beschränkt. Wie bei den großen und mächtigen Zwangsstaaten hindern ja viele eigene Wirtschafts- und Militärinteressen ein wirksames Eingreifen. Und Resolutionen, wie etwa vom Sicherheitsrat der VN, werden meist von einem oder mehreren der dort agierenden ständigen Mitglieder abgeblockt, wenn auch nur ein vernünftiger Satz in ihre Nähe kommt.

Wie ein Alptraum kommen Machtfantasien auf, wenn man selbst entscheiden könnte, wo würde man einmarschieren, Tyrannen morden, die Fremdherrschaft absetzen, die legitimen und gerechten Königinnen wieder einsetzen, nicht zögern…von solchen Gedanken sind die Märchen und Sagen voll, und auch ein Teil der Science Fiction.

Aufgewacht ist man deprimiert. Jetzt wollen wir Aung San Suu Kyi befreien, sie in ihr legitimes Amt zurückführen –  haben wir sie nicht bitter kritisiert wegen ihres Umgangs mit den Rohyngia? Jetzt kritisieren wir Obama, weil er nicht in Syrien einmarschiert ist, nachdem der Tyrann Assad Giftgas eingesetzt hat?

Dieses WIR ist ein Problem: wer sollte denn tun, was mir, uns, den Teilnehmerinnen am Diskurs, richtig scheint, und zwar oft fraglos richtig, und oft das kleinere Übel?

Nachteil: das heißt fast immer Krieg, Gewalt, Tote. Und nie ist es sicher, ob das Ergebnis besser ist als der Anlass zum Angriff. Und immer steigt die Zahl der Opfer.

Dem steht ein MAN  der Hoffnung gegenüber. Einem arabischen Frühling folgt ein zweiter, einer Demo gegen Lukashenko folgt die nächste, eine Verweigerung gegen die Juntas wo  auch immer folgt eine weitere…

Nachteil: wenn die Endlosschleife der Aufstände für das Richtige nie zu einem Erfolg führen, zum „gut Gelungenen“, wie Ernst Bloch es nannte, denn ist die Geduld eines Tages zu ende und die Gesellschaft wird zum Lemming. Und immer steigt die Zahl der Opfer.

Die Widerständigkeit des Wir hat einige diskutierbare Erscheinungsformen: Empörung, Verweigerung, Subversion, Illoyalität…und Wegtauchen. Oder eine Politik, die die nationalen und religiösen Grenzen nicht so wichtig nimmt wie etwa die Menschenrechte.

Der Hoffnung des Man müsste man einen Beschleuniger beigeben können, und sich exponieren und damit selbst in eine Gefahr bringen, vor der man andere retten möchte. Dreimal Man.

*

Natürlich weiß ich so gut wie Ihr, dass man so einfach nicht die Fragen der globalen Gewalt angehen kann. Mein Zweck ist ja auch nicht, ein originelles Interventionskonzept vorzustellen, wo man wie intervenieren, einmarschieren, kämpfen soll und wo man stillhalten kann, soll oder muss. Mir geht es um etwas anderes, durchaus psychisch belastendes: in den gegenwärtigen, durch die Pandemie getrübten Umständen treten die großen Rahmungen unseres weiteren Lebens und wohl des Überlebens in einen Hintergrund, aus denen sie nicht einfach hervorgeholt werden können.  Unsere Geduld heißt ja immer auch, wir lassen Putin, Xi, Erdögan, Orban, Seehofer, Kurz…gewähren, jeden auf seinem Niveau, weil  wir erst „hier durchmüssen“. Das hat eine oft unbemerkte Konsequenz: heißt das, wir können erst politisch handeln, wenn alles wieder „normal“ ist,  wenn Covid vorbei und die nächste Pandemie noch nicht wieder da ist? Das Beschwören von Normalität ist eine besondere Schwäche der hingenommenen Geduld. Es wird so wenig wieder normal, wie es je nach einem globalen oder sonst großen Unglück normal geworden ist. Normalität ist (auch) eine von der jeweiligen Herrschaft angeordnete. Wenn eine oder einer nicht selbstbetroffen ist, könnte man fast den Rat geben,  sich auf alles zu konzentrieren, was neben den Bemühungen um das Bewältigen der Gegenwart, des Jetzt – Impfen, Quarantäne, nicht aus der Haut fahren angesichts der Politik – unseren Ausnahmezustand umrahmt. Wie immer, Klima, Flüchtlinge, Menschenrechte, Hunger, Armut…ich sage „fast“, weil das wohlfeil ist: kümmere dich um die Welt, solange du überlebst. Aber es hilft, psychologisch gedacht, dem Wahnsinn individueller Betroffenheit etwas entgegenzusetzen, zB. die Empathie gegenüber den Opfern Lukashenkos, Putins, all der Gewaltherrscher und Ignoranten. Daraus kann auch Politik werden.

*

 Dies ist ein Blog und kein Lehrbuch. Aber ich kann einiges dazu illustrieren. Was die Hinnahme betrifft, begleitet mich immer die Geschichte Bert Brechts vom Herrn Keuner, der erzählt, wie man dem Tyrannen dient…und sich ihm verweigert, wenn die Tyrannis gebrochen ist. “Maßnahmen gegen die Gewalt“ (u.a. Frankfurt 2006). Wenn die Politik eingreift, wie viele Opfer bis zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung hat es gegeben, z-B. in Afghanistan, und wenn sie nicht eingreift, wie z. Myanmar, wieviel mehr oder weniger Opfer bewirkt das?  So sind die Alpträume, die ein unguites aufwachen in der Geduld bewirken.

Oft bleibt dann nur, Seawatch oder unicef oder…unterstützen und sich in die nächsten Fantasien flüchten. Und wo man kann,  wirklich nein sagen, siehe Brecht.

Sozialfriseur

Um das Bild der Politik aufzuhübschen, setzen die Ministerien u.a. auf Visagistinnen, Friseure und Kosmetikerinnen – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise, wie aus der Bundestagsdrucksache 19/27101 hervorgeht. Demnach gab das Finanzministeriumseit 2011 gerade mal 900 Euro für Make-up und Frisur aus, das Forschungsministerium ließ sich eine gepflegte Erscheinung der Verantwortlichen im selben Zeitraum 6300 Euro kosten – und das Umweltministerium sogar 23.500 Euro. Auf der Traktor-Überholspur ist aber eindeutig Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner: In ihrem Ministerium wurden allein in der Zeit seit 2018 rund 13.600 Euro für kosmetische Zwecke abgerechnet – eine wahrlich weinkönigliche Summe. (tagesspiegel online 10.3.2021)

Wir sind in der Normalität angekommen, die angeblich wieder hergestellt werden soll. Ich meine dabei weniger die Eitelkeit unserer unerträglich schönen Regierungsmitglieder, sondern die Tatsache dieser Nachricht. Das Vorspiel waren Fragen, warum die Fußballprofis trotz Lockdown immer so gut frisiert auf den Rasen stolpern. Und der heilige Markus, Patron der Friseure, trat demonstrativ verwuschelt vor die Kamera, nachdem er die Öffnung der Salons metaphysisch begründet durchgesetzt hatte. 
Währenddessen ist es kaum eine Nachricht wert, dass das Abschiebeunternehmen Seehofer weitere 26 Menschen beim 37. Transport nach Afghanistan in den möglichen Tod schickt.
Todschick, das ist ja auch so ein Begriff. Geschmacklos? Sicher. Um den Kalauer zu vervollkommnen: schick = unsicher. 
*
Nachrichten für die Öffentlichkeit sollen etwas bewirken, Informiert-Sein für sich ist kein Wert. Neid, Wut, Anerkennung, ungläubiges Kopfschütteln sind primäre Reaktionen. Im besten Fall bewirkt eine Nachricht Nachdenken. Worum geht es denn da eigentlich? dem hilft eben manchmal der Kalauer auf die Sprünge: die Künstlerin Barbara Ungepflegt (die heißt so, bitte), Artist in Residence beim ifk Wien,  hat 2019 ein „Ministerium für Heimatschmutz und internationale Affären“ propagiert[1] und damit der Realität die ironische Pointe geklaut. Vor mehr als 40 Jahren haben W. Streffer und andere an der Universität Osnabrück den Sozialfriseur erfunden, und Nachrichten zu ihm entwickelt. Der brauchte keine Erklärung, aber oft wurden wir gefragt: was soll das?

[1] Ifk now, 1/2021, 16-17