Jüdischer Einspruch: Mayday. M’aidez!.

Der Notruf hängt über allem, wie eine dunkle Wolke. Über die Hilferufe hinwegzuleben, ist ebenso notwendig wie schwer erträglich.

Viele, vor allem in Politik und den Medien, wollen die Welt schwarz – weiß sehen, damit die Entscheidungen für oder gegen einen Partner, eine Kriegspartei oder eine Lebensentscheidung eindeutig sei. Man muss über den Wert der Eindeutigkeit aber einmal nachdenken, bevor man sich ihr stellt.

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Nicht nur Selenskyj auf der einen Seite (weiß), oder Putin und Kyrill auf der anderen (schwarz) verlangen diese Eindeutigkeit. Damit liefern sie, unbeabsichtigt, Munition der Gegenseite, weil die bloß in die Geschichte schauen muss, um die Flecken auf dem Kleid des Gegners auszumachen. Das wiederum nutzen die Unaufrichtigen udn Zögerer, um von Außen den Kontrahenten immer die Schuld am Grauen gleich zuzuschreiben: der Westen hat Russland dazu getrieben…die Ukraine hat eine dunkle Vergangenheit im WK II, … Putin verteidigt nur eine große Kultur….wir unterstützen die Ukraine, aber nicht ohne russisches Öl, das den Krieg der Russen finanziert….

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Schwarz, aber nicht weiß.

Slava Ukraini is no longer the a slogan of the perpetrators of anti-Jewish violence; it is a slogan of a country defending liberal democratic values, whose president is a descendant of Holocaust survivors

(Magda Teter: Rehearsal for Genocide, NYRB 9.6.2022, 15-16)

In dieser Rezension dreier neuer Geschichtsbücher endet eine Abhandlung über die Pogrome in der Sowjet-Union und der Ukraine im 20. Jahrhundert, und keineswegs wird hier eine oder die andere Seite weißgewaschen. Aber der letzte Satz ist nicht nur Programm, er zeigt auch die Veränderung: Slava Ukraini war der Schlachtruf der Ukraine im Bestreben nach Unabhängigkeit 1914, und dieser Ruf hat auch die ethnisch inspirierten Pogrome der frühen Jahre nach 1918, im ukrainisch-russischen Krieg befeuert. Die neue Sowjet-Union hat sich dagegen gestemmt, oft selbst die Juden in Schutz genommen, was später bei den Nazis den Begriff der „jüdisch-bolschewistischen“ Politik hat entstehen lassen (vgl. auch umfassender https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdischer_Bolschewismus).

Dass Putin heute antisemitisch und antijüdisch argumentieren lässt, v.a. durch Lawrow) und dass die christlichen Kirchen darüber gespalten sind, muss genauer studiert werden, damit es nicht entschuldigend aus der Geschichte „erklärt“ wird, wo der sowjetische Antisemitismus dann ausgeblendet würde. Nein, das ist schwarz, ohne die Ukraine weiß zu waschen. Wozu auch, sie ist eindeutig in diesem Zusammenhang aufgehellt.

Die drei Quellen der Rezension sind Elissa Bemporad, Jaclyn Granick und Jeffrey Veidlinger. Seriöse Verlage.

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Die Enthistorisierung zur Rechtfertigung der Gegenwart ist eine beliebte Methode, zumal wenn sie sich der Geschichte selbst bedient. Lawrow ist ein unmoralischer und böser Politiker, aber nicht dumm. Wenn er sagt  „Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind“ (Mai 2022), dann steckt dahinter wieder ein schwarz-weiss-Muster, das angetan ist, an sich gegnerische Kräfte hinter dem antijüdischen Diktum zu vereinen. Versucht einmal, ein richtiges Gegenargument rhetorisch schlagkräftig zu entwerfen….

Eine Lehre aber ist für die Politik daraus zu ziehen: man kann auf der „weißen“ Seite sein und die „schwarze“ bekämpfen, ohne dass die Welt dazwischen sich einem anschließt (d.h. sehr hart: wenn man ein Opfer retten will, darf man nicht zuerst die guten und schlechten Seiten des Opfers abwägen, bevor man es rettet. Oder man rettet gar nichts als sein eigenes Selbstbewusstsein).

P.S. Drei Stunden nach diesem Blog lese ich Jürgen Link: „Die affektive Seite des binären Reduktionismus“. Link hat die KultuRRevolution gegründet, jetzt, in Heft 82, schreibt er zum gleichen Thema mit der selben „schwarz-weiß“ Argumentation. S.11. Das freut mich, weil wir selten einer Meinung waren, u.a. zu Afghanistan. Und es freut mich, das das Problem offenbar nicht vergraben und unzugänglich ist.

Ärmer werden

“Free speech is essential to a functioning democracy,” Elon Musk declared in his bid for Twitter, as if this shallow assertion were self-evident. What is more evident is that the “absolute free speech” embraced by robust libertarians like the Tesla entrepreneur is a key driver of dysfunctional democracy. (Nathan Gardels, Noema Editor-in-Chief)

(Noema Magazine, 28.5.2022, Beggruen Institute)

Nun ist es nicht schwer, den Tesla-Chef in seiner Ambivalenz zu packen: Hier der innovative, techno-soziale Kämpfer an der Zukunftsfront – Autos, Raketen, Digitales – andererseits eben „neoliberal“ + Trumpist. Wenn man den Jubel über das Teslawerk in Brandenburg abschwächt, kommt genau diese Dimension der dysfunktionalen Demokratie zu Vorschein. Und wie die Innovation verkauft wird, zeigt das Problem der Kommunikation ohne die Öffentlichkeit (Communication without community trifft es besser). Denn diese Öffentlichkeit, d.h. auch das WIR, ist nicht beteiligt. Ein klassischer Fall für die politische Ökonomie, wo die Wirtschaft und die Politik in ein und derselben Institution getrennt werden. Arbeitsplätze und Umsatz gegen Freiheit und Umwelt.

Dazu brauche ich nicht Elon Musk. Christian Lindner und seine Truppe in der FDP sind gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen, obwohl das gegen CO2  hülfe; sie sind weiterhin für die völlige Zerschlagung einer ohnehin maroden Bundesbahn; sie sind vor allem für einen Freiheitsbegriff, der ausschließt, also nur denen Freiräume schafft, die sie auch besetzen können. (Vulgär ausgedrückt: was nützt mir Freiheit, wenn ich keine Gelegenheit habe, sie zu leben?).

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In der derzeitigen Krisenvielfalt driften die Lebensumstände auseinander. Von den Maskenfirmen und Covidtestern bis hin zu den Waffenherstellern profitieren die einen, die anderen – die Mehrheit – verliert an Wohlstand. Nun könnte man sagen, das ist in einem reichen Land wie dem unseren nicht so schlimm wie in den ärmsten Gesellschaften, wo der Abstand zwischen den Reichsten und den Ärmsten noch größer ist. Das stimmt aber so nicht, weil unterhalb einer bestimmten Armutsgrenze der Vergleichsmaßstab nicht mehr anwendbar ist. Wir sind eben nicht in der Sahelzone.

Und die Abwendung der Armen von der Politik ist nicht trivial. Ohne seine politischen Positionen generell zu teilen, finde ich Christoph Butterwegges Begriff der „relativen Armut“ und seine Ausführungen dazu wichtig. Und ich finde es bedenklich, wenn die Analysen der NichtwählerInnen nahelegen, dass sich von dort das Gros der populistischen Nichtdemokraten rekrutiert, besser der Anti-Demokraten. Und die beruhigt oder gar konvertiert man nicht mit den beliebig kleinen oder größeren Sozialzuwendungen. Für manche Familien können 50 oder 100 € tatsächlich Hilfe bedeuten, für viele ist es der Hohn der Henkersmahlzeit vor dem Absturz. Der würde auch durch eine Vervielfachung dieser milden Gaben nicht gebessert, solange die Abstände nach oben, zur Freiheit unter dem Lindnerbaum, nicht verringert oder tatsächlich überbrückt werden (à Steuerreform, Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer etc.).

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Erst wenn hier umgesteuert wird, kann man erwarten, dass sich das Gros der Ärmeren auch der Klimapolitik, auch der Armutssolidarität stärker zuwendet. Und das bedeutet, dass auch unser persönlicher, individueller Wohlstand abnehmen wird, abnehmen muss…der „relative Reichtum“, in dem wir leben. Mit Spenden allein – bitte bleibt dabei! – ist das nicht strukturell getan. Und natürlich ist das nicht nur Lindner und seine „freien“ „Demokraten“, da sind fast alle im politischen Establishment beteiligt. Und vergesst nicht, die Kosten kommen erst, wenn sich die Zeiten des Kriegs ausdehnen und der Nachkrieg die wirkliche soziale Struktur sichtbar macht. Ich bin keine Kassandra, deshalb denke ich, wir können das tatsächlich schultern. Aber nicht mit Zeitenwendegebrabbel. Grüne Sozialpolitik kann das beweisen, dass es geht – in der Demokratie, allerdings, nur dort. Und da sollten die Angriffe auf die Scheinfreiheit Widerstand finden. Nur die Meinungsfreiheit, ist noch keine Befreiung aus der Unfreiheit der Machtausübung.

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Ich predige keine Askese, keine selbstgewählte Armut als moralische Vorzeigehaltung. Das wäre Quatsch. Aber 1,5° und ein Ende der russischen Aggression und ein Ende der chinesischen Diktatur und ein Ende von Orban und ein Ende von Erdögan und noch viele anderen Enden lassen sich nicht durch Wachstum & Freizeit herbeiführen. Und auch nicht durch die gespiegelte autoritäre Gegenpolitik, die sich mit rhetorischer Legitimität auf die gleichen Mittel wie die Schurken stützen würde. Man nimmt Krisengewinnler in Kauf, aber nicht den Profit aus den Dauerkrisen. Deshalb sollte Demokratie immer funktional bei den Menschen ankommen und nicht nur gepredigt werden. Funktional heißt: da wird gehandelt und nicht geglaubt.

Literaturempfehlung: Michelle Nijhuis: Must we Grow? NYRB LXIX, 12-14. 2 wichtige Rezensionen: Leidy Klotz: Subtract: The Untapped Science of Less, und J.B.McKinnon: The Day the World Stops Shopping.

Typisch deutsch

Die Kehrseite des nationalen Bewusstseins ist die Wirklichkeit. Deutschland, der Bremsklotz? Aber nein, hinten nachhängen erlaubt dann umso mehr Beschleunigung beim Überholen.

Allerdings: was wäre das Gegenteil von nationalem Selbstbewusstsein, Germany first! oder eben über alles, nicht über allem? Ich habe immer gesagt, einfach: Kosmopolitismus, kompliziert: Wiederherstellung des Primats der Politik über die Ökonomie. Aber schon die Diskussion der Frage stößt auf den geklumpten Widerstand von Unternehmen, Gewerkschaften, dem Milliardär- und Millionärspöbel, und vieler Intellektueller, die ihre geistige Unabhängigkeit durch soziales Engagement in Gefahr sehen. Tja, schimpf nur, sagt der deutsche Michel und streicht sich über den Bauch. Außerdem ist die Lebenserwartung dort niedriger! Wenn ich das Nachhinken in der Digitalisierung beklage, hält mir die Kultur entgegen, soviel digital ist ohnedies ungesund und obendrein hackeranfällig; wenn ich die deutsche Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine wegen der Öl- und Gasrechnungen auch nur erwähne, werfen sie mir vor, ich wolle, dass den Landsleuten kalt wird und die Wirtschaft zusammenbricht. Ich kann sagen, was ich will, es wird immer gegen die strahlende Aureole des zu verteidigenden Heimatlandes aufgerechnet.

Denn unser Max bleibt unser Max:

…Den Max darfst du nur loben, weiter nichts!
Denn unser Max bleibt unser Max!
Zwar, wer was sagen will, na der sag’s
Jedoch nur Gutes, denn ansonsten sieh dich vor!
Auch wenn Max dumm ist oder schlecht
Der Max bleibt Max, drum hat er recht
Und wer einen Witz macht, der hat keinen Humor!

(Geworg Kreisler, Max. Ein kleiner Ausschnitt)

seht ihr, schon entschuldige ich mich bei mein 5 Freunden, die auch Max heißen, obwohl es sich bei Kreislers Max um jemand anderen handelt. Ich beuge mich der Deutschen Erfolgsbilanz, pardon, ist ja nur beobachtet, nicht so gemeint. Denn es gibt ja wirklich viel gutes in unserem Land, nicht wahr? Wahr ist auch, dass es anderswo schlechter zugeht, dass andere ärmer sind (im Durchschnitt), dass andere weniger Bildung, Einfluss und Ansehen haben (im Durchschnitt).

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Nicht einmal ich bin so blöd, die einfachen Rückständigkeiten des mächtigsten Landes in Europa so klischeehaft zu verbreiten. Aber ich bin ehrlich genug zu zeigen, wie nah an der Oberfläche diese Erscheinungen ihr Unwesen treiben. Sie sind eben nicht die Folge ethnischer, völkischer, kultureller Rückständigkeit, sondern Folge einer Politik, die Herfried Münkler zutreffend als 30 Jahre „sowohl – als auch“ bezeichnet – und von der ich sage, das ist nur so lange gut gegangen, weil wir uns das leisten konnten – und andere nicht, bzw. auf deren Kosten wir so weiter machen wollen. Wir, das ist eine Politik, von der viele nichts halten, gegen die aber noch mehr Menschen nicht viel unternehmen.

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Angesichts des angezählten Klimatodes dieser Erde, also der Welt, ist vieles, das sich als Politik tarnt, purer Zeitvertreib privilegierter Köpfe in ihrer Blase. Das ist auch ein Argument für die Gelbwesten. Auch. Aber nicht nur. Ich habe das Gefühl, manche sitzen an einem Spieltisch und haben über der x-ten Runde eines anspruchsvollen Computergames die Welt um sich in die Grauzone der Unaufmerksamkeit gedrängt. Und das hat mit Deutschland nichts oder nur wenig zu tun.

Zeitenwende, wie sie der tatsächliche retro-orienjtierte Scholz nicht versteht, heisst auch, dass wir uns unserer Geschichte wirklich stellen müssen, d.h. nicht nur profitable, sondern auch schmerzhafte Lehren aus ihr zu ziehen. Ja, der Hiutler Putin Stalin Vergleich haut hin. Bitte schön, ja, aber Hitler war ja nicht „die“, sondern auch „wir“ (nie alle, ich weiß). ASls wir 1968 ernsthaft, mehrheitlich unter den Studis, festgestellt haben, der Faschismus sei noch nicht zu Ende, wurden wir (mehrheitlich) beschimpft und v.a. von den Konservativen ausgegrenzt. Da war Willy Brandt noch nicht Kanzler, bei ihm gab es wirklich eine Zeitenwende. Hin zur Demokratie und weg vom Globke-Kompromiss (Israel!), weg vom Gehlen Kompromiss, weg der eigenen Geschichte. Danach lief es ja wirklich besser. Aber dass die 15-15% Nazis bei Reps, NPD, AfD kein „Neuanfang“ unter neuen Vorzeichen sind, sondern dass es mit versäumten Neuanfängen zu tun hat…schwer zu diskutieren. Wenn ich heute für eine Europa-Armee außerhalb der NATO plädiere, werde ich wie verrückt angeschaut, weil wir und die USA doch…ja was? durch westliche Werte oder die Nuklearbewaffnung oder die – ohne Ironie herrliche West/Ost-Küsten verbunden sind? Oder alles drei, aber: spielen wir dabei eine wirklich bedeutsame Rolle? So wenig, wie 20 Jahre lang in Afghanistan. Ein kleine reiche Mittelmacht, da capo al fine, aber über den Anfang.

Was ich damit sagen will, ist klar: bei unerfreulichen Alternativen muss man=wir, das Volk – sich dennoch demokratisch entscheiden, der Mittelweg – siehe oben – bringt den Tod (Alexander Kluge) (oder wir sind, schon bevor wir angegriffen werden, im Krieg. Die Menschen in der Ukraine sterben, auch mit unseren Devisen).

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Was daraus folgt? erst einmal wiederhole ich mich spenden, aufnehmen, helfen. Das ist klar, aber noch nicht die Adelung der Politik. Dann aber: schon die Geschichtslektion gegenüber a) den nuklearen Diktaturen R&C und b) dem völlig gespaltenen Patron USA gegenüber sollte nicht gelernt werden (folgenlose Didaktik), sondern Konsequenzen haben. Die Brückenrüstung der Ukraine ist ok, denke ich, aber keine Lösung. Die beginnt wo anders, bei der ERevision unserer Demokratie, und die wiederum geht nur, wenn das gehoben und unschädlich gemacht wird, was noch behindert, und nicht, was in hunderten Gedenkstätten und Büchern immunisiert (wird).

Mit den Diktaturen ist es paradox einfach und trotzdem schwierig. „Warum fällt es Deutschland so schwer, von einem faschistischen Russland zu sprechen?“ fragt Timothy Snyder im SPIEGEL 22, S. 52 ff. und er analysiert ganz gut die letzten 150 Jahre. Ein Absatz ist mir da besonders wichtig: „Unausgesprochen bestand die Voraussetzung der Ostpolitik darin, nicht über die Ukraine zu sprechen, dem eigentlich zentralen Thema der Erinnerungspolitik (MD: in diesem Zusammenhang, nicht „an sich“). Snyder bezieht da unter anderem auf die doppelte Kolonialisierung. Und danach orinetierte sich die Ostpolitik auf Moskau, und so gut wie nicht auf Kiew.

Aber das wissen wir, es spielt nur in der Politik keine Rolle, in der Bildung und kritischen Kultur wenigstens eine gewisse. Snyders Abschluss hätte auch Scholz sagen können, hat er aber nicht: „Deutschland hat die Chance, mit seinen kolonialen Traditionen zu brechen, und die Chance, im Krieg gegen die Faschisten endlich auf der richtigen Seite zu stehen. Die deutsche Demokratie braucht das, und wir anderen (nicht nur die Ukrainer) brauchen die deutsche Demokratie“. Es ist nicht schwer, dem zuzustimmen, aber schwierig danach zu handeln. Und im übrigen ist dieser Teil der Kolonialgeschichte völlig aus dem Blick geraten.

Und die USA? Ich werde dauernd kritisiert und oft beschimpft, weil ich die USA nicht in den Topf China-Russland werfe, und das Sündenregister der USA ziert dann die Korrespondenz. Meine Amerikakritik lässt sich zwar sehen, aber sie dringt nicht durch. Ambiguität ist nicht das Metier des Sowohl-Als auch. Zu meiner großen Freude hat Jill Lepore nicht nur den Hannah Arendt Preis 2021 bekommen, sondern gestern live, zusammen mit Juri Andruchowitsch, Preisträger 2014, diskutiert.

(Vgl. Hannah Arendt Preis für politisches Denken, 3.12.2021, http://www.hannah-arendt-preis.de)

Da spricht sie über die USA. und über Spaltung einer Gesellschaft, die kein gemeinsames Verständnis von Demokratie erlaubt. Eine Grenze ist undurchdringlich: Abtreibung ist Mord und Gewehre bedeuten Freiheit ODER Gewehre bedeuten Mord und Abtreibung symbolisiert Freiheit. Es ist sofort klar, dass es hier keinen Mittelweg gibt (siehe oben). Sie zeigt auch andere Grenzen auf, etwa bei „News“ und Fakten, Fox versus demokratische Medien usw., und sie vergleicht 1939 und die durch FDR geeinte Nation. Ich frage (mich), was die Bindung und Allianz mit so einem „paralyzed giant“ für uns bedeutet, und nicht wie wir die bestehende Bindung ausgestalten. Und Andruchowitsch ergänzt, dass Russland seine abgespaltenen Demokratie nicht freilässt, was die EU umgekehrt selbst dort zu8lässt, wo es nicht mehr um Demokratie geht. (Und ich frage mich im Kontext, wie wir das im Verbund mit den USA politisch weiterentwickeln).

Wir haben vergessen, wie wenig Mut es bei uns braucht eine Meinung zu haben sie zu äußern. Belarus und Russland zeigen uns, was der Unterschied ist – wobei es auch für mich schwerer als vor 30 Jahren ist, aus den USA Material und Fakten zu beziehen, um hier an der Demokratie und Kultur zu arbeiten; was bei Russland immer schon die Parteinahme für eine Spaltungsseite bedeutete, seit meiner Arbeit mit Novosibirsk 1998).

Hier schließt sich der Kreis: Befreiung, nicht Freiheit, als praktisches Feld unserer Politik verlangt auch von uns die Aufrichtigkeit gegenüber dem, wie wir so geworden sind, und nicht bloß die Entscheidung, für wen wir und warum mehr Empathie wahr machen.

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Hier geht es nicht um Ost-West, nicht um die Ukraine unter Russland, oder um Russland und die USA. es geht erst einmal um uns selbst, damit wir wissen, von wo aus wir handeln.

Habeck hat Recht. Was tun?

Habeck hat Recht, aber was folgt?

So einfach ist es nicht, Recht zu haben und Politik zu machen und die Menschen dabei mitzunehmen.

Robert Habeck hat das in Davos deutlich gemacht: Man kann Globalisierung nicht einfach rückgängig machen – man kann das nicht, ob es manche wollen oder nicht – und man kann Nationalismen nicht als  Gegenmittel zu ökonomischen Abhängigkeiten und Erpressungen benutzen. Das Gegenteil von Global ist ohnedies nicht national, sondern lokal, und die Dialektik der Glokalisierung ist schon ganz gut aufgearbeitet (In einer ganz guten Zusammenfassung Glokalisierung – Wikipedia wird auch Zygmunt Bauman erwähnt, der mich schon vor Jahren auf das Problem und den Begriff gebracht hatte).

Rein ökonomisch scheint es, als gäbe es algorithmische Möglichkeiten, mit hoher Effizienz die globalen Anstrengungen, um profitable Vernetzungen und Lieferketten zu reduzieren – ob nun Klima, Hunger, Bevölkerung oder Artenvielfalt im Fokus stehen. Es scheint so. Weil sinnvollerweise Wirtschaft allein nicht die Strukturen hergibt, und eine politische Ökonomie gefordert wird.

Die muss sich aber damit auseinandersetzen, dass sie allerorten und weltweit auf große und weniger große Diktaturen stößt, auch immer im eigenen Einflussbereich: wir in der EU haben Ungarn und andre an der Backe, Europa die Atomdiktatur Russland, in der so genannten „Westlichen“ Hemisphäre haben wir nicht nur die waidwunde USamerikanische Demokratie im eigenen Lager, den „Osten“ gibt es gar nicht, aber er wird gleich von zwei Tyranneien unterschiedlicher Machart und vielen kleineren bestückt. Und etlichen auch waidwunden Nationalismen.

Unsere Insel ist kein Staat mehr, was sich national profiliert, wird am Versagen eher als an einem Erfolg gemessen, das gilt für Größere wie Deutschland noch mehr als für die Kleineren. Unsere Insel, deren Ufer die Demokratie verteidigen wollen und sollen, ist natürlich bedroht, und was Russland betrifft, so sind wir im Krieg, der hat nur unseren nationalen Boden noch nicht mit Kampf betreten.

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Die allgemeine Glokalisierungstheorie lässt uns an die Gesellschaft denken, die spezielle an unsere Kinder und Enkel. Den Kapitalismus wird man weder durch beten noch durch elitäre Lokalökologie los, wir können Zusammenhänge nicht durch gut gemeinte Analyse zum Einsturz bringen. Aber der globale Kapitalismus ist eher ein Imperium als eine Nation; Imperien haben die Eigenschaft, mehr oder weniger dichte Machtstrukturen aufzuweisen, und jedenfalls sind demokratische Bewegungen eher geeignet, lebbare Alternativen zu schaffen, auch wenn es dabei um einen Abbau von Wohlstand, Mobilität, Lebenskunst geht.

Unabhängig von der Globalisierung dürfte weiter gelten, dass die „Sieger“ aus bewaffneten Konflikten meist eine Periode größerer Armut durchmachen, wenn sie die nicht mit Beutegut kompensieren. Die „Verlierer“ werden deshalb nicht reicher. Das ist kein Hoffnungsschimmer für Russland, aber WIR werden die Ukraine wieder aufbauen (müssen, dürfen, können), und das wird im globalen Kontext vielleicht nicht so wichtig wie unsere materielle Verarmung durch Klima, Flüchtlingsströme und nationale Alleingänge. Auch sollten wir nicht vergessen, dass der Pöbel sich gegen jeden Klassenausgleich stets durch Brot und Spiele hat gängeln lassen, trotz Marx und seiner Klassenanalyse.

Und wenn die ernsthaften Klimaprognosen stimmen, wird die globale Armut zunehmen und auch unsere demokratischen Inseln nicht verschonen, das wird nach der Habeck-Voraussicht auch die dringend benötigten weltweiten politischen Regeln beeinflussen müssen. Und wer von uns wird sich retten können und so oben bleiben, wie wir sind? Die Neoliberalen hoffen, dass sie es sind. Unsinn. Der gerechte Ausgleich wird auch innere Gewalt und eine Einigung erfolgen, die die Demokratie erst einmal weiter entwickeln muss, um die Gewalt einzudämmen.

Wenn Globalisierung bleibt und sich in Glokalisierung ausdrückt, dann ist es umso wichtiger, mit Stärke gegen die Nationalen vorzugehen (incl. NATO „Partner“ Erdögan, Orban & Consorten) und uns Europäer nicht in einem Bündnis sehen. Nur ein sehr viel stärkeres Europa wird als Verhandlungspartner wirklich ernst genommen werden, und ist doch lokal angesichts des Globalen.

NACHSATZ:

Das ist kein Feiertagsausflug eines Lokalredners in die große Politik. Es ist das Inhaltsverzeichnis einer Regierungserklärung, wie sie Habeck und Baerbock & schreiben könnten. Vielleicht hätte ich, wäre ich damals schon am Leben gewesen, 1914 oder 1933 oder 1939 oder …mich so gefühlt wie jetzt: das zu beobachten, was einem selbst (noch) keine Schmerzen macht, aber schmerzt. Aus diesen Gefühlen kann und soll man nie Politik machen, sie sind eher ein Weckruf.

Epi & Pro Blem

Wer nicht mehr in die höhere Schule geht, weiß nichts mehr mit Epimetheus anzufangen, und eine Prodemie hat die WHO auch nicht ausgerufen. Die Politik der Vorsilben hat ihre eigenen Gesetze, nur lachen soll man nicht über alle Sprachspiele. Oder sich wundern.

Seit Jahrhunderten kämpfen die religiösen Klemmchauvies gegen die Prostitution, aber zur Epistution haben sie es noch nicht gebracht, und im Gottesdienst steht der Epistel noch keine Prostel gegenüber; beim Heurigen sagt man übrigens auch Episit!

Aber natürlich ist der Gebrauch von Vorsilben auch taktisch, ich habe ein medizinisches Pro Epi Institut entdeckt. Und Davor/Danach hat ja alltäglich oft seinen Reiz, erotisch wie politisch.

Es gibt 45 griechische und 43 lateinische Vorsilben, von den langweiligen deutschen rede ich gar nicht, aber die antiken haben wir zielgerichtet übernommen. Und profitieren davon.

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Auf diese krummen Gedanken bin ich auch gekommen, weil die Pandemie zur Epidemie heruntergestuft wurde und es noch keine Prognose für die Prophylaxe gegen die Affenpocken gibt. Zum Phylax, dem Beschützer, gibt es viele Vorsilben, aber den anaphylaktischen Schock wollen wir doch nicht in den Alltag übernehmen, da wäre pro- schon besser, ist aber nicht: Texasmassaker durch die progressive Constitution der USA.

Wir werden die Umgangs- und die Hochsprachen nicht mehr so schnell durchleuchten, sie verändern sich scheinbar unbemerkt, aber dann doch nicht, wenn sich Worte und Begriffe einschleichen und andere verschwinden.

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Seit Wochen kämpfe ich gegen die Besprechungssucht des Kriegs der Russen gegen die Ukraine. Diese Abhängigkeit von den Bildern und Kommentaren dessen, was alle aus den Nachrichten wissen können und dann bedenken, nicht bereden müssen, ist die eine Seite. Die andere gibt es auch: die völlig unangemessene Nazisprech der russischen Führung hat eine Geschichte, die spätestens 1943 real wurde. Das sollte und muss man besprechen, und dann auch die Politik von Polen mit, für, gegen die Ukraine erkunden, und die Politik mit, für, gegen die Russen und die Deutschen in den Kontext e3inbringen, – bevor man dazu etwas haltloses sagt. (man kann dazulernen: Ukraine-Polen: Die Grenze der Solidarität – arte | programm.ARD.de (24.5.2022, 21.05). Was hat das mit Vorsilben zu tun? Nichts, und mit unserem Politsprech viel. Pro und Contra sind beliebte Überschriften von Zeitungsdiskussionen, auch Pro und Anti treffen sich bisweilen, aber Prokorruption wird in der Politik nicht so genannt, sondern die Versöhnung von Ökonomie und Moral. Und dem Antisemitismus steht kein Pro- entgegen, sondern Philo-Semitismus, das ist vorgetragene Freundschaft, die meist nicht echt ist.

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Genug der spontanen Philologie. Die Epidermis juckt, und Epimetheus beherrscht die Zeit.

Frühlingserwachsen

Schön wärs, wenns ein Druckfehler wäre.

Der Mai schwindet schnell dahin, der Frühling ist trocken, man begrüßt jeden Regentropfen, aber es deutet sich an, was wir wissen. Keine Zeit für Müdigkeit?

Weil Krieg ist und weil das Unvorbereitete immer auch die Wahrnehmung des Un- und Unterbewussten schärft, reagieren die Menschen auf mehr als nur Covid, Affenpocken, und die Politik. Nervosität ist zu einem Alltagshabitus geworden, außer für die, denen Lethargie gerade recht kommt.

Man schaut nicht ungerührt, aber unangerührt, auf die Folgen des Kriegs für die und in der Ukraine. Zehntausende Tote, Städte, Einrichtungen, Verkehrswege zerstört, und man redet von Wiederaufbau, als ob er gewiss und in Reichweite wäre, also die Ukraine einen Verteidigungskrieg bald gewinnen würde und Russland seinen Angriffskrieg verloren geben müsste. Die Flachen flüchten sich in Putins Krankheit oder die russische Regimewechselclique, die Informierten kommentieren sich um ihre Stimme. Die Normalen versuchen weiter zu helfen, die Schlagzeilen sind längst wo anders, in Davos, im Budgetausschuss, bei den wenigstens Sichtbaren im Regime.

Keine Angst: ich wende mich nicht der Kriegsberichterstattung zu, weiterhin. Sie erscheint mir für viele ein Ausweg aus dem Dilemma, im Krieg aber nicht im Kampf zu sein und zugleich sich ablenken zu lassen, weg von der Wirklichkeit.

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Kann man das alles überbrücken, die reale Perspektive einer erodierenden Evolution unserer Gesellschaften und das, was uns in Wahrheit helfen würde, die grauenvollen Vorboten abzuwenden: Klima, Hunger, Weltkrieg, Verblödung? Wiederum keine Angst: es bleibt uns eh nichts anderes übrig, oder?

Unausgeschlafene Kämpfer und Kämpferinnen für die Freiheit schießen daneben. (für uns geht es um mehr Freiheit, für die meisten erst einmal um Befreiung)

Unwissende straucheln nicht beim Angriff, sondern bei der rettenden Flucht (man muss die Karten lesen können!)

Eines teilen wir mit den Unterdrückten und Bedrückten: die Notwendigkeit des nächsten Tags, das muss Alltag werden. Ihr erinnert euch an mein wichtigstes Gedicht, „Alle Tage“ von Ingeborg Bachmann. Hier zum wiederholten Mal, täglich:

INGEBORG BACHMANN

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht vor den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

1953 (Piper 1978)

Was daran auch wichtig ist, dass wir uns den Stern der Hoffnung nicht erfinden müssen, ihn erwerben können durch Handeln. Und das geschieht nicht nur im Kampf, wo „man“ sich beweisen müsste, und dann fallen sie, eine(r) nach der/m andern. Der Freund ist hier im Alltag, die Geheimnisse lähmen die Gerechtigkeit und das soziale Leben, die Befehle sind etwas anderes als die selbst und mit-verantwortete Ordnung. Was für den Kalten Krieg galt, der außerhalb unserer Wohlfühlzelle so kalt nicht war, nie war, gilt heute genauso.

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Was hat das mit dem späten Frühlingstag zu tun? es hat ein wenig, ganz wenig geregnet – und man freut sich, rauszugehen und nass zu werden und die Bäume aufatmen zu hören. Man hört vom Widerstand gegen die Umweltgangster der großen Landwirtschaft, die rücksichtlos die letzten Lebewesen von den Äckern vertreiben wollen. Man erfährt die Trumpside von Elon Musk, der nicht nur Autos anbaut; Man hört Habeck und versteht, dass Davos nicht sein muss, aber wenn es ist, sich verändern muss. Man lernt, dass Geflüchtete, die einmal hier sind, hierbleiben müssen und nicht abgeschoben werden dürfen – da können wir Befehle missachten, damit Richtiges geschieht.

Der Flieder ist abgeblüht, die Pfingstrosen wachsen. Wie oft wird wer das noch erleben, in Jahreszyklen, die immer unwahrscheinlicher werden.

Retro

Zwei Tage des Rückblicks, den ich teilen möchte. 1986 war ich nach Oldenburg gezogen, um an der dortigen Universität zu arbeiten. Ich hatte 12 Jahre in Osnabrück zurückgelassen, auch Beziehungen, Freundschaften. Was ich davor von Stadt und Universität wusste, hatte vielleicht Pläne, aber keine Vorausschau erlaubt. Die nächsten 12 Jahre sollten weitgehend bestimmt werden durch learning by doing und durch Anwendung von Wissen, das nicht unbedingt durch die verfestigte Ansicht über diese Universität – Carl von Ossietzky ! – und die Residenzstadt der Großherzöge vorstrukturiert war. Keine Angst: es folgt auch nicht eine noch so kurzgefasste Geschichte meiner Zeit als Präsident dieser Universität. Auch nicht meine Jahre danach, die ich hauptsächlich im Kosovo und Afghanistan zugebracht habe, bis ich auch formal Oldenburg mit Berlin und Potsdam eingetauscht habe. Ich will über die RÜCK-SICHT nachdenken und berichten. Zwar habe ich Freunde und Kollegen ab und an besucht, auch an Begräbnissen und Feiern teilgenommen, aber ich war zunehmend nicht mehr an einem Wohn- und Arbeitssitz, wo man nicht nachdenken musste, um sich auszukennen. Dann kam Corona, noch seltener besuchte ich Freunde und Kollegen und jetzt musste ich zielgenau zu einer Disputation, verbunden mit diesen nahen Besuchen, und ohne weitere Kür.

Erstens: ich hab mich nicht mehr genau ausgekannt. Nur annähernd. Buslinie, Straßennamen, Erkennungspunkte. Das ist geographisch nichts besonderes, manche Punkte haben sich dem Wiedererinnern gefügt. Nicht so wichtig.

Zweitens: Vor der Doktorprüfung war ich dem Lokal zum Mittagessen, in dem so um die 1500 Mahlzeiten eingenommen hatte, fast unverändertes Menu, teurer, aber nicht anders, und der Chef erkannte mich umgehend und ich ihn. Er setzte mich auf den Stammplatz.

Drittens: Noch immer Zeit. Also durchstreife ich die Gebäude und sie waren mir fremd, obwohl ich sie schon noch kannte, nicht so viel Neues. Fremd von den Bezeichnungen an den Türen, nicht die Namen, die ich alle nicht kannte, sondern die Funktionsbezeichnungen, die fachlichen Translokationen, und die Unsicherheit, wo ich denn Aus- und Übergänge finden würde. Fremd heißt hier konkret, es wurde nicht mit der Veränderung und Gleichgebliebenen gearbeitet, sondern mit dem anderen, das keine direkte Erinnerung hervorrief. Manche Flure und Bezeichnungen hätten auch in Marburg oder Potsdam sein können und riefen keine Assoziationen hervor, einige taten es schon, aber die wenigsten.

Binnen einer Stunde traf ich auf genau drei Menschen, die mich erkannten: einen früheren Studenten, von vor 30 Jahren, der jetzt promovierte; eine frühere Mitarbeiterin; einen Lehrbeauftragten, den ich beim besten Willen nicht einordnen konnte. Drei. Hunderte Studis zogen in bunten Gruppen an mir vorbei, strömten wie zu einem Jugendcamp, d.h. ich war nun wirklich alt geworden. Hat mir gefallen, so kann man eine Uni auch beschreiben, eine Uni, nicht meine Uni. Selbst während der Disputation erinnerte ich zwar, mit wem ich im gleichen Raum gesessen und geprüft hatte, aber auch hier keine Assoziation von Zugehörigkeit.

Was ich an dieser Uni bewirkt und verwirkt hatte, kann ich schon noch rekonstruieren, aber das Gedächtnis hat den Ort, die Zeiträume, die Anlässe, relativiert, weggerückt. Also normal. ABER da brachen dauernd Blitze in dieses Gefühl der Fremde, die nicht konkret sagten, was da war, aber dass da etwas war, war reaktiviert werden sollte. ein Ereignis, eine Begegnung, ein Ärgernis oder eine Erfreulichkeit. Retro sprach zu mir, das müsstest du doch noch vor dir haben. Ich hab es hinter mir.

Ich erzähle das, weil es mich doch an etwas erinnert, das mein damaliger Kollege Ulrich Teichler vor 40 Jahren als das Nicht-Eigentliche der Universität bezeichnet hat. Gestern ging mir weder Lehre noch Forschung noch Verwaltung durch den Kopf, sondern es wurde eine punktuelle Anamnese, Wiedererinnern, losgetreten, die mich zu einem Selbstgespräch, einem Verhör über das, was dieser Ort damals an meinem Leben gut oder ungut gemacht hatte, und nicht, was ich gut oder ungut angestellt hatte. Wie Tätowierungen auf der Lederhaut meiner Lebenserinnerungen wirkten Gebäude, Grünflächen, Formen, begleiteten mein Flanieren oder auch Stöbern.

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Das war kein Thema im Abendgespräch mit meinen Freunden gestern Abend und heute Morgen. Als ich für eine knappe Stunde bei einem freundlichen Brunch mit dem Präsidium versuchte, die Retrospektive zu objektivieren, war das nicht so schwierig, wenn man den positivistischen Teil der Rückerinnerung hernimmt: was habe ich damals getan, was gibt es davon noch heute. Aber die kritische Reflexion dessen, was die UNi mit mir und ich mit ihr gemacht habe, stellt sich da nicht einfach ein: denn es ist eine andere Uni.

Ich musste an Italo Calvinos Unsichtbare Städte denken.

Keine Resignatur

Die größte Schwäche der so genannten Realpolitik ist das Ausrufen der Alternativlosigkeit an falscher Stelle und das Anrufen des abstrakten Rettenden, wo man meint, die Gefahr sei am Größten. „Dazwischen“ kann man so handeln, als wäre vieles normal.

Normalitätspolitik kippt vieles über den Rand in den Abgrund. Dier afghanischen Schutzsuchenden – nach hinten gedrückt; die syrischen – schon fast vergessen; die paar Jahre der Überlebenssicherung im Klima – jetzt einmal noch nicht wirklich etc.

Viele haben resigniert, weil sie glauben, wir – die sich für die „Menschheit“ halten, hätten bereits den Endpunkt der Einsicht in die Wirklichkeit und die Notwendigkeit erreicht. Wenn wir die 2° nicht binnen zwanzig Jahren halten, stimmt das vielleicht sogar, aber nicht, was Gesellschaft, Handeln, und die Potenziale betrifft, sollte die Menschheit wirklich überleben. Wollen wir aber überleben, dann empfiehlt es sich, mehrspurig den Tag und die Nacht hinzubringen, den Krieg nicht auszublenden und die Wirklichkeit, von der aus wir ihn wahrnehmen, kommentieren und für uns Konsequenzen ziehen. Nur wer an das Ende der Evolution (lacht heute noch über das Ende der Geschichte?) glaubt, ist zugleich überheblich und dumm. Oder jenseitsorientiert.

Wir lernen zum Überleben etwas dazu, wenn wir etwas tun. Das, was wir tun können und was wir unterlassen sollten, steht in den letzten Blogs. Wenn ihr die lest, dann seht ihr ja, wie wenig ich über die Zwischenräume schreibe; aber in denen leben wir auch, und sie sind zum Überleben weit genug, hoffentlich noch.

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Nach einigen Regenschauern kann man auf etwas Entlastung hoffen, nicht wahr? Quatsch. Brandenburg versteppt absehbar, mit und ohne Gewitter. Diese Verödung wird auch dann eintreten, wenn wir den Klimawandel überleben, ihn überstehen. Die Evolution kann weitergehen, auch wenn die Lebensbedingungen und Umstände schlechter werden. Jetzt bereits resignieren, wie das die Neoliberalen, die alten und neuen Faschisten, die Identitären u.ä. gerade deshalb tun, weil sie nicht an das Überleben denken, jetzt resignieren geht nicht. Nicht nur unsere Kinder und Enkelinnen werden es wahrscheinlich schlechter haben als wir bisher, auch wir. und die Verteilung der Ungerechtigkeit wird zu neuen globalen Verdüsterungen führen, und darin zu überleben wird vielleicht Science Fiction und düstere Prognosen verbinden.

Also: die einen Dinge, spenden, helfen, beraten, unterrichten, ernähren etc., wie gesagt, weiter tun und eigene Reduktionen dafür vornehmen – bitte sagt nie „opfern“ oder gar hier unseren Wohlstand einschränke. Nicht erst im allgemein Sterben sollen die Menschen gleich werden, das ist auch noch nicht zu Ende. Die andern Dinge: nicht Atlas spielen und die ganze Welt auf den schmalen Schulterchen tragen, Menschlein, und darüber dei der Jause reden, die Kommentare kommentieren, die Hoffnungen sezieren, auf der eigenen Spur immer weiter im Kreis reiten, bis sie wie eine Autobahn ausschaut. Weiter so heißt eben nicht weiter SO. Auch so kann man Lampedusa lesen: man muss die Dinge ändern, damit sie die gleichen beiben. Nur, welche Dinge, Umstände?

Wir können die Evolution an die künstliche Intelligenz abtreten, eine Option (Harari). Wir können an Leben jenseits des Sterbens glauben (einfach), aber mit unserem subjektiven Bewusstsein (Unsinn); wir können die kleinen Zwischenräume gegen die Resignation abdichten, dazu gibt es nur keine Didaktik, keine Pädagogik, und wenig brauchbare Ratgeberliteratur.

Solange uns der Krieg nicht selbstzerstörerisches Verhalten aufzwingt, ist es besser ausgeschlafen an den Alltag zu gehen, sonst kann man nicht helfen, nicht sich aufs überleben einstellen sondern nur resignieren: das heißt, man unterschreibt die eigene Entmündigung. Die fängt bei manchen schon damit an, dass sie keine Blumen mehr anschau-en oder gar pflanzen, dayss im Umgang mit den andern jede Form der Gefühle dem Weltuntergang opfern, und Gottbehüte, nichts mehr denken oder erzählen, zu dem andere oder man selber lachen kann. Hier gibt es noch Entwicklungsmöglichkeiten…wer mit tödlicher Resignation das Wiener „Kannst eh nix machen“ VOR das „Da muss was geschehn“ setzt, begrenzt sich selbst.

Das ist nicht abstrakt. Wir erleben das Entweder-Oder des Verhaltens geistig resignierter und psychisch angstvoller Personen dort, wo andere sonst befürchten würden, die nähmen die Klimakrise oder die Ukraine nicht ernst. (Das ist die Hybris, sich als den Mittelpunkt der Welt zu sehen).

Vorschlag: macht zwei Listen, je eine für die beiden vorgeschlagenen Handlungsbereiche. Und fragt euch, zu welchen Zielen ihr auch noch etwas an euch entwickeln könnt. (Leider doch belehrend, aber die Didaktik im Überleben kann man so ganz kurz zusammenfassen). Auch helfen kann man lernen, nicht nur Trinkwasser bei- Zähneputzen sparen.

Darf ich, bitte? Zu spät

Gerade habe ich darum gebeten, sich mit Kommentaren zur unangegriffenen Befindlichkeit im Krieg zurückzuhalten. Man kann über alles reden, aber man muss nicht seine Meinung zum archimedischen Punkt der Aufmerksamkeit machen. Allerdings: verstummen in Not und Gefahr sagt viel, bereitet aber die eigene Auslöschung auf dieser Welt vor. Man kann es also nicht wirklich richtig machen; obwohl: wir sind ja nicht wirklich in Not und Gefahr, wir gehören nur ihr, die andere trifft und bedrängt. Wir haben damit „zu tun“, aber wir tun oft zu wenig, oder nichts. Manchmal auch das Richtige. Wir werden auch Stellung nehmen müssen, uns zuordnen, ich hoffe, wir haben längst Partei ergriffen…aber über die Umstände muss man ja nicht dauernd reden.

Das ist mir heute durch den Kopf gegangen, als ich mehr als fünf Stunden meines Lebens vergeudet habe, privilegiert die meiste Zeit in der Sonne vor dem Bahnhof, auf dem Bahnsteig, im Umsteigebahnhof, vor den Informationstafeln zugebracht habe. Über die Bahn zu schimpfen, hat keinen Sinn, obwohl fünf Stunden…So sind sie halt, die Mehdorns,. Pofallas, die Deutschen. Witzig? Ich hätte auch etwas schreiben können, etwas lesen, über etwas nachdenken. Nein, ich starrte meist auf die unergründlichen Fahrpläne und hörte dass Knacken im Handy, wenn die DB Reisebegleitung mir zum 6., 7. mal mitteilt, ich würde nicht weiterkommen. In Marburg und Kassel, wo ich den Zeitverlust unterbrechen musste, wurde alle Naslang angesagt, warum das alles so ist, es wurde sich entschuldigt. Is ja gut. Da kam mir der Gedanke, aus den Ursachen der ungefahrenen Züge ein Lehrgedicht zu machen, Plutarch oder Klopstock. Nicht über Tod und Vernichtung grübeln, die Wirklichkeit in Verse fassen, sich lösen vom Grauen und Aufschwingen zur Welt, der wir mit einer Spielzeugeisenbahn auf die Pelle rücken.

Die Verspätung oder Zugausfall kommen

… weil das Personal zu spät eingetroffen war, weil eine Weiche repariert werden musste, weil der Zug aus voriger Fahrt schon verspätet war, weil der Zug zu spät bereit gestellt wurde, weil eine Strecke gesperrt war, weil Menschen im Gleis waren, … und

zwei Tage später:

tschulgung, bitte. Abends, im natürlich verspäteten Zug nach Berlin, Weichenreparatur, eine Minute vor dem geplanten Zug wir kommen nie an, Umleitung. Der Zugführer hat keinen Fahrplan für die Umleitung. In Spandau offenbar reichen 4 Gleise nicht für einen Personenschaden. Lächerlich, so wie mein Heißhunger in Hannover. Nachdem ich gefüttert wurde.

zwei weitere Tage später: wieder sind die Zugführer zu spät eingetroffen. Minutenweise tropfen die Verspätungsmeldungen. Und vier Tage später: Es sind zu viele Kunden, die sich um Karten bemühen, versuchen Sie es später…der Zug ist abgefahren.

Wenn all das geschieht bei der Mobilmachung, kommen alle zu spät an die Front.

Wenn all das bei unserer Hilfeleistung geschieht, kommen Lebensmittel und Medizin nie zu denen, die sie bitter nötig haben.

An und für sich können Verspätungen Leben retten oder gefährden (nicht die eigenen) oder verkürzen – heute meines. Ja, Herr Lehrer, auf den Kontext kommt es an.

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Im Fronttheater wäre das Stoff für einen Comedian oder eine Diseuse. Aber wir sind nicht Front, sondern Etappe, wie ein Kollege gerade treffend gesagt hat. Auch die Etappe gehört zum Krieg, so, wie die Medien, die Fourage, die Angst und die Betäubung dazu gehören. Im Krieg geht viel Ironie verloren, wird durch Pathos ersetzt (als wäre man in den Feuerlinien, unangreifbar zwar…in Wien sagt man: rede nicht so, am Ende erlebst du es wirklich…umgangssprachlich rückt es dir näher).

Zum Pathos des Schützengrabens hat seit jeher gehört, die kleinen Bemerkungen über die kleinen Dinge auszutauschen, weil die großen Dinge, das Leben der Kinder, der Eltern, der Partner längst dem entrückt sind, was man selbst tun könnte, auch was man versäumt hatte und was man hätte anders machen wollen, bekäme man die Chance. Ich habe diese Pathétique nie gerne gelesen, weil ich a) nie im Schützengraben war und auch jetzt nicht bin, und b) einem die Konfrontation mit dem Sterben nicht so wirklich die Wahl lässt, wie man es anders machen könnte, jetzt sofort. Mit dem Sterben, nicht mit dem Tod. Darum werben ja die Patrioten immer mit dem Heldentod, dem Tod fürs Vaterland, auf einem Denkmal stand: Unser Tod für euer Leben. Nur: wie bedankt man sich bei den Gestorbenen?

Diese Gedanken kamen mir bei den zwei Optionen des verspäteten Zuges. Zu tief haben sich die Zugmetaphern in meine Bildung eingegraben, Nicht nur Kriegsgeschichte, aber viel davon. Und welche Rolle die Züge von und nach der Ukraine spielen, können wir sehen, wissen.

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Einmal kam ein Zug zu früh an, fuhr auch vor der Zeit ab, und ich bekam mein Geld wirklich zurück. Aber meist, und hier bei uns besonders, kommen die Züge zu spät und rauben uns Lebenszeit und Nerven, es sei denn man genösse den Zwischenraum zwischen Plan und Fahrt als unerwartetes Stück Freiheit. Gerade jetzt, also nach 5 Stunden Verspätung hält der Zug in Wolfsburg, weil noch immer Menschen im Gleis sind. Auf unbestimmte Zeit, bis die Polizei ihre Arbeit getan hat. Da hat sich einer umgebracht, das wird nett umschrieben und niemand sagt tschulgung. In meinem frühen Lieblingslied sang die Knef „und kommst du mal aus dem Gleis, dann war es Erfahrung und nicht Offenbarung, was macht das schon?“ J, aber. Der Zug, der nie sein Ziel erreicht oder in der Hölle landet oder unverrichteter Dinge rückwärts in die Heimat rollt.

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Man muss im Leben zusammenbringen, was nicht zusammenpasst und zusammengehört. Das ist so trivial wie wichtig. sonst hält man das eine nicht aus, während sich das andere ereignet, und umgekehrt.

Spalten und Abgründe. Wenn es so weit ist.

Sie streiten nicht. Sie vergleichen ihre Ansichten. Meinungen darf jede(r) haben und sie auch in der Regel sagen: zu sich selbst oder öffentlich oder dazwischen. Meinungen sagen etwas über die Wirklichkeit iher Besitzerin oder ihres Machers aus, aber nichts über die Wahrheit. Oder nur wenig.

Die Menschen streiten über den richtigen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Sie streiten auch um die letzte Flasche Pflanzenöl und billige Spaghetti im Supermarkt, die Hamster. Sie werden zu Pazifisten, wenn es gegen Waffenlieferungen geht und zu Bellizisten, wenn sie dafür sind. Ob sie ihren Energieverbrauch jetzt reduzieren wollen oder sollen, entscheiden sie, wenn es so weit ist.

Weil wir schon im Krieg sind, ist er noch lang nicht da, und wäre er da, wäre er noch lange nicht hier. Im letzteren Fall hätten die Recht, die solange von ihren gehamsterten Spaghetti essen könnten, bis ihr Keller von einer Rakete getroffen würde. Wäre er offenkundig schon da, also Deutschland offenkundige Kriegspartei, dann müsste man sich orientieren, d.h. weitgehend den Anweisungen von oben folgen oder sich gegebenenfalls verweigern, auflehnen. (Im Kaiserreich brauchte man zum Protest eine Bahnsteigkarte…sagt man heute ironisch. Was braucht man heute?).

Der Pöbel streitet nicht. Der Pöbel ist dagegen. Ich rede aber jetzt von den Menschen, die aus ihrem Meinungsanzug herauswollen, die wollen, dass etwas geschieht, an dem sie mithandeln können.

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Deutschland ist, wie viele andere Länder gespalten. Alte Grenzlinien Ost-West, christlich-muslimisch oder reich und arm sind nie tragfähig gewesen und eröffnen heute eher den Blick auf die wirklichen Spaltungen, Brüche, Verwerfungen. Das Überbrücken der Meinungsgräben zwischen Waffenlieferungen und ihren Gegnern ist kein Kompromiss, auch keine Realpolitik. Meinungen und der gesunde Menschenverstand reichen nicht aus, um denken, was richtig ist. es geht in die Beschränktheit der persönlichen Vorstellungen, die auf relativ viel Wissen, auf der Fähigkeit Zukunft zu denken, auf Konstruktionen dessen beruhen, was welche politische Handlung für mich, für meine Umgebung, für meinen Lebens- und Arbeitskontext, vor allem für meine Kinder und Enkel bedeutet. Und für jeden Menschen gelten diese Bedeutungskreise. Ich halte es für wichtig und richtig, diese Bedeutungen in Konstruktionen einzupacken, die konditional sind: wenn…dann…und alternative Verhaltensvorbereitungen, sozusagen ein Portefeuille zu haben. Natürlich – hier stimmt der Begriff nun wirklich – natürlich nicht nur auf mich bezogen, aber innerhalb dieser Kreise nicht opportunistisch sich darauf vorbereiten, hinzunehmen was kommt, sondern Wenn…Dann… hat seine Ethik, seine Vermittelbarkeit und erst in dritter Reihe die Frage, ob das, was man dann tut, auch gelingt.

Sich so IN einem Krieg vorbereiten ist noch einfacher als sich AUF einen Krieg vorbereiten.

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Ich schreibe das, weil mich die bloße Meinungsfreizügigkeit irritiert bzw. ärgert. Zum einen ist es denen, die in diesem Krieg schon gefallen sind und weiterhin sterben, verwundet werden, ausgebombt und gefoltert werden, unmittelbar nicht wichtig, was wir darüber denken, sondern was wir tun. Und wir tun hoffentlich nicht nur, wovon wir individuell überzeugt sind, dass wir darüber entscheiden – neoliberal, pöbelhaft, dogmatisch,…. – sondern dass wir es aushandeln, vermitteln, also dass wir Einfluss gewinnen wollen, also dass in unserem Namen gehandelt werden kann und so – hoffentlich – Menschen gerettet werden, und dass so etwas wie Frieden verhandelt werden kann. Frieden fordern grenzt fast an Amnesie. Frieden schaffen ist schwieriger und muss wohl während der Kämpfe beginnen. (Wenn es keine eindeutige Lösung gibt, wie bei den Gasimporten, dann kann man ja sehen, wie wenig weit die individuellen Meinungen tragen und wie brüchig bisherige Formelkompromisse sind). Die schreckliche Wahrheit moralisch und rational gleichermaßen richtigen Handelns ist im Krieg, dass es unmittelbar keinen Menschen rettet. Es gehört, jedenfalls für mich, viel dazu, DAS auszuhalten. Kein Stratege zu sein, sondern das Leiden anderer wahrzunehmen. Eingreifen geht für uns nur mittelbar. Umso wichtiger ist es HIER die Zivilisation immer einzuüben und zu erneuern, die Putin und seine Truppen zielstrebig zerstören, DORT erst einmal.

Wem das zu abstrakt ist. Spenden, helfen, Unterkunft besorgen kann jede(r) und immer, und den Pöbel abwehren auch.

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Nachtrag, ein paar Tage später: wenn Autokraten wie Erdögan oder Orban ihre dreckigen Spiele in diesem Konflikt spielen, darf und kann es nicht überraschen. Das Ertragen der zweiten Reihe von Tyrannen, um geschlossen gegen die erste Reihe vorzugehen, macht uns nicht sauberer oder anständiger, es beschmutzt. Habeck muss am Klimaschutz Abstriche machen, andere Autokratien erwerben Strafnachlässe, und mit der Logik der Beobachtenden ist es nicht getan. Aber wäre selbst das wirkliche Ende näher als viele glauben wollen, so sind wir nicht am Ende, das ist nun mal so in der Vergänglichkeit. Ein Beispiel: ich war und bin immer noch ein Gegner der NATO. Aber ich war und bin immer noch ein Befürworter einer europäischen Streitmacht der EU. Das wäre eine realistische Drohung gegen die Diktatoren. Ohne die Türkei könnte man vielleicht ein demokratisches Verteidigungsbündnis neben den USA, nicht gleich gegen sie, etablieren. Trotzdem müssen wir jetzt zu Finnland und Schweden halten, siehe oben.