Nu, soll er sich kränken

Man möchte sich ja freuen können. Blaue und gelbe Blumen, der Hund wälzt sich freudig im fast weggetauten Schnee, das Eis auf den Teichen schaut grausig aus und es ist natürlich unnatürlich warm. Der Klimawandel hat die viertägige Eiszeit wieder im Griff. Man freut sich, weil man ein Thema hat, Frühling, und nicht die verquirlte Kommunikation über die Spahnplatten vor dem Kopf rund um die Uhr verfolgen muss. Man darf auch an anderes denken.

Politik? Lieber nicht. Wozu man keine Meinung haben kann, dazu soll man si nicht äußern. Myanmar, Armenien, Äthiopien, …

Kunst? Öffnen wir den Musen die Tempeltore? Vor oder nach den Fußballstadien und Friseuren…

Beziehungen? Was sich alles mit Maske machen ließen, wenn man es überhaupt noch macht…

Der Frühling lockert die Schrauben. Das Klima macht besoffen, die Gesellschaft aber macht betroffen. Nicht nur als Reim vorbildlich, auch wahr. Denn so fröhlich man gerne leicht gelockert davonhüpfen möchte, die Handschellen der korrekten Betroffenheit sind streng und schmerzhaft.

Zur Zeit eskaliert ein Konflikt, ob Betroffenheit die Anerkennung und politische Besserstellung bestimmter Gruppen und Einzelpersonen rechtfertigt – oder ob die se subjektive Empfindung zwar ein coming out bedeuten kann, aber kein Recht auf die VertreterInnen der Ablehnung dieser Empfindung konstituiert. Der Fehlschluss ist leicht zu durchschauen. Es macht einen Unterschied ob jemand betroffen ist oder sich betroffen fühlt. Und im gegenwärtigen Konflikt geht es um die Identität, die aus der subjektiven Betroffenheit abgeleitet wird und denen, die darüber urteilen oder damit nicht übereinstimmen, das Verdikt fällen, dass es sie nichts angeht und dass ihre Argumente nicht zählen. Das Modell isdt, dass weiße alte Männer nicht über schwarze junge Frauen sprechen dürfen, bzw. dass es Bereiche gibt, in denen es nicht darauf ankommt, wie sie sprechen. Die Gegenposition ist, dass es vor allem auf dieses Wie ankommt, auf den Kontext. Identitätspolitik aber ist Kontextverweigerung. Weil sie Betroffenen strukturell zu Opfern macht.

In der Soziologie sprechen wir von privileging the marginalized. Das kann eine Notwendigkeit sein, wenn die Betroffenen betroffen sind, das entscheiden nicht sie, sondern ist ein objektives gesellschaftliches Phänomen). Das kann einen unlösbaren Konflikt bedeuten, wenn die Betroffenen ihre Betroffenheit aufgrund eines Identitätsmerkmals behaupten und andere Qualitäten ausblenden.

Natürlich hat man oft einen weißen Othello, einen schwarzen Jago, eine männliche Julia und eine Frau als Romeo auf die Bühne gebracht; natürlich hat die Kunst immer versucht, aus der Auflösung festgefahrener Identitäten Kritik entstehen zu lassen, mit wechselndem Erfolg. Wenn aber bestimmte Identitäten dogmatisch vorab festlegen, wer was wie sagen darf, bzw. nicht sagen darf, weil die unterstellte Meinung bereits diskriminierend sei, indem sie die historisch-soziale Betroffenheit individualisiere und damit die Betroffenen dort einsperre, von wo sie sich befreien wollen, indem sie endlich sie selbst sind, – dann hilft nur a) schweigen b) heucheln c) die Kritik am identitären Konstrukt zu Politik zu machen und damit d) Widerstand zu leisten. Unrecht. Natürlich darf man bei uns nicht alles sagen, auch wenn es unvergleichlich mehr  ist als in Diktaturen. Aber es geht gar nicht, etwas nicht sagen oder wo nicht hinschauen zu dürfen, weil es schon vor jeder Begründung inkorrekt ist. Auf die Gefahr hin, kritisiert zu werden.

Es ist Euch und Ihnen nicht entgangen, dass ich hier auch über die teilweise völlig entgleiste Thierse-Kontroverse schreibe. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html Gut an der Sache ist, dass wenigstens öffentlich über die Frage der Legitimität von Identität diskutiert wird, schlecht sind die Waffen, die hier eingesetzt werden, und am Thema arbeite ich schon viel länger. Was Thierse genau meint – und wer ihn wie kritisiert sehr brauchbar: https://www.deutschlandfunk.de/wolfgang-thierse-spd-ueber-identitaetspolitik-ziemlich.694.de.html?dram:article_id=493111

Es hat sich ja vieles zum Besseren  entwickelt, weil die Sensibilitäten mit der Kritik an sexistischen, kolonialen etc. Selbstverständlichkeiten gewachsen sind. Aber daraus die Privilegierung der betroffenen Individuen abzuleiten,  die korrektes Verhalten und v.a. Sprechen für eine ganze Gruppe ableiten, geht schon deshalb nicht, weil ja in den allermeisten Fällen die Gruppe gar nicht von den Betroffenen her zu definieren ist. Antisemitismus aus nicht-weißem Mund bleibt Antisemitismus, und wenn die Ursachen untersucht werden können und sollen,  ist das etwas anderes als mit Blick auf den nicht-weißen Mund den Antisemitismus nicht oder schwächer oder anders zu empfinden.

Naja, ich hab gut reden, als alter weißer jüdischer Mann. Anstatt die politische Korrektheit in rechte und linke zu unterteilen, ein jüdischer Witz (dürfen nicht jüdische Menschen Judenwitze erzählen?). Kommt eine Frau zum Rabbi und fragt um Rat. „Wir sind arm und ich hab nur einen Hahn und eine Henne. Eines von beiden muss ich schlachten, sonst haben  wir nichts zu essen, welche(n) soll ich schlachten“? „Was ist das Problem?“, fragt der Rabbi. „Schlacht ich die Henne, kränkt sich der Hahn. Schlacht ich den Hahn, kränkt sich  die Henne“. Nach einer Weile des Nachdenkens und Lesens fragt der Rabbi nochmals, und sagt dann: „schlachte die Henne“. Sie darauf: “aber dann kränkt sich der Hahn“. „Nu, soll er sich kränken“.

Ach, wenn es so einfach wäre.

Jüdischer Einspruch XXI: befreit euch.

Unbedingt lesen: https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-02-19/page_2.454859/article_1.5210583/article.html

In einer langen Diskussion zwischen Susan Neiman und Michael Brenner sagt Neiman u.a.:

Das ist eine Taktik von Rechten, den eigenen Rassismus mit einer Art Philosemitismus zu verdecken, das kann man auch anderswo beobachten, bei Trump etwa. Nur sind die Rechten in Deutschland auf deutsche Schuldgefühle gestoßen. Hier sagt niemand: Moment mal! Sondern: Oh mein Gott, wir müssen für die Juden aufstehen! Ich finde es wichtiger, sich mit dieser Taktik zu befassen als mit allen möglichen Definitionen von Antisemitismus. (19.2.2021)

Natürlich geht es auch um BDS, um Mbembe, um Netanjahu und um Kritik an Israel. Aber schon dieser eine Absatz ist in seiner Klarheit befreiend.

Bitte auch zurückschlagen und lesen: Jüdischer Einspruch XVIII und XX. danke.

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 Es mag  euch Leser*innen seltsam erscheinen, dass mich das Thema ein Leben lang beschäftigt. Seit meiner Kindheit, und sicher avant la lettre,  wie man sagt. „du bist der deutsche Michel,  und nicht der jüdische Michael“, sagte eine entfernte Verwandte aus dem nichtjüdischen Zweiglein meiner Familie des Öfteren. Hab ich gar nicht verstanden. Aber die vielschichtige Umgebung von Beschweigen und Offenbaren, sozusagen eine immer negative Identitätsdiskussion über viele Jahre hinweg, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt und mich umso nachhaltiger um Positionen jenseits von Anti- und Philosemitismus suchen lassen, inclusive der retrospektiven Scham über Judenwitze und Missverständnisse der Kindheit. Als das vorbei war, da begann ich 16 und älter zu werden, bildete sich ein Selbstverständnis heraus, das sich immer mehr der Position von Hannah Arendt in ihrer späten Auseinandersetzung mit Gershon Scholem annähert. Ludger Lütkehaus in Kurzform: https://www.nzz.ch/ unversoehnte_dissonanz-1.7800677 (20.2.2021) . So hoch greifen? Natürlich, wir sind auch nicht anders als andere, was übrigens der Kern des Problems ist. Der andere Kern: natürlich sind wir wir und nicht ihr. und umgekehrt.

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Dass auch diese einfache Tatsache den frühesten wie den späteren Antisemitismus prägt, habe ich anhand des neuen Buchs von Delphine Hofvilleur im letzte Blog ja dargelegt. Die ständig unfertige, nie ganzheitliche Struktur jüdische Identifikationen ist weder Makel noch Auserwählung,  sondern, wenn man so will, Kultur- und Sozialanthropologie in einem. 

Es gibt in den verschiedenen Varianten keinen Philoislamismus, keinen Philoarianismus, keinen Philogermanismus. Philo=Anti, Freund=Gegner, manchmal nicht so gemeint, fast immer so bedeutet. Schuld sühnt man nicht durch die Entschuldigung. (Sprachspiel, gewiss, aber Entschuldung ist eben etwas anderes). Umgekehrt wäre Judäophobie so inkorrekt wie es die Islamophobie noch kaum ist, und religionsgeschichtlich müsste wenigstens die Christophobie ihren Begriff haben. Aber der Philosemitismus wird ein stehendes Kennzeichen angeblich begriffener Geschichte und Entschuldigung. Etwas härter formuliert: diese Judenfreundschaft ist wie Aneignung der Juden, die man dann eben neu definiert, weil man das Vergangenheit schuldig ist, nicht aber jemandem oder wem.

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Ich erinnere mit Grausen der neuen Hochachtung für Moshe Dayan[1] im Sechstagekrieg1967 seitens der deutschen Rechten, natürlich niemals offiziell.

Warum ich mich darüber aufrege, naja, gedämpft, ermüdet seit meinen ersten öffentlichen Äußerungen dazu[2], vor vielen Jahren? Das Pathos der 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland nervt. Ihr findet hunderte Eintragungen im Netz unter diesem Stichwort. Bei 1699 war noch nix los. Es ist gut, dass man einer von vielen nicht bewussten Geschichte gedenkt. Aber: Was gibt es da zu feiern? Dass wir – wer ist wir? Siehe oben – aus der Geschichte gelernt haben? Und was, wenn ich bitten darf? Gerade weil vieles heute bewusster und damit besser ist als früher, weil bewusst ja auch kritischer bedeutet, ist die Bemächtigung Israels durch die heutigen Rechten keine Lappalie. Sie baut nämlich auf eine ideologische Verbindung, die vor der Politik auch nicht Bestand hätte, incl. Netanjahu, weil es dieser deutschen Rechten ja darum geht, sich mit Zeugen zu wappnen, an deren Entwicklung sie bzw. ihre Vorbilder mit Schuld haben: die Entwicklung mit mehr als 6 Millionen Toten und einem Staat, der nicht nur dieser Toten wegen auch, auch von Überlebenden gegründet wurde. An denen  vergreift sich die deutsche, die europäische, die antisemitische Rechte, die sich mit Philosemitismus tarnt und mit einer Israelfreundschaft, die übersieht, dass nur Kritik Zeichen aufrichtiger Anerkennung sein kann.

Daxner, M. (1995). Die Inszenierung des guten Juden. Kulturinszenierungen. S. M.-D. u. K. Neumann-Braun. Frankfurt, Suhrkamp.

Daxner, M. (2007). Der Antisemitismus macht Juden. Hamburg, merus.


[1] https://orf.at/v2/stories/2018637/ (20.2.2021). zu Recht umstritten, aber oft zu Unrecht mit den falschen Argumenten.

[2] Daxner, M. (1995). Die Inszenierung des guten Juden. Kulturinszenierungen. S. M.-D. u. K. Neumann-Braun. Frankfurt, Suhrkamp, Daxner, M. (2007). Der Antisemitismus macht Juden. Hamburg, merus.

Hund und Hasenmasken, helau!

Nur, weil der politische Aschermittwoch digital stattfindet, werden Anlass und Ergebnis des närrischen Treibens nicht lustiger. Mein Fasching in Ebensee – wo ich aufgewachsen bin – war immer sehr viel anregender als Funkenmariechen und Büttenreden, aber auch grausamer.

Erst einmal schauen: https://ooe.orf.at/stories/3090356/ ; https://www.unesco.at/kultur/immaterielles-kulturerbe/oesterreichisches-verzeichnis/detail/article/ebenseer-fetzenzug ; https://de.wikipedia.org/wiki/Fetzenfasching (alle 17.2.2021 – die Übertretungen des Lockdowns sind schon vermerkt. Es gibt auch Videos bei YouTube, mehr als genug)

Dann ergänzen: nur wenn man die Menschen unter ihren Fetzen wirklich erkennt, kann man sie verprügeln und sie für weit oder nahe zurückliegende Untaten, Ehebruch, Gemeinheiten, Rivalitäten bestrafen bzw. bestraft werden. Beim Umzug am Montag waren das Randerscheinungen. Das war eine Art von Be-Reinigung, auch.

Was war daran lustig? Was ist an einem Gottesdienst lustig? Was ist am Rosenmontagsumzug lustig? Die Lust am Ritual ist nicht unbedingt an Fröhlichkeit oder befriedigte Bedürfnisse geknüpft. Als Kinder war schon wichtig, den oder die einen oder anderen hinter ihren Masken und Verkleidungen zu erkennen. Aber wenn der Zug vorbeizog und man war nicht Teil desselben, dann schien es manchmal wie eine Prozession. Heute würde man sagen, wie eine Pestprozession. Man kann auch ethnologisch forschen, der Winter wird ausgetrieben – schwaches Motiv, die abgelegene  Salinenortschaft Ebensee, – schon stärker, weil der Fetzenzug wirklich einmalig ist wie die Basler Fasnacht, das kann man vergleichen.

Ja, und nun laufen heute am katholischen (auch evangelischen) Land noch die Kinder mit dem Aschenkreuz auf der Stirn herum? Eher selten. Die Geschichte des Tags zu Beginn der Fastenzeit der Westkirche ist mäßig spannend, die Geschichte des Fastens schon eher. Und der politische Aschermittwoch ist eine gute Idee gewesen. Mit und ohne Bier. https://de.wikipedia.org/wiki/Politischer_Aschermittwoch/ (17.2.2021)

Woher der Drang kommt, mit erlaubter Rüdität ein Ritual abzuspulen, das zwar wirkliche Konflikte und Gräben sichtbar macht, aber – auch wenn man lacht – keinen Ausweg aufzeigt, weiß ich nicht. Kritik kann schärfer als die heutigen Gemeinheiten sein, auch verletzen, aber nicht dieses entlang einer Gefühlsmauer Schrammen…

Kein Fleisch = nicht dauernd über Corona reden

Kein Fett = nicht dauernd über die Benachteiligung beim Impfen schimpfen

Kein Alkohol = sich über den bescheuerten Herrn Minister n + 1 nur aufregen, wenn er neue Untaten verübt, die alten kommen in den Ablassgraben = Beichtspiegel der Kanzlerin

Kein Zucker = 40 Tage nicht Tatort, Bergretter und Hafenkante schauen

Kein Nikotin = mit klarem Kopf Wölki und seine Brüder verfolgen

Selbstgeißelung = meinen Blog kritisch kommentieren

Bußübungen = das Parteiprogramm der eigenen Partei einmal lesen

Noch mehr Buße = auch das Parteiprogramm anderer Parteien den GenossInnen vorlesen

In der Osterwoche kommt der Gerichtsvollzieher und teilt einem mit, wieviel Bußgeld man für die Missachtung dieser Gebote und Verbote zahlen muss – und zwar an den nächstgelegenen Karnevalsverein. Meine Stunksitzung habe ich hinter mir, leider dieses Jahr kein Fasching im Weltkulturerbe Ebensee. Hinter meiner Maske erkennt ihr den Sauertopf nie, trotz Hund- und Hasenmaske.

Jüdischer Einspruch XX unfertiges Judentum überlebt

Seit Tagen arbeite ich an Texten von KZ Überlebenden. Versuche die Distanz des heute lesenden Lebenden von Erinnerungsindustrie zu begreifen. Vor allem Yishai Sarid hat mich schwer beschäftigt (Sarid 2019). Glücklich fiel mir beim Büchereinkauf mit meiner Enkelin ein anderes Buch in die Hände:

Delphine Horvilleur Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. (Horvilleur 2020). Sie ist eine junge, liberale Rabbinerin. Mit einer stupenden Kenntnis des Talmud und der Geschichte des Antisemitismus, bevor es Juden gab. Der bescheidene Titel verdeckt ein gutes Buch. Sie baut ein wenig  auf Sartre, Lacan, Derrida auf….ist aber sehr eigenständig, manchmal nahe an Bodenheimer. Im ersten Teil eine blendende Thora und Talmud Exegese,  die den AS bis auf Abraham, Isaak, dann vor allem Jakob vs. Esau begründet. Thesen hier und später: die Zweiten sind weiter als die Ersten (habe ich schon  früher gesagt, es tut gut, das zu lesen), weil sie nicht vollendet, immer im Werden sind, die Ersten beanspruchen Macht und vor allem Ganzheit. Schön entwickelt anhand von Ester, Haman versus Mordechai, das kann man auch genealogisch hinbiegen. Aber schon hier: AS ist übermäßig männlich, Jakob und die Juden mit hoher Weiblichkeit.  Juden gegen Römer, das Gleiche. Der Rabbi und der Kaiser (Antoninus Pius spielt da eine namentliche Rolle). Juden werden gehasst,  weil sie etwas haben, das ihre mächtigeren Gegner gerne hätten, und weil sie nicht haben, was diese Gegner aber integrieren müss(t)en um ganz zu werden. Sie geht auch das nachfolgende stereotype Gewirk des AS durch, wenig Politökonomie, viel Freud. Gut der Abschnitt über Weininger. Spannend und brisant die gegenwärtigen Varianten – das kann man fortsetzen, etwa den AS, der auch in black lives matter enthalten ist, und vor allem in identitären Ideologien.  Israelkritik ist dann und nur dann richtig  und legitim, wenn sie sich der Identitätsdebatte entzieht. Der wirft sie vor, sich dem aufgeklärten Anspruch der Person (fände ich besser als Individualität) zu verweigern, und dann zu einem falschen WIR zu kommen; man kann hier von  einer Opferkonkurrenz sprechen, in dem die Juden negativ, alle andern Opfer positiv konnotiert sind. Horvilleur lässt sich auch (zu) kurz mit der gegenwärtigen aus den USA herüberkommenden Bewegung der kulturellen Aneignung ein. ich stimme mit ihr überein, dass wir nicht die Shoah zum Brennpunkt und Maßstab alle jüdischen Geschichtemachen sollen, können.  Da steht uns noch ein gewaltiger Kampf um. Gerechtigkeit bevor. In ihrer Kritik am linken AS und an einem AS Feminismus kann ich ihr zustimmen, die Brücke allerdings von der schon hebräischen Weiblichkeit des später jüdischen Mannes als eines unfertigen, weil der Zukunft noch offenen Menschen, gegen die Ganzheitlichkeit, müsste noch viel weiter ausgebaut werden. Hinweise auf die Quellen bei Mo Urban, und der will ich neue Quellen in diesem Buch mitteilen. Schöner Satz „Das wahre Judentum ist in Israel nicht präsenter als in der Diaspora. Letztlich ist es nur dort wahr, wo es nicht alles über sich selbst gesagt zu haben glaubt“ (128). Darum schreiben wir weiter.

Gerade in den letzten Tagen habe ich viel Frankl (Frankl 2008), Sarid (Sarid 2019), dann Primo Levi und Fred Wander gelesen (Wander 1985, Levi 1986) gelesen. „Der Jude“ im KZ. Immer mehr wird mir gerade an der Leidensgeschichte auch klar, dass Kertesz recht hat: ich – ein anderer . Dann kann ich über das Überleben berichten. Dieses Überleben, die Hartnäckigkeit der Nichtintegration hat diese Position der Juden von Anfang an geprägt, seit Amalek, und wenn Max Czollek (Czollek 2018) mit seiner Desintegration das meint, kann ich mich eher mit dem Aufruf versöhnen.   

Czollek, M. (2018). Desintegriert euch! München, Hanser.

Frankl, V. (2008). Man’s Search for Meaning. London, Rider.

Horvilleur, D. (2020). Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin, Hanser.

Levi, P. (1986). Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Hanser.

Sarid, Y. (2019). Monster. Zürich, Kein&Aber.

Wander, F. (1985). Der siebente Brunnen. Darmstadt, Luchterhand.

Fortsetzung der Spaltung

Eigentlich wollte ich über etwas schönes, erfreuliches schreiben: den Schnee vor meinem Fenster. Aber:

Österreich…egal, gilt auch hier und überall.

Tanners Stabschef will Äußerungen von Soldaten reglementieren

Das Verteidigungsministerium will Meinungsäußerungen von Soldaten und Soldatinnen in der Öffentlichkeit reglementieren. Der Stabschef von Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP), Generalmajor Rudolf Striedinger, hat einen Erlass formuliert, mit dem „unerbetene öffentliche Meinungsäußerungen von Ressortangehörigen“ untersagt werden sollen. Das mit 19. Jänner datierte Papier liegt der APA vor.

Im Ministerium bestätigt man den Vorstoß und argumentiert mit unangebrachten Auftritten von Bundesheer-Angehörigen im Internet. So trat etwa ein Brigadekommandant in einem Interview auf Facebook in einem T-Shirt mit einem Neonazi-Spruch auf und wetterte dort gegen „die da oben“. In einem anderen Fall verbreitete eine Soldatin online CoV-Verschwörungstheorien. (Orf online 7.2.2021)

Protest kommt von Liberalen und anderen, die Zensur schreien und sie fürchten.

*

Gerade nimmt die Diskussion zu, was auf der Bühne, im öffentlichen Raum, vor allem in der Kunst gesagt werden darf, und von wem. das geht über die fatale Doppelgesichtigkeit politischer Korrektheit weit hinaus. Black lives matter spielt  da hinein, die tatsächliche und die gefühlte Unterbesetzung von Positionen mit Frauen, mit LGBTY, mit Behinderten. Tritt man dem Thema zu naiv entgegen, erntet man Unverständnis oder unmittelbare Ablehnung. Dem universalistischen Weltbild tritt eine Differenzierung entegen, die selbst dort noch differenziert, wo als Resteinheit eine mehrschichtige Persönlichkeit übrigbleibt, deren einer Teil emanzipiert ist, während der andere noch kolonisiert oder rassistisch sich äußert.

Der umstrittene Philosoph Markus Gabriel[1] hatte heute mein Ohr, als er u.a. meinte, dass es durchaus möglich sei, dass ein Mensch, ohne etwas zu wissen (dass es nämlich keine Rassen gibt) sich rassistisch äußere und zugleich unentschuldbar auch Meinungen vertrete, die dem eigenen Universalismus widersprächen. (Er meinte Kant).

Die alte Diskussion: darf ein Weißer den Othello spielen, darf ein Schwarzer den Jago spielen? Darf man Shylock überhaupt unverändert zitieren? DARF MAN…so fangen schon falsche Fragen an. Eine der wichtigsten Unterscheidungen wird schon vor der Klammer unterschlagen: gelten für die Kunst die gleichen Regeln wie für die Politik? Und die nächste Frage: darf man äußern, was einen andern Menschen oder eine Gruppe kränken kann?

Kann, nicht gewiss kränkt.

Die einfachste Antwort ist: wenn der Einzelfall Anlass zum Generalverdacht gibt, dann muss es Gesetze oder wenigstens Rechtsverordnungen geben, aber der Generalverdacht muss belegt werden. Ob es um Rechtsradikale beim Militär geht oder um eine rassistische Tendenz bei bestimmten Kunstschaffenden geht, der Verdacht reicht nie und die Evidenz muss sich mitteilen lassen und nicht im Zirkelschluss bei denen bleiben, die die Konsequenzen für alle ziehen – meinen, ziehen zu dürfen: die Exekutive, Gerichte, die Medien.

Die komplizierte Antwort hat zwei Ebenen: den Kontext und die Rezeption. Dazu kommt das Prinzip des Umkehrverbots.

Kontext :

Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen scheinbar gleichen Aussagen in Politik und Kunst. Politik will und soll etwas bewirken und ist auf verschiedene Konsense, z.B. einen demokratischen und rechtsstaatlichen,  auch ein schützenden angewiesen. Kunst will und muss dort agieren, wo die Politik nicht agieren kann, man könnte von einem vorausgesetzten Dissens oder einer Provokation sprechen, die entweder von der Politik eingeholt wird oder aber ihr entgegensteht. Das sollte sich auf die Meinungsbildung der Menschen auswirken, man kann es auch Freiheit nennen. Damit das nicht abstrakt klingt: spielt das einmal an der Diskussion um Privilegien für Geimpfte durch oder an der Meinungsfreiheit für Verschwörungstheoretiker.

Wer was in welchem Kontext wie rezipiert, ist nicht unwichtig. Am Beispiel der Satire, die m. E. alles darf, habe ich das mehrfach beschrieben. Aber nicht nur Satire. Beide, Politik und Kunst, müssen aufklären, d.h. über den Normalpegel des Verstandenen und Selbstverständlichen hinausgehen. Beim politischen Handeln gelten u.a. Mehrheiten und Loyalität zu den Gesetzen. Bei Kunst jedenfalls niemals existierende Mehrheiten, vielleicht angestrebte. Damit das nicht abstrakt klingt: spielt das einmal an Shylock durch oder am Verbot zeitgenössischer Literatur an einigen amerikanischen Schulen.

Umkehrverbot:

Es hat nachweislich auch unter Nazis,  selbst SS-Leuten, einzelne gegeben, die menschlich gehandelt haben; auch unter Stalins Schergen, in jeder Diktatur. Deshalb kann man noch lange nicht die Nazis, Stalinisten in ihrem Verbrechen abmildern oder dies als Argument gegen Kollektivschuld verwenden.

Zurück an den Anfang: in den österreichischenund deutschen Sicherheitsbehörden gibt es faschistische Netzwerke und damit kein Generalverdacht entsteht, muss man die Netzwerke zerschlagen, mit legitimer Gewalt,  die vom Staat und „Volk“ ausgeht. Gegen solche Gegenmaßnahmen zu protestieren heißt, die konkrete Minderheit der Nazis u.ä. im Militär zu schützen, unter Zitieren der vornehmsten Verfassungsartikel, etwa der Meinungsfreiheit. Das ist eine illegitime Umkehrung.

Coda:

Privileging the marginalized heißt eine Politik,  die Minderheiten Vorteile in der Normalgesellschaft erlaubt, damit sie auf die Nachteile ihres Minderheitsstatus aufmerksam machen können. Sie werden sozusagen veröffentlicht und dadurch geschützt.  Will man den Brigadier und die Verschwörer in Österreich schützen? Umkehrung der Freiheiten gilt nicht.  sowenig wie die Verallgemeinerung des österreichischen Erlasses hingenommen werden kann, so wenig gilt die Verteidigung des anlassgebenden Einzelfalls.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Markus_Gabriel 20210207

Demokratur?

Ein Personalrat verhindert die Entfernung eines Coronaleugners und Verschwörers.

„Ein Lehrer an einem Berliner Oberstufenzentrum sprach von Masken als „neuen Hakenkreuzen“ und schwadronierte von „Gesundheitsdiktatur“. Die Senatsverwaltung hat nun versucht, ihn aus dem Schuldienst zu entfernen – und scheiterte laut „RBB“ am Personalrat der berufsbildenden Schulen. Stattdessen werde der Mann – es soll sich um einen Informatiklehrer handeln – abgemahnt und dürfe vorerst nicht mehr unterrichten, sondern solle technische Funktionen übernehmen. Wobei IT-Leute, die die Existenz von Viren leugnen, auch nicht ungefährlich sind“. (Tagesspiegel 5.2.2021)   Mir geht es nicht um Übeltäter, sondern um den Personalrat. Dass sich die Personalvertretung häufig und belegbar vor die unmöglichsten Bediensteten stellt, ist ein Randprodukt der Demokratisierung von Betrieben und Unternehmen, privat und öffentlich. Sozusagen die einkalkulierte Fehlerquote einer „an sic“ richtigen  Mitbestimmung und ihrer Institutionalisierung. Das An sich ist die eingebaute Schwäche der Demokratie, man kann auch sagen, ihre Stärke, denn trotz der Randmisere bleibt sie die
Sinnvollste gesellschaftliche Organisation. Alter Hut, was?

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Kann man das auf die große, gar Außenpolitik, übertragen? Muss man in Kauf nehmen, dass Demokratien sich gemäßigt, „diplomatisch“ mit Ländern vereinbaren, die eigentlich gegen den Strich unserer jetzigen und zukünftigen Politik und Erwartungen agieren. Alter Hut, erneut?

Mir geht es nicht um die Übeltäter, sondern um die als Diplomatie getarnte Interessenvertretung von Nichtdemokraten. Die täglichen Beispiele sind ja einsehbar: Nordstream 2, Autofabriken im Ujgurengebiet in China, Stillschweigen zu Ungarn usw.

Die beiden Probleme, der Personalrat und die Diplomatie, haben eines gemeinsam: es muss einen Zusatz zur Demokratie geben, sonst taugt sie nichts, auch nicht zur Legitimation einer schlechten Entscheidung.

Die Personalvertretung geht davon aus, dass sie für die Rechte und die gute Behandlung der ArbeitnehmerInnen ein Mandat hat, und die Machtverhältnisse etwas ausgleicht. Nicht sie strukturell ändert.

Hier liegt die Analogie zur globalen Außenpolitik, nicht bei den Inhalten. Solche Ausgleiche funktionieren nur dann, wenn die Macht selbst nicht unbegrenzt und unerreichbar ist, was aber nichts an ihrer Qualität ändert. Und das geht nur innerhalb demokratischer Strukturen, nicht zwischen Demokratien und Diktaturen. Darum ist es Unsinn, wenn Herr Platzek, SPD, im Zusammenhang mit Nordstream2 von  „Augenhöhe“ mit Russland spricht, die kann es zwischen Demokratien und Diktaturen nicht geben. Auch nicht zwischen demokratischen und totalitären NATO Partnern.

Warum dann die Analogie zum Schulpersonalrat einer Berufsbildungsanstalt in Berlin? Die Ablehnung der Kündigung erzeugt eine scheinbare Augenhöhe mit dem Verschwörungslehrer. Dieser Schein verwechselt juristische Gleichheit mit praktischer Gleichberechtigung.

In Erwartung etlicher Einsprüche. Der Vergleich der beiden Sphären ist, zugegeben, sehr weit hergeholt. Aber er verweist auf ein Prinzip: Demokratien sind anfällig auf die Hereinnahme von unzuträglichen Akteuren, beinahe um jeden Preis. Das kommt von ihrer strukturellen und prinzipiellen Unfertigkeit. Die autoritären Demokratiegegner, dieser Lehrers also, kümmern sich darum nicht, sie sind bereits fertig mit der Demokratie und können mit einem Freispruch rechnen, oder einer folgenarmen Abmahnung in diesem Fall. So geht’s den Russen und Chinesen auch.

Soll man nun Gewalt anwenden, gegen den Lehrer, gegen die Nawalny-Attentäter und Undemokraten? Das lässt sich nicht so beantworten, da muss man erst abklären, wie weit die Macht in der Demokratie reicht, die Macht der Demokratiebaustelle reicht. Dazu geschieht noch zu wenig.