Dass wir in Deutschland IM KRIEG sind und uns nicht einfach davor hüten, IN DEN KRIEG zu geraten, ist ein umstrittener und bestreitbarer Satz. Oft wird darüber gestritten oder diskutiert, wo die rote Linie ist, die, wenn überschritten, uns zur Kriegspartei macht. Das sind einmal klügere, einmal flachere Diskussionen, bei denen eines fast immer zu kurz kommt: die Antwort auf die Frage, wer sind WIR? In einer ausführlichen Auseinandersetzung um diese Antwort, im Kontext des Kriegs um Afghanistan, habe ich mich damit auseinandergesetzt. (A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions, Oldenburg 2017, v.a. S. 32: „Wir“-Deutschland, Deutsche, Beteiligte an Politik oder Militär, NATO Mitglieder o.ä., moralisch oder kulturell als Gemeinschaft usw.). Wer hier von einer Definition zur nächsten springt, kann viel Unsicherheit und Verwirrung, aber auch Fehldeutung verursachen. Nun habe ich seit Monaten nicht kommentiert, was die einzelnen Narrative zur deutschen Rolle bedeuten, weil ich einiges schlicht nicht weiß UND weil es zu dieser Verunsicherung beiträgt, sich im „Wir“ zu verorten. Wer bin ich, mich dazu wem gegenüber zu äußern, „Öffentlichkeit“ ist da zu unscharf. Aber ich will mich zu einigen Aspekten der mich, uns, umgebenden Kommentare äußern, weil sie über den Krieg hinausgehende Bedeutung und Wirkung haben.
Nach einem Bundesligatag gibt es geschätzt 1 Million sachkundiger Schiedsrichter, die die Ergebnisse bewerten und korrigieren. Das überbrückt die Schlucht zwischen Laien und Experten, belebt den Stammtisch und den Konsum. Seit Beginn des Kriegs von Russland gegen die Ukraine gibt es von mir geschätzt ca. 5-10 Millionen Militärexperten (die meisten männlich), deren Kommentare mich an die 60er Jahre erinnern, wo ich im Lateinunterricht und auch sonst häufig zu Stalingrad und den ruhmreichen Aktionen der Wehrmacht informiert wurde. Woher diese Experten ihr Wissen haben…? Medien reichen dazu so wenig wie die private Entzifferung der Fake News. Ich bleibe dabei, dass humanitäre Hilfe in beschränktem Maß sinnvoll und möglich ist, dass sollten alle aktiv machen, und dass die eigene Meinungsbildung erst dann aus sich heraus gehen sollte, wenn es eine Schnittstelle zur Politik gibt.
Interessant sind für mich einige Diskurslinien, die auf den ersten Blick nicht gleich zu erkennen sind. Eine ist die globale Faschisierung, die die Demokratie in vielen Ländern zurückdrängt, und einen massiven Hintergrund der nationalen gesellschaftlichen Einstellung zur Kriegswirklichkeit bildet, aber je nach Opportunität verkleinert wird (Faschistische Regierungen in der EU, bzw. starke faschistische Kräfte in den Mitgliedsländern; faschistische Bewegungen unterschiedlicher Art in der Türkei, in Israel, in…die Liste ist lang, auch die rechtsradikalen evangelikalen Bewegungen in den USA spielen hier ein Rolle, wie Religion überhaupt, und der Widerstand der Demokratie, die in Gefahr ist). Diese Faschismusdebatte muss geführt werden, damit wir neben und um den Krieg Russlands gegen die Ukraine herum nicht die globalen Wirkungen der Asyl- und Rettungsfeindlichkeit der sich bildenden Festung Europa übersehen, die wiederum von einigen der genannten EU Mitglieder, Italien, Ungarn, Österreich etc. missbraucht werden, auch wenn diese zumeist die Position Brüssels gegen Moskau stützen, aber nicht selten um den Preis der Nachgiebigkeit gegenüber anderen Verfehlungen (Klima, Justiz, Asyl).
Ein anderer Aspekt ist die Fortsetzung des Kalten Kriegs in die schlechte Unendlichkeit hinein. Man kann die Debatte um Habermas´ Verhandlungsappell (SZ 14.2.2023) und sein neues Buch und seine Kommentare zum Krieg als nicht abstrakten Disput lesen, den ich den Kampf der Wirklichkeit mit Wahrheiten unterschiedlicher Grundlage nenne: Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022, Suhrkamp. Da schließen sich viele kritische Kommentare an (zB. Cohn-Bendit und Leggewie TAZ 14.2.2023), besonders klar der letzte Artikel: Peter Neumann: Seine Sorge, ZEIT 23.3.2023, S. 51. Da ich Habermas sehr schätze und seit Jahrzehnten auch lese, umso wichtiger: es geht doch nicht darum, dass irgendjemand Nachdenkender NICHT VERHANDELN möchte, sondern darum, WER das mit mit welcher Legitimation sein kann und welche Folgen das haben kann für die angegriffene ukrainische Gesellschaft – dort sind die gemordeten Toten, Vergewaltigten, Zerstörungen, nicht hier – und welche Folgen es für UNS hat, siehe oben, wer sind wir? (Diese Fragen wurden bei der so genannten Friedensdemonstration von Wagenknecht und anderen im Rechtsmittlinks-Bündnis am 25. 2. nicht gestellt bzw. beantwortet). Und alle, die verhandeln wollen, – richtig – sollen wenigstens vorschlagen, WER das tun soll, und nicht nur Institutionen nennen, wenn überhaupt.
Die vielen und genauen Berichte und Schilderungen des Erlebten, Durchlittenen kann man auch, auch!, überprüfen wollen, aber zunächst gebietet es die Ethik, ihnen mehr zu glauben als den staatlichen, „von oben“ geprägten Informationen: in dem Glauben steckt auch unsere Moral, unsere – siehe oben.
Dass dieser Krieg auch Opfer von uns verlangt, nicht einfach die finanziellen der Verteidigungswaffen, sondern soziale, ökonomische, kulturelle…bedeutet nur, dass wir über diesen Krieg wissen müssen, um handeln zu können. Meinungen reichen nicht aus.
Wenn wir auf die Zukunft einer freien UND befreiten Ukraine setzen, und auf ein von russischem und anderem Druck befreites Europa, dann ist der erste Schritt immer der von der Meinung zur Politik, d.h. in die Praxis der demokratischen Willens- (und nicht nur Meinungs-)bildung und das fängt nicht nur bei uns immer bei den konkreten Problemen des Überlebens an, Klima, Ernährung, Grundrechte im Konkreten – nicht nur so allgemein.
Dann (und nur dann?) erlangen wir das Wissen, das uns auch erlaubt, mitzureden.