Die Freiheiten der Unfreien

Die Freiheit für die Falschen

Wenn man dir die Freiheit anbietet,

dann nimm sie nicht, es ist nicht die Freiheit.

Die Freiheit musst du dir nehmen.

                               (Quemada)

Ja, aber welche Freiheit und wer darf sich was (heraus)nehmen?

Die Nazis, d.h. die AfD, berufen sich auf Grundrechte, wenn es um Verweigerung der Demokratie geht. Herr Lindner, von der FDP, beruft sich auf diese Grundrechte, wenn es um die marktwirtschaftliche Verhinderung von Klimaschutz im Namen des Klimaschutzes geht; alle möglichen PolitikerInnen und Medienmenschen sehen in der Impfpflicht eine Verletzung der Grundrechte. Eine solche Verletzung sehen sie im Töten von Menschen von dadurch bewirkten Ansteckungen nicht – ich spreche von den Impfverweigerern und nicht von denen, die nicht geimpft werden können.

Die Regierung behauptet, christlich und sozial und demokratisch konstituiert zu sein, aber die Tötung durch Abschiebungen bereitet ihr rechtsstaatliche Genugtuung.

UND DAS ALLES IM NAMEN DER FREIHEIT.

So wenig es hilft, wenn sich religiöse Autokraten – Inquisition, Verdammungsurteil (Hölle!), Ausgrenzung – auf die Bibel oder den Koran berufen, so wenig ist die bloße Nennung des Grundgesetzes oder die Verwendung der Etikette Grundrechte schon eine richtige inhaltliche Aussage. Sehr oft ist es eine falsche.

Schon vor einem Jahr wurde aus der Freiheit ein Wegweiser der Nazis: Straße der Wut (ZEIT im Osten, 25.7.2020):

DAMALS WIE HEUTE FREIHEIT MUSS ERKÄMPFT WERDEN – ein schwarzgekleideter Pegida-Nazi (Coronaleugner dazu) mit den entsprechenden Tattoos. Da stellt sich für den Beobachter nicht mehr die Frage, welche Freiheit? von wem für wen?

Bei der Befreiung kann ich genau sagen, wovon wir befreit werden sollen.

(Unser Fehler: das wird wirklich zu wenig öffentlich und verständlich diskutiert, findet mehr in Journalen, Konferenzen und intellektuellen Zirkeln statt, und auch da nehmen wir uns eine falsche Freiheit heraus).

Aber so sieht das Banner aus, das uns umflattert:

Adam Smith: Solange der Einzelne nicht die Gesetze verletzt, lässt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann. A ja. Mit Impfverweigerung verletze ich kein Gesetz. Anderen zu schaden, ja, sie tödlich zu verletzen, wird dadurch nicht gewollt, nur in Kauf genommen…so ist die Natur. Mein enger Freund M.C. nennt das den Sozial-Smithismus.

Diese Debatte wird im Augenblick, wahlkämpferisch skurril und verzerrt, über Testpflichten, Verbote versus Privilegien etc. geführt.

Dass man über Freiheit reden MUSS, dass da nichts automatisch oder gar Gemeingut ist, sollte sich von selbst verstehen. Wenn eine bestimmte AUFFASSUNG VON Freiheit; die man zu haben hat, mit einer bestimmten Auslegung der Grundrechte, die man nicht zur Diskussion oder Kritik stellt, dann klingt das entweder gefährlich, wie bei der AfD, oder läppisch, wie bei Lindner, und klingt nicht nur so. Ich spreche bewusst von DEMOKRATISCHER BLASPHEMIE, weil es scheint, als würde das Fundament unseres gesellschaftlichen, solidarischen Zusammenlebens gelästert und geschändet; man bietet dem Pöbel Brot und Spiele (das nennt man „Freiheit“) und meint damit, über Freizügigkeit Anerkennung und Wählerstimmen zu gewinnen.  Dabei wird die Illusion genährt, man können die Menschen von der Pandemie und in ihr befreien.

Wer Hubert Aiwanger gestern und heute im DLF gehört, weiß, wie gefährlich das freie Individuum sich gebärden kann, wenn ihm Vernunft und Moral fehlen. Nun gehört er ja den „Freien Wählern“ an…

Der Bundesgerichtshof hat heute facebook die Löschung faschistischer Inhalte erschwert, wenn diese Inhalte nicht die Merinungsfreiheit gefährden…vor der Löschung müsste man das auch den Tätern ankündigen…alles im Namen der Freiheit.

Wenn man dann die Genugtuung hatte, Winfried Kretschmann dagegen zu hören (auch DLF), die genau über die Bedingungen der Freiheit gesprochen hat, wird es einem besser. So wenig wie das Privateigentum, weniger noch, ist die Freiheit des Individuums unverfügbar für den gesellschaftlichen Kontext von Solidarität, Rücksichtnahme, Respekt. Klingt pathetisch oder philosophisch, ist aber auch konfliktsuchend geäußert gegen den Pöbel. Dieser zerstört sogar die kritischen Klassenschranken, er ergreift rücksichtslos das kurzfristige Behagen an der Unangreifbarkeit im Namen von Freiheit. Nur: schon da hat der Pöbel das Grundgesetz, die Grundrechte gegen sich. DAS wäre ein wirkliches Thema für den Wahlkampf…

Nicht Anti-Deutsch, nur Nicht-Deutsch

Manche erinnern sich noch an die „Anti-Deutsch“- Bewegung, grausige, dumm und ohne Boden. Die gibt es noch in verstümmelten Resten; die aber meine ich nicht.

Nicht-Deutsch heißt für mich, dass mir die Überheblichkeit deutscher Selbstbetrachtung und des missionarischen Eifers auf die Nerven geht, so ähnlich muss es den America first! Deppen gehen und allen, die „ihrer“ Nation einen „exzeptionalistischen“ Anstrich geben wollen. Der ist dann wahlweise antisemitisch, rassistisch, kolonial, bisweilen auch sexistisch, christlich, muslimisch oder anderswie herausgehoben, besonders.

Erst das Maul aufreißen, die Leute einwickeln. Wir haben das besser gemacht als die anderen, typisch deutsch, und später Fehler oder Unvermögen eingestehen oder auch nicht, und aus den Fehlern lernen und für die Zukunft vorsorgen.

So, wie die Pläne zur Seuchenprävention von 2012 einfach zu den Akten gelegt wurden, es gab ja keine Seuche.

So, wie 2019/20 erst einmal Masken bei CoVid abgelehnt wurden (weil es keine gab), ebensowenig Tests (weil es keine gab), und dann vorgeschrieben wurden, weil wir Deutschen ja umsichtiger sind als andere.

So, wie Werbung für G5 gemacht wird, Deutschland aber um Jahrzehnte bei der Digitalisierung nachhinkt, auch im Vergleich zu ärmeren oder weniger entwickelten Ländern.

So, wie beim Hochwasser eigentlich alles vorher bedacht war und keine Defizite vorhersehbar waren, die aber jetzt säuberlich aufgelistet werden, damit sich alle darauf einstellen können, wie teuer und wie kompliziert die nächste Katastrophenvorsorge wird, nachdem man jahrelang diese vernachlässigt hat.

So, wie das deutsche Rentensystem ungerechter ist als das ärmerer oder weniger entwickelter Länder, aber die soziale Marktwirtschaft als unsere Domäne gepriesen wird.

So, wie unsere humanitäre Nachkriegsblähung weiterhin AfghanInnen in den Tod abschiebt, was andere NATO-Länder längst unterlassen, und den Ortskräften der Bundeswehr nur zögerlich und sehr spät Hilfe gewähren.

So, wie wir hämisch auf korrupte und rechtsstaatlich defekte Länder herabschauen, aber in Justiz und Verwaltung immer mehr Rechtsradikale, Mafiosi und Korrupte selbst unter Hinweis auf die Grundrechte schützen.

Die Liste geht weiter, arbeitet selbst daran. Ich kann auch Dinge aufzählen, die gut laufen hier…aber die laufen anderswo auch gut. Nur so deppert wie Nordstream 2, so korrupt wie Dobrindt-Scheuers Maut, so lobby-abhängig wie Klöckners Agrarismus, so untätig wie Maas‘ Nichtaußenpolitik muss man erstmal sein, um auf sein Land stolz zu sein.

Na und? Es gibt auch Gutes zu vermelden. Immer nur Nörgeln, das geht gar nicht. Geht doch.

Es geht, wenn man sich hinter einer nationalen Kultur verschanzt, die zunehmend die Spielräume für die radikale Rechte (und manche Linken im Schulterschluss) erweitert; einer Kultur, in der das Konstrukt „Nation“ wieder die ganze Preußenmisere bis weit ins 19. Jahrhundert aufleben lässt; einer Kultur, die sich auf Kulissen zurückzieht, wo ihr sonst nichts einfällt: Humboldtforum, Garnisonkirche, großer Zapfenstreich mit Fackeln vor dem Parlament).

Regt euch ab. Ich schimpf ja gar nicht, ich nörgle nicht einmal. Ich stelle nur fest, dass Deutschland in vieler Hinsicht weniger gut ist, als es sich darstellt und von uns dargestellt zu werden wünscht. So, als würde man nicht bei der Ersten Sparkasse, beim Ersten FC, in der Ersten Kirche … sich verdingen, sondern in der vierten, fünften oder neunten. Was mich aufregt?

Dass hinter der Maske Deutschland ein besseres, humaneres, toleranteres…Land vorgespielt wird als die Wirklichkeit aufweist. Dass die Grundrechte durch ihre Entfernung und Entkernung aus dem Zentrum in Richtung auf die rechte Peripherie gerückt werden, dass das „Man“ der öffentlichen Diskurse aus dem demokratischen Lot gerät.

*

Ein Test. Lest den neuen Spiegel, die scheinbar wütende Abrechnung mit Versäumnissen, diesmal zum Katastrophenschutz. Versäumnisse kann man nur hinterher feststellen, in Echtzeit wäre es Politik gewesen, Kultur, massenhafte Teilhabe der Bevölkerung.

Jetzt will man Einfamilienhäuser, wenn überhaupt, hochwasserfest neu bauen oder renovieren. Jahrelang hat man es versäumt, sie für Ältere und Behinderte barrierefrei zu machen, jetzt muss man beides.

Was hat das mit den großen Defiziten zu tun? Wenn ihr so wollt – alles. Wenn sich die Nazis auf Kosten der Flutopfer einen guten Tag machen, wenn die Gerichte Nazibanden mit Bewährungsstrafen belohnen, in Erfurt zB. für einen „Racheakt“, wenn sich alles auf dem Rücken der BürgerInnen dieses Staates abspielt, dann muss man ihm weder dienen noch Loyalität über das minimale Maß des Gesetzesgehorsams hinaus erweisen.

Und was ist mit denen, für die das alles nicht zutrifft? Die brauchen es nicht, dass Deutschland „vorne“ ist, wenn es schon „hinten“ ist. Darf man nicht normal sein, damit nicht mehr, sondern weniger Menschen bedroht und belastet sind?

*

Ich vergleiche unser Land gerne mit anderen Ländern. Manches ist hier besser, anderes ist schlechter. Der Vergleich ist niemals ganz wissenschaftlich und niemals nur politisch. Aber das Ergebnis muss immer Folgen haben. Man kann nicht die Vergleiche durch das Grundgesetz schützen lassen, aber die Folgen daraus einfach liegen lassen und für die Zukunft Besserung versprechen. In der Zukunft: Da wird es keine Seehofers, Maase, Scheuers und Klöckners in der Politik geben. Und damit das klar ist: leider keine Merkel. Aber wen dann?

*

Aus schnellen Rückmeldungen lerne ich: das ist doch zu nahe an der Ablehnung des Systems, sagen sie. damit würde ich doch nur die erreichen, die die Demokratie eh nicht wollen, die sich in keiner res publica, in keiner Republik einbringen wollen. und dann habe ich überlegt: lösch doch den Blog, die andern sind gut genug. ABER auch wird mir klar, dass die eigentliche Loyalität darin bestünde, die Kritik dort nicht verstummen zu lassen, wo man anscheinend ohnedies nichts „machen“ kann. Um dieser Differenz willen begibt sich das Bewusstsein noch nicht in den Ruhestand, dass im Prinzip bei uns noch alles besser sei als anderswo. Ist es. Und wie schnell kann das zerstört werden, das seht ihr anderswo, auch in Europa, auch in der EU.

Der andere Einwand, dass sich „Die Deutschen“ doch dauernd entschuldigen und, im Vergleich zu vielen anderen, sich doch recht gesittet verhalten, ist zweischneidig. Was Verhalten und Umgang mit anderen betrifft, mag sein; was die dauernde Entschuldigung betrifft, ist es aber leider doch eine Überhöhung dessen, wofür man sich – vor allem in Regierungskreisen, in der öffentlich wirksamen Elite – eigentlich entschuldigt. Selbst im Bösen sind wir Nummer 1?

Deshalb wiederhole, vorsichtshalber: Und was ist mit denen, für die das alles nicht zutrifft? Die brauchen es nicht, dass Deutschland „vorne“ ist, wenn es schon „hinten“ ist. Darf man nicht normal sein, damit nicht mehr, sondern weniger Menschen bedroht und belastet sind? Wenn Kritik auf jemanden nicht zutrifft, soll der oder die weitermachen, das gehört auch dazu. Konkret: Deutsch bleibt dann und nur dann nicht, was es war, sondern kann vielleicht, wird vielleicht sein, was es noch nicht ist.

Justiz schützt Nazis

Ich spreche nicht von NEO-Nazis. Was ist an ihnen „neo“ als dass sie gegenwärtig sind und nicht Gegenstand der Vernachlässigung von Geschichtsaufarbeitung. Was jetzt geschieht, ist seit 1945 immer wieder geschehen, und es hat immer wieder „Betroffenheit“ gegeben, die sich in Gleichgültigkeit abebbte. Nichts neues also, aber es hat auch Gegenbewegung gegeben, mehr als nur Versprechen aus Geschichte gelernt zu haben.

Neun Neonazis gingen mit Bewährungsstrafen aus dem Landgericht Erfurt, obwohl sie eine harmlose Kirmesgesellschaft überfallen und mehrere Menschen schwer verletzt hatten. Kritik verbat sich die Vorsitzende Richterin – so wie Gerichte und Staatsanwaltschaften sehr oft empfindlich reagieren, wenn ihnen Sehschwäche auf dem rechten Auge und fehlende Durchsetzungskraft vorgeworfen werden. (SZ 17.7.2021)

Lest den ganzen Artikel. https://zeitung.sueddeutsche.de/szdigital/file/sz/2021-07-17/4/page_2.480168/article_1.5352954/infographics_7.273199/index.html

und am nächsten Tag gleich weiter: https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-07-21/page_2.481017/article_1.5357987/article.html

und gleich weiter am 26.7.: https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-07-26/page_2.481672/article_1.5362783/article.html

Die Richterin verbat sich Kritik. Entfernt sie aus der Justiz.

Die Kehrtwende in Deutschland ist unverkennbar. Nicht nur in diesem Einzelfall. Die Ausdehnung der Grundrechte gerade auf Rechtsradikale und ihre Einschränkung auf andere, demokratische Menschen, macht es der Justiz leichter, in ihren Traditionen sich zu festzukrallen. Das war schon einmal anders. Und nicht alle Richter und Staatsanwälte, -innen und -innen, sind davon angesteckt. Aber manchmal kommt es mir vor, als hätten eine bestimmte Sorte von Juristen eine Übersättigung mit Demokratie erfahren und würgten sich in die deutschen Traditionen zurück.

Emil Julius Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Politische_Morde_(Weimarer_Republik). Nein, Frau Richterin, Weimar kehrt noch nicht zurück. Dafür sorgt die Demokratie, die Presse, dafür sorgen wir Menschen. Aber wenn Sie sich Kritik verbitten…gehören Sie aus der Justiz entfernt. Gerade die Kritik kann Sie stützen, nicht stürzen. Neonazis dürfen mittlerweile alles Mögliche, das die Menschen in einem Rechtsstaat eigentlich nicht dürfen, egal, ob sie rechts, links, gläubig oder was sonst sind. Warum gerade Neonazis, warum wird die Rechte systematisch von vielen Juristen verschont? Diese Frage, Frau Richterin, sollten Sie beantworten – oder mit in ihr Leben, am besten außerhalb der Justiz mitnehmen.

Zapfenstreich und deutsche Lernschwäche

Evacuations: The Biden administration will begin evacuating Afghans who aided the U.S. and are endangered by the troop withdrawal. Flights will begin the last week of July. (NYT 15.7.2021)

WICHTIG ZU LESEN

Fleeing bombs and bullets in Afghanistan’s Kunduz province

15.7.2021 BBC: https://www.bbc.com/news/av/world-asia-57841719?fbclid=IwAR2jJD16opVM97Jw42pKuUPfoIuw8ekBztJA4wA1qwwNxSm6XSZpKsv2qMQ

Fleeing bombs and bullets in Afghanistan’s Kunduz province

The UN has told the BBC that the situation unfolding in Afghanistan is a ‘humanitarian catastrophe’ and is one of the worst crises in the world. Around 18 million people, more than half the country’s population, are in urgent need of life-saving support. There’s been a sharp surge in violence across the country between the Taliban and Afghan government forces following the withdrawal of foreign forces from the country.

BBC correspondent Yogita Limaye travelled to strategically vital Kunduz province, in northern Afghanistan. All of it, except the provincial capital, has fallen to the Taliban. The UN says 35,000 newly displaced people have arrived in Kunduz city in just over a month in search of safety and shelter.

Video by Mahfouz Zubaide, Sanjay Ganguly and Aakriti Thapar.

Bitte schaut auch die Begleitberichte von BBC zu dieser Meldung.

Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. hat heute eine Pressemitteilung veröffentlicht:

PRESSEMITTEILUNG Verein bringt Ortskräfte in Safe House in Sicherheit •

Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. hat durch Spenden finanziert seit letztem Sonntag den ersten 90 Ortskräften eine sichere Unterkunft in Kabul ermöglicht um den Visa-Prozess durchlaufen zu können • Da die Taliban schon Teile des Landes kontrollieren wurden auch Flugtickets zur sicheren Anreise bezahlt • Die Ausreise nach Deutschland wird wo immer nötig ebenfalls sichergestellt Eberswalde/Potsdam/Kabul, 15.07.21 Militär, Polizei und Entwicklungshilfe sind zum Erfüllen der politischen Ziele zwingend auf Ortskräfte angewiesen. Oft aus Überzeugung für unsere Ziele unterstützten sie uns, meist Jahre oder Jahrzehnte lang. Nach Beendigung der Bundeswehr- und Polizeimission wächst der Einflussbereich der Taliban schnell, die in unseren ehemaligen Angestellten Verräter sehen. „Ehemalige Angestellte der Bundesrepublik Deutschland müssen nach unserem Abzug um ihr Leben bangen.“ Um so erstaunter sahen Ortskräfte und die Zivilgesellschaft wie die letzten Maschinen mit deutschen Soldaten, sogar früher als geplant, abhoben. Dass die Regierung eine Nachsorge für die Ortskräfte als juristisch nicht vorgesehen bewertet, unterstrich eindrucksvoll die Tatsache das zwar Bierdosen und Tonnen schwere Gedenksteine, nicht aber die Ortskräfte an Bord dieser Maschinen waren. Was juristisch möglich ist sollte aber nie die Leitschnur des Handelns sein. Erst die moralische Bewertung haucht dem Handeln eventuell Humanität ein. Da dies politisch nicht geschieht, springt hier die Zivilgesellschaft ein. So wurde durch die großzügige Spende einer Monatsmiete, vom Zentrum für politische Schönheit, ermöglicht bereits letzten Sonntag das Safe House BEACON (Leuchtturm) in Kabul in Betrieb zu nehmen. Ausgestattet mit zwei Bunkern und bewaffneten Wachen gibt es mittlerweile schon mehr als 90 Ortskräften Hoffnung. „Wir fordern mit Nachdruck, dass die beteiligten Stellen nun in Rekordzeit Visa erstellen damit unsere Ortskräfte sich schon bald mit Linienflügen nach Deutschland aufmachen können.“ sagt Marcus Grotian, Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerks. Wo immer nötig werden sie dabei weiter auf dem Weg in die Sicherheit unterstützt, sei es durch Flugtickets oder nötigenfalls durch Chartern von Flugzeugen. Wenn Sie denken, dass die juristische Bewertung in der Politik allein zählt, dann klatschen sie auch weiter für Pflegekräfte. Wir glauben das Anstand die Gesellschaft zusammenhält. Je mehr wir tolerieren, das politisch darauf verzichtet wird, um so mehr werden Politiker diese Gesellschaft schleifen bis hin zur Unkenntlichkeit von Moral und Werten. Jede Spende zählt. Hintergrund: 2400 erteilte Visa stehen weitere 2000 Antragsberechtigte gegenüber, die noch nicht einmal den Visaprozess starten konnten. Weitere 4000 ehemalige Ortskräfte bleiben aufgrund politischer enger Vorgaben ausgeschlossen von der Möglichkeit des Antragsverfahren, ebenso wie ca. 1000 Contractoren, wie zum Beispiel der Erbauer der Kirche im Camp Marmal, der für uns dadurch eine Todsünde begangen hat. „Was du sagst das du tun möchtest, zeigt wie du sein willst. Wie du handelst, zeigt wer du bist.“

Pressekontakt Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. Herr Marcus Grotian pr@patenschaftsnetzwerk.de

Hier ist eine Möglichkeit zu spenden: https://www.betterplace.org/de/projects/28235-unterstuetzung-afghanischer-ortskraefte-in-deutschland

  • Nachbemerkung zu diesem Blog und zur Politik

Nach drei Blogs zu Afghanistan in Folge werde ich zu anderen Themen weitergehen, die Verbindungen zu den engagierten und experten Akteurinnen und Akteuren sind einsehbar und schließlich haben es die InitiatorInnen geschafft, in die Medien zu kommen, also in die Öffentlichkeit und wenigstens Teile der Politik.

In diesen Tagen darf man – darf ich – sich nicht den spontanen Wutausbrüchen oder pauschalisierenden Angriffen auf Regierung und Bundeswehr hingeben. Das macht es nicht einfacher. Mittelfristig wird eine präzise Kritik die Politik zu Korrekturen ihres wenig humanitären, wenig empathischen und vor allem wenig pragmatischen Kurses bewegen. Teile der jetzigen Koalition, aber nicht nur, stehen unter erheblichem Rechtfertigungsdruck, nicht nur im Vergleich mit der Afghanistanpolitik anderer Länder und einer rückblickenden Neubewertung der deutschen Beteiligung an der Intervention. Neubewertung und Kritik dürfen nicht zu einer postkolonialen Schönfärberei führen, auch nicht um Wahrheitsverbiegung mit Rücksicht auf den psychischen Zustand heimgekehrter BW-Angehöriger.

Denkt daran, wenn die ewig Gestrigen meinen, dass der Zapfenstreich etwas zur Anständigkeit und Kultur der demokratischen Gesellschaft beiträgt. Ohne die Ortskräfte wären sicherlich mehr BW-Angehörige in Afghanistan gefallen.

HILFE FÜR DIE AFGHANISCHEN ORTSKRÄFTE – JETZT

Man hat den deutschen Soldaten in Afghanistan gedient. Für sie übersetzt, ihnen das Land erklärt, geputzt, gebuckelt und sich allen möglichen Gefahren ausgesetzt, um die Besatzungsarmee vor Ort stabil zu halten. Sie haben richtig gelesen: BESATZUNGSARMEE. Das war nicht immer meine Ansicht von der US-unterworfenen Intervention (Daxner 2017). So, wie die Bundesregierung und die Bundeswehr mit den Ortskräften verfahren, wird im Nachhinein vieles von dem, worüber man legitim hätte reden können, entwertet. Alkohol wird geborgen, ein Zapfenstreich wird angepeilt, aber einfachste humanitäre Prinzipien werden der deutschen Verfahrenspolitik geopfert. Im wahren Sinn des Wortes, das Leben vieler steht auf dem Spiel. Aber auch: allmählich kommt Bewegung in die deutschen Hirne, und da brauchen die keine Verdopplung von Kommentaren. Diese Bewegung ersetzt nicht Politik, sie ist die unmittelbare politische Betätigung verantwortungsbewusster Bürgerinnen und Bürger. Deshalb SPENDET für die Ortskräfte

https://www.betterplace.org/de/projects/28235-unterstuetzung-afghanischer-ortskraefte-in-deutschland

Die Aktion ist jetzt angelaufen. Bitte informiert euch über den letzten Stand der Dinge und vergesst nicht, dass der Afghanistaneinsatz Deutschlands nicht einfach auf deutsche Interessen zurückzuführen war.

Gut und wichtig zu lesen: https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-07-09/page_2.478849/article_1.5346471/article.html

Eine wichtige Überschrift: Die USA beenden ihren längsten Krieg –

Washington zieht fast alle Truppen aus Afghanistan ab. Deutsche Ehrenamtliche sammeln Spenden für bedrohte Ortskräfte.

Von Tobias Matern

*

Da ist vieles von dem drin, das uns am Vergessen hindern soll:

  • Der LÄNGSTE KRIEG der USA – und wie er sich in den letzten Jahren immer mehr in ein zweckloses Unternehmen gewandelt hat, wenn je ein verständigungsfähiger Zweck existiert haben sollte
  • Der LÄNGSTE KRIEG, in den Deutschland und andere Länder sekundär-motiviert hineingezogen wurden
  • Eine von Anfang an beschädigte und teilweise unglaubwürdige Kommunikation zwischen Regierung, Militär und Bevölkerung
  • Viele Opfer, vor allem in Afghanistan, und kaum Aussichten auf eine demokratische Stabilisierung jenseits der politischen Lager – Der Westen taugt hier so wenig wie der Nicht-Westen, oder wie die Region sonst bezeichnet wird…
  • In den wichtigen Quellen kann man viel über Afghanistan in den letzten Jahren lernen. Wer es noch nicht kennt, sollte hier beginnen: https://www.afghanistan-analysts.org/en/pubauthor/thomas-ruttig/

Aber jetzt vor allem:

https://www.betterplace.org/de/projects/28235-unterstuetzung-afghanischer-ortskraefte-in-deutschland

Literatur zum ersten Absatz: Daxner, M. (2017). A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS.

Und lest weiter:

https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-us-armee-verteidigt-heimlichen-abzug-aus-bagram-militaerbasis-a-b0ade4e6-0200-4489-8b6e-6fbd75d90835?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE (10.7.21)

WICHTIGES POSTSKRIPTUM:

Heute Nacht erreichte mich ein Freund und Kollege aus den amerikanisch-afghanischen Tagen, der sich von New York aus um das Schicksal der jetzt nach dem Abzug gefährdeten akademischen Welt, v.a. der Professorinnen und Professoren, sorgt. Es ist dieses ein Sektor, der tatsächlich in den letzten Monaten im Schatten lag, weil es hier weniger direkte Brücken zu den ISAF und RSM Militärs gab, indirekt allerdings schon. Wer dazu etwas weiß oder helfen will, melde sich bitte bei mir. Danke