Atome für den Frieden…äh, Friedhof

Am 26. April 1986 ereignete sich die Katastrophe von Chernobyl. Ich war an diesem Tag auf dem Fußballplatz, habe ich Nachricht in den Abendmeldungen erfahren und wie alle mir Gedanken gemacht.

Kurz danach habe ich mich um die Präsidentschaft der Universität Oldenburg beworben, und ich denke, hoffe nachträglich, dass meine Haltung zur ziemlich einmaligen Radioaktivitätsmessstelle der Uni zu meinem knappen Wahlsieg und zu zwölf Jahren dort verholfen hatte.

Mit der Radioaktivität sozialisiert – Rückwärtserschließung.

In den 50er Jahren hatte meine Großmutter zu Besuch immer Reader’s Digest dabei, also las ich konservative US Mittelschicht von den kurzen Buchauszügen. Ich war vielleicht acht oder neun. Der Arzt hatte einen Fehler gemacht, ein Kind wurde durch eine Strontium-90 Quelle verstrahlt, bald darauf sollte es sterben. Nicht die Entschuldigung des Arztes, sondern die Leidenserfahrung des Kinders und die sorge der Eltern sind mir im Gedächtnis geblieben.

Ein paar Jahre später bekam ich Angst nach einer anderen Lektüre, typisch für einen jungen Hypochonder: Rudolf Brunngraber (1901-1960)[1]: Radium. Roman eines Elements (1936). Ich weiß nur noch, dass die Furcht vor der Strahlung sich Waage mit der Attraktion der Rahmenhandlung hielt.

Diese Balance ist in der kulturellen Behandlung des Themas nicht unüblich. Filme sollten bald kommen: Hiroshima mon amour (Alain Resnais 1959)[2], das letzte Ufer (Stanley Kramer, E.M. Remarque 1959)[3].

Es sollte Jahre dauern, bis ich die Abwehr des Nuklearkriegs ausdehnte und mich von der Idee der Atome für den Frieden löste[4]. Hier lohnt es sich, den Kalten Krieg noch einmal aufleben zu lassen. Der Gedenktag hilft dabei. Die Politisierung der Isotope kannte keine irrationale Grenze, die Strahlung war im Kommunismus gut (beherrschbar) und im Westen schlecht (aggressive) und umgekehrt.

Deutschland hatte seine Anti-Atom-BewegungEN, aber erst mit den Grünen wurde die Politik wirkungsvoller, wenn auch nicht abgeschlossen.

Heute werden die amerikanischen Atombomben aufgerufen. Aber kaum jemand weiß wer Major Tibbets war und sein Flugzeug, die Enola Gay. Das hatte sich damals eingegraben, wie heute Fukushima, Three Miles Island, aber auch Brokdorf, Gorleben – und das früh abgesagte AKW meiner alten Heimat Österreich, Zwentendorf.

Bis heute wirken die Strahlungsbilder meiner Sozialisation nach, beim Schwimmen im kaum strahlenden Schwimmbad von Bad Gastein oder beim Radiologen…ich bin erstaunt, dass sich fast 1 Meter einschlägiger Literatur im Lauf der Jahre angesammelt hat und wie streng ich Robert Jungk in den 90er Jahren an der Uni Oldenburg verteidigen musste, weiß ich noch, warum gegen die, die ausgerechnet auf dem Uniturm die Taube gegen die Bombe gemalt hatten.

Wenn heute wieder eine angebliche Klimalobby für AKW auftritt – weil sie nicht an regenerative Energien glaubt und meint den Staat erpressen zu können – Investitionen aus Steuergeldern, Gewinne an die Betreiber – dann denkt an die Messstelle in Oldenburg, die noch jahrelang strahlende Waldpilze der besorgten Bevölkerung ausgemessen und ausgeredet hatte. Endlich erfolgreicher Widerstand.

*

Wie dekorativ der Atompilz ist, zeigt eine Galerie von sehr vielen unwahrscheinlichen Pilzen, deren die Länge der IT Adresse durchaus würdig ist.


[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Brunngraber

[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Hiroshima_mon_amour

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_letzte_Ufer

[4] https://www.atomenergie.ch/de/aktuell/e-bulletin/atome-fuer-den-frieden-praesident-eisenhowers-vision ; heute im DLF: https://www.deutschlandfunk.de/atome-fuer-den-frieden.724.de.html?dram:article_id=98343

Es kann, muss aber nicht—

Profisportler hassen nichts so sehr wie den 4. Platz in einer Wertung. Keine Medaille…wenn jemand 35. Wird, naja, das war eben ein schlechter Tag. Aber 4….

Wer von uns möchte sein Geld bei der 5. Sparkasse von Wardenburg einlegen? Oder gibt sich zu erkennen als Fan des 2. FC Köln? Oder besucht Sonntags die Messe in der fünften Kirche unserer ziemlich lieben Frau vom Deich?

Schon klar: alles eine Frage der Erziehung und damit der Umgebungskultur.

Fünfter sein tür auf einer raus einer rein vierter sein tür auf einer raus einer rein dritter sein tür auf einer raus einer rein zweiter sein tür auf einer raus einer rein nächster sein tür auf einer raus selber rein tagherrdoktor

Ernst Jandl

Trumps America first! ist eine durchaus konventionelle Erweckungsformel, wo bei niemand so schnell fragt, worin, in und mit welcher Disziplin die USA die Ersten sein sollten, wieder die Ersten. National-identitär heißt das: über all die Ersten.

Made in Germany hat einmal ähnlich gewirkt: was auch immer aus Deutschland kam, war das Beste. Auch hier wurde von der Produktqualität auf alle geschlossen, das aus diesem Land kam. Der Begriff ist eine  „Metonymie“, das Produkt meint uns, und wir sind die Deutschen. Und wenn es Bereiche gibt, wo die Produktqualität schlecht ist, dann hilft solch eine Formel, die Wahrheit der verallgemeinerten Formel über den Einzelfall zu stellen.

Rassismus und Armut in den USA? Geh nach Silicon Valley. Nicht der Schwarze ist Amerika, sondern united we stand. Überall die Ersten sein erzeugt eine Normalität, der sich andere nachzuordnen haben.

Bei uns war es die Qualität, was hier gemacht wurde, ja, was hier gemacht wird, ist gut. Wenn nicht – BER, schwamm drüber. Wichtig bei diesen Normalisierungsbegriffen, dass sie nie, nur unter Strafe und Ächtung, auseinandergenommen und kritisiert werden dürfen.

Wir sind kein Pandemieweltmeister, kein Impf­weltmeister, nicht mal mehr Fußball­weltmeister. Immerhin: Die Zwergkaninchen-Weltmeisterschaft ist fest in deutscher Hand. Eine Erfolgsgeschichte. (SZ 24.4.2021)

*

Das deutsche Schulwesen ist ganz gut, eher mittelmäßig und – es diskriminiert die Mehrheit der aus der Mittel- und Unterschicht kommenden Schülerinnen und Schüler. Gemessen am Reichtum Deutschlands ist das Schulwesen nicht ganz gut, sondern schlecht. Schlechtere Bildungssysteme in ärmeren Ländern sind, im Vergleich dazu, ganz gut.

Das Gleiche gilt für die Universitäten, für den sozialen Wohnungsbau, für die Digitalisierung, für alle möglichen Bereiche, in denen die Allgemeinheit das Lob des Made in Germany singen soll, es zwar nicht kann, aber mitmacht.

Heute wird noch ein weiterer Aufschrei hörbar, wir sind nur mehr auf Platz 13 der Pressefreiheit, u.a. weil nicht nur die Nazis und Querdenker die Journaille behindern, sondern auch Polizisten. Die bekämpfen eher die freie Berichterstattung, anstatt sie zu schützen, und sind auch sonst nicht gerade ein Qualitätsmerkmal unserer Gesellschaft, so wenig wie die anderen Sicherheitsbehörden, viele Gerichte, viele Ämter, … generell gilt, dass die viertreichste Nation der Erde in fast allen öffentlichen Bereichen schlechter ist als sie sein könnte. Was nicht heißt, dass nicht andere noch schlechter sind, aber welche Krankheiten vergleichen wir denn miteinander?

Gegeneinwand: man muss ja nicht immer um Medaillen und Anerkennung kämpfen. Stimmt und stimmt nicht. Kommt darauf an, ob ein paar dumme Richter[1] den Kindern die Masken verbieten, ob der Herr Lindner (noch FDP) und die Nazis von der AfD unisono die Grundrechte für sich entdeckt haben, um ihre Freiheit gegen ein paar Covidtote mehr einzutauschen, und ihre Interpretation auch noch durch die Meinungsfreiheit schützen lassen.

Das mächtige Land ist ein Refugium krimineller Clans (nicht nur Mafia), schlampiger Wegschaustaatlichkeit (Wirecard), peinlicher Unterwürfigkeit gegenüber autoritären Regimen im Umfeld unserer Wirtschaftsbeziehungen (Daimler in China, Nordstream mit Russland) und heuchlerischer Gefolgschaft einer Flüchtlingspolitik der EU, die unschwer anders, menschlicher gestaltet werden könnte (aber natürlich nicht gegenüber den Flüchtlingsverweigerern ganz und gar friedlich)…etc., etc. Bevor jetzt gemurrt wird, ob ich mit dieser Suada völlig die Balance verloren hätte, bevor das viele Gute, das unser Land bewirkt, gegengerechnet wird – weiß ich doch, und ich weiß auch, was viele andere Länder für grauenvolle Dinge machen. Aber mir geht’s doch darum zu fragen: ob man die Macht, die man als sehr großer Player tatsächlich hat, nicht anders, besser, weniger populistisch (Flüchtlinge) oder dilettantisch (Covid) ausüben könnte, wenn man nur…

*

Zu Recht fragen jetzt die Leserinnen, was daraus folgt. Nicht mehr Erste zu sein, bzw. sein zu wollen…das ist so banal, wie die Zahl unserer Nobelpreisträgerinnen gegen die Zahl der Dropouts aus dem Bildungssystem aufzurechnen.

Wahrscheinlich, sicherlich, liegt Annalena Baerbock damit richtig, dass nicht die Regierungserfahrung für eine schlechte Politik, sondern die richtigen Maßnahmen für eine gute Politik der Maßstab sind – die „Erfahrenen“ füttern ja die Populisten wie die Goldfische. Und natürlich setzt sich die AfD auf beinahe alle regierungs- und politikkritischen Bewegungen, beruft sich auf Freiheiten, die den Nazis so wenig zustehen wie anderen Menschenfeinden. Ich weiß, dass dieser Satz bestreitbar ist, wenn die Freiheiten als eine positivistische oder gerichtssprüchliche Faktizität reduziert werden. Aber für mich gilt, dass Freiheiten auch – auch – das sind, was wir mit ihnen machen. Handeln statt nur ableiten, das hätten wir kritisch mehr aus der 68er Zeit mitnehmen sollen.

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Einer raus, einer rein, Nächster sein.

Das war schon einmal so, und nichts schließt aus, dass es nicht wieder so werden könnte. Aber es soll nicht.


[1] U.a. https://www.news4teachers.de/2021/04/familiengerichte-urteilen-gegen-die-maskenpflicht-im-unterricht-und-stuetzen-sich-dabei-auf-argumente-aus-der-querdenker-szene/ oder https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/mitte-thueringen/weimar/weimar-urteil-masken-schule-justiz-corona-100.html…natürlich gibt es jetzt Anzeigen gegen die Richter wegen Rechtsbeugung, aber es geht nicht nur um den Einzelfall, sondern um „die Justiz“, so wie es um Made in Germany geht.

Natur und ein Nachruf

Nun ward der Winter unsers Missvergnügens

Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks;

Die Wolken all, die unser Haus bedräut,

Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben.

(Shakespeare: Richard III 1/1, 1-4)

Da lässt man eines Morgens Laschet und Söder hinter sich, York klingt schon wie Sanssouci, und die Pirschheide grenzt, wenn nicht ans Weltmeer, so doch an die Havelseen, gleich mehrere. Da radelt man, zunehmend unbeschwert, wundert sich, wie viele Gartenbesitzer schon ihre Mährasierer zum Feinschnitt ansetzen, und freut sich darüber, in welch gutem Zustand Radwege und Brücken sind. Der erste vollkommene Sommertag – richtig: Frühling ist eine ausgestorbene Jahreszeit – Gelb und Weiß setzen sich vor grün, und bis auf die Insekten fehlt nichts am Auftakt zur Idylle. Naja, nicht übertreiben, so mancher Neubau stört an seiner Stelle, und statt der kaputten Bahnstation Pirschheide, bei den wirklich schönen Hotels und Campingplätzen, wünscht man sich schon eine intakte Haltestelle. Aber jetzt höre ich auf zu meckern. Es gibt manchmal ein richtigeres Leben im falschen, sei es für zwei Stunden.

Man muss seinen Blickwinkel verengen, um diese zwei Stunden in der heilen Welt abzuradeln, privilegiert in einer ohnedies begünstigten Lebenssituation. Wir schauen ja nicht aus dem Fenster in den Hinterhof der armen Leute, in die Verkehrswege der Zwielichtigen und der unerreichbar Begüterten, wir können es uns leisten, der Totalität der schlechten Umstände dadurch Widerstand entgegenzusetzen, dass wir einfach einmal abschalten. Das können sich die Wenigsten leisten. Zugleich könnte es einem die Freude am Beobachten eintrüben, würde man die Gründe für diese begünstigte Situation während des Ausflugs heraufholen und kritisch analysieren. Das Burnout der Umstände hat einen kleinen Naturpark der Freiheit offengelassen, wohin man schlüpft, indem man sich für zwei stunden losmacht, und schon ist man wie Alice im Wunderland.

Hör auf zu träumen, daraus würde Erich Fried gleich wieder ein Gedicht gemacht haben. Mich treibt diese Spaltung des Bewusstseins je nach Umgebung seit langem um. Nicht trivial. Umgebung ist immer gesellschaftlich, auch wenn sie wie Natur aussieht. Darum ist die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ein Blödsinn, auch wenn sie bestimmte Bereiche der so genannten Reformpolitik erobert. Aber genau daran zu denken ist fast alternativlos, wenn man durch die Landschaft radelt, sofern man nur genau hinschaut. Nun könnte man sagen, ist ja nicht schlimm, wenn man sieht, wie Menschen schön wohnen, sichs grün oder technisch einrichten, soziale oder isolierte Lebensformen wählen, und dazwischen sind Wald und Heide und Ufer…wenn schon nicht Natur, so doch eine naturnahe Kulturlandschaft. Und genau da beschleicht mich das fatale Gefühl, mit dieser Ableitung würde nichts als ein Glättung gleich auf zwei Ebenen versucht politisch durchzusetzen: die Beziehung der Gesellschaft zur Natur als partnering zu beherrschbaren Bedingungen zu unseren Lebensumständen zu machen; und das Private anscheinend intakt werden zu lassen, wie bei meinem Ausflug: da bin scheinbar nur ich mit meinem Körper und meinem Gedanken, abgekoppelt von dem, worüber nachzudenken sonst mein Leben bestimmt.

Nun muss ich mich nicht über die Auflösung dieser Scheinwelt zergrübeln und kann meinen Ausflug trotzdem genießen, nur eben nicht voraussetzungslos. Ich fahre durch die Natur? Unabweisbar der Gedanke an Rudolf Burger, einem Freund seit 1970, der vor zwei Tagen gestorben ist.  Der Physiker war über lange Zeit einer der sperrigsten Philosophen, hat sich mit vielen, auch mit mir, in komplizierte Kontroversen eingelassen, und bleibt dennoch weiterhin aktuell mit der Entschleierung der konsensuellen Kultur. Ich fahre durch die Natur? „Die geschützte Natur ist keine Natur. Sie ist ein Artefakt“, wird Burger in vielen Nachrufen zitiert. Natur als Konstruktion, das wäre die künstliche Trennung, mit der die Ökonomie und die Politik bislang systematisch gegen die Zerstörung des Planeten wirken. Und ich konnte, bei allem Streit, mit Rudolf übereinstimmen, wenn er die Ritualisierung von Erinnerungskultur, auch an die Shoah, als untauglich für eine Verhinderung weiterer Großverbrechen erachtete. Zurück zur Natur. Wenn ich rund um Potsdam radle, dann denke ich einfach eine Natur, deren Zugang durch meine Vorstellung entsteht, die dieser geschützten Natur der Gärten und Forstbetriebe und Ausblicke aufs Wasser und…keine Endgültigkeit verleiht. So unromantisch wie Rudolf Burger sollten viele Politiker, auch der Grünen denken. Es waren zwei gute Stunden.

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Dass viele Nachrufe, auch dieser, das Naturzitat vorbringen, ist so wenig Zufall wie Burgers scharfe Kritik an der allzu glatten Einvernahme der Erinnerungskultur. Hier waren wir beide uns einig. In den letzten Jahren haben wir uns öfter in einem Wiener Caféhaus getroffen, sozusagen im naturfernsten Rückzugsort der wirklichen Naturfreunde.

Ich denke nicht daran, nachträgliche Übereinstimmung mit allen von Rudolfs Überlegungen und Konsequenzen nur deshalb vorzubringen, weil er nicht mehr lebt. Aber sein Tod weckt neben der Erinnerung auch das überzeitliche Gedächtnis an das gute Denken und die Freundschaft.

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Hier wird auch Hannelore Burger (*1946) zitiert, die 2017 gestorbene Frau von Rudolf, Freundin und als Wissenschaftleri, die wohl die wichtigste Kritikerin der Nationalitätenpolitik des alten Österreichs war. Das gehört zusammen, Freundschaft und Denken. Unter den vielen TExten einige:

Burger, H. (2014). Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Wien, Böhlau.

Burger, R. (2005). Re-Theologisierung der Politik? Wertedebatten und Mahnreden. Springe, zu Klampen.

Burger, R. (2019). Multikulturalismus im säkularen Rechtsstaat oder Was auf dem Spiel steht. Rudolf Burger: Multikulturalismus, Migration und Flüchtlingskrise. B. Kraller. Vienna, Sonderzahl.

Burger, R. (2020). Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Jenseits der Linie. R. Burger. Wien, Sonderzahl: 249-269.

(Burger 2005, Burger 2014, Burger 2019, Burger 2020)

Grundrechtsfußball

Rauswurf von Torwarttrainer wird zum Politikum: Der Rauswurf des Torwarttrainers Zsolt Petry beim Bundesligisten Hertha BSC wegen eines Interviews über Migration und Homo-Ehe belastet die Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland. Petry hatte in einem Interview mit der Zeitung „Magyar Nemzet“ die europäische Einwanderungspolitik als „Ausdruck des moralischen Verfalls“ bezeichnet. Der Ungar kritisierte auch seinen Landsmann und Torhüter von RB Leipzig, Péter Gulácsi, der im Februar seine Solidarität mit einer Kampagne für LGBT-Rechte bekundet hatte. Hertha erklärte am Dienstag, Petrys Äußerungen hätten gegen das Bekenntnis des Vereins zu Werten wie Vielfalt und Toleranz verstoßen, deshalb sei sein Vertrag mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden. Ungarns Regierung sieht nun die freie Meinungsäußerung eingeschränkt und bestellte einen deutschen Botschaftsvertreter ein. Der Kabinettschef von Ministerpräsident Viktor Orbán, Gergely Gulyas, erklärte am Donnerstag, der Schritt erinnere ihn an das „totalitäre Regime“ in Deutschland während der Nazi-Zeit.
welt.de, spiegel.de 9.4.2021

Die Faschisten erinnern uns an die Meinungsfreiheit.

Genauso wie die Nazis von der AfD oder die Querdenker verlangen die Feinde der Freiheit nach der Freiheit, ihre Grundlagen zu vernichten. Die Frage, wieweit die Grundrechte auch für diee gelten, die sie beseitigen wollen, ist nicht trivial. Schließlich muss für die radikale Kritik an der gesellschaftlichen Realität und Politik ausreichend Platz sein, damit sie auch gehört und verstanden wird. Das ist mein erster Punkt: Kritik, nicht Negation, oder noch krasser, Imitation. Wenn sich Querdenkerin Jana aus Kassel mit Sophie Scholl vergleicht, ist das Imitation. Wenn di Umdeutung der Grundrechte in die Hand einer Nazipartei gelegt werden soll, weil ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung das so will, kann das nur diskutiert werden, wenn diese Umdeutung eine nachvollziehbare Kritik enthält.

               Du sollst dem Teufel nicht glauben, auch wenn er die Wahrheit spricht. (G.M.Marquez)

Es kommt nicht darauf an, ob und wieweit eine Aussage der Nazis oder aber ihrer demokratischen Gegner für sich wahr ist. Es kommt darauf an, was daraus gemacht wird. Viele Nazis sind nicht klüger oder dümmer als wir. Ob eine Wahrheit richtig ist, ob sie „stimmt“? das ist ebenso wichtig wie die Frage, ob Freiheiten wahr sind und deshalb etwas ermöglichen.

Das Recht Rechte zu haben (H. Arendt).

Das übersehen viele Gerichte, die den Nazis aufgrund der Grundrechte Freiheiten einräumen, die sie uns oft verbieten, weil wir sie SO gar nicht fordern.

Orban benutzt die juristische Verteidigung von Nazis in gegenwärtigen Prozessen.  Erdögan beruft sich wie der Teufel auf die Religion. Der Heimatschutz kommt unschuldig daher…alles nur Sprache?

Und das Wort wird Tat und wohnt mit uns. In Halle, Hanau, KSK, … SO. Was vorher als Meinung frei und geschützt war, wird nach der Tat nicht mehr anrufbar, weil ein Beweismittel.

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Bei der AfD, bei Erdögan, bei Orban, sind die Taten imminent. Auch bei den Rechtsradikalen in den deutschen Sicherheitsorganen Bundeswehr, Polizei, Verfassungsschutz…bei denen vielfach sozusagen im Alarmzustand, es braucht nur einen Funken, damit „es“ losgeht. Jetzt zum Heimatschutz. Ganz klar: Frau Kramp-Karrenbauer ist selbst weder faschistisch noch unterstützt sie willentlich und wissentlich die Nazis in Deutschland. Die ihr unterstellten prekären Einheiten stehen also paradox nicht gänzlich unter ihrem Kommando, nur teilweise. Was sie rechtsbrüchig daneben tun, wird nicht oder zu wenig kontrolliert und vor allem juristisch geahndet. Der Heimatschutz zeigt ihre Schwäche. Die Intention ihrer militärischen Vorfeldorganisation kann man durchaus diskutieren, frei und kritisch. Aber der Begriff ist fatal. Nein, sie kann ihn nicht von den rechtsradikalen Begriffswurzeln heilen. Heimat  für wen? Von wem?

  • Zukunft Heimat. Wisst ihr noch, was das ist? Lest nach über den Fraktionschef Dr. Berndt.
  • Höcke gegen den Familiennachzug von Flüchtlingen: Er wolle „daran erinnern, dass wir uns hier nicht in der rechtlichen Sphäre bewegen, sondern in der politischen Sphäre“.
  • 25% aller Menschen, die in Deutschland leben, haben Migrationshintergrund. Welche Heimat werden sie schützen wollen?

Wenn Nazis sich dazu versteigen, demokratisch gestützte Handlungen als „Nazipraktiken“ zu denunzieren, wie das Orban oder Erdögan tun, dann sind das keine boshaften Sprachspiele; dann kann man sich durch genauere und selbstkritischere Fortsetzung der eigenen Praktiken dagegen wehren, und mit der Härte der Grundrechte, die unter genau bestimmten Umständen auf diese Nazis nicht anzuwenden sind; dazu zählen auch sprachkritische Praktiken, die dann nicht zurückweichen dürfen, weil es ein zu nahes sprachliche Umfeld gibt. Das hat die Bundeswehrministerin mit dem Heimatschutz gemeint…gut gemeint ist oft das Gegenteil von Kunst, oder in diesem Fall, Kompetenz.

*

Wenn die Rechten die Grundrechte gegen die normalen Menschen mobilisieren, dann ist da etwas nicht in Ordnung. Die Menschenwürde ist nur unantastbar, solange die Menschen leben und würdig leben können. Das können sie hier und nicht in der Türkei oder Ungarn.  Die Heimat der Menschenwürde ist auch nicht national definiert. Es gibt andere Rechte, die verhandelt werden müssen, z.B. in Zeiten der Seuchenbekämpfung.

Noch gewichtiger ist die Reaktion von Nazi Höcke auf das Flüchtlingsproblem: ja, zunächst ist es wirklich politisch und nicht juristisch.  Aber beide Sphären bedeuten bei Höcke etwas anderes als bei uns. Das können wir nachweisen, aber nur, wenn wir nicht zulassen, dass die Nazis oder nationale Identitäre nicht voraussetzungslos auf der gleichen Grundrechtsebene agieren dürfen. Sie wollen den Ast absägen, auf dem wir sitzen, nicht den, auf dem sie selber sitzen. Haben sie denn dann gar keine Rechte? Doch, hinreichend viele, wie ja ganz viele Urteile der Gerichte deutlich zeigen, oft schlechte Urteile. Aber unser Problem ist ja gar nicht, ihnen Rechte einzuräumen, sondern politische Verhältnisse zu schaffen, in denen sie nicht handeln können.

Nachwort: das ist alles viel zu kurz argumentiert. aber der Auslöser war ja bei Hertha BSC Berlin, und Ungarn gilt ja als EU Mitglied. die AfD möchte, dass wir die EU verlassen…und Ungarn soll bleiben?

Drohungen sind oft nur Drogen

EU lotet Chancen für Ausbau der Beziehungen zur Türkei aus: Erstmals seit einem Jahr sind EU-Spitzenvertreter wieder mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zusammengekommen. Bei einem Besuch in Ankara sprachen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel mit Erdogan über die Zukunft der Beziehungen zwischen EU und Türkei. Es gehe um eine stärkere Kooperation, die für beide Seiten profitabel sei, erläuterte von der Leyen nach dem Treffen. Sie sprach von einer Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, einer Modernisierung der Zollunion und einer intensiveren Kooperation bei Zukunftstechnologien im Bereich Umwelt und Digitales. Zudem stellte von der Leyen Finanzhilfen zur Unterstützung der Flüchtlinge im Land in Aussicht. Voraussetzung sei aber, dass Ankara die Rückführung illegaler Migranten von den griechischen Inseln wieder aufnehme. Die Kommissionschefin betonte, die EU werde auch in Zukunft nicht zögern, negative Entwicklungen in der Türkei anzuprangern. Die Achtung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit seien für die EU von entscheidender Bedeutung. Der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen sei zutiefst besorgniserregend. Michel erklärte zum Auftakt der Gespräche, die EU erwarte von der Türkei eine nachhaltige Deeskalation, um eine konstruktivere Agenda im beiderseitigen Verhältnis zu schaffen. Scharfe Kritik an dem Besuch der EU-Spitzen in der Türkei äußerte der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir. Erdogan wolle die Opposition ausschalten, steige aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen aus und bringe Hunderttausende Unschuldige vor Gericht, schrieb Özdemir auf Twitter. Dass sich die EU-Spitzen nun mit Erdogan träfen, „um Geschenke zu machen“, sei „Brüsseler Selbstverzwergung“.
tagesschau.de, n-tv.de, rnd.de, dw.com tagesspiegel online 7.4.2021,

Das kann ein Argument sein, die Türkei aus der NATO zu entfernen, und anderen demokratiefeindlicheren Mitgliedern den Ausschluss glaubwürdig anzudrohen.

Gegeneinwand: es war vor allem die CDU, also Deutschland, das vor Jahren die Aufnahme einer damals noch demokratischeren Türkei in die EU blockierte.

Aber: EU ist nicht NATO, und mit der Türkei kann man international nicht zusammenarbeiten, ohne sich selbst  zu beschädigen.

Gegeneinwand: stimmt, aber eine Türkei außerhalb der NATO ist für uns alle eine größere Gefahr, wenn sich Erdögan mit Russland oder dem Iran oder Saudiarabien und anderen Europagegnern verbündet.

Aber: in der Flüchtlingspolitik haben wir uns von der Türkei abhängig gemacht und das müssen wir jetzt bezahlen.

Gegeneinwand. Stimmt, aber die türkischen Übergriffe gegen Flüchtlinge kompensieren den Nutzen der Aufnahme von mehr als 2 Millionen nicht.

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Ich bin nach wie vor dafür, die Türkei aus der NATO auszuschließen und die Politik eines extremistischen destabilisierenden Kulturkampfes gegen die Demokratie zu beenden. Aber wie?

Krieg mit Griechenland wegen Öl und Gas riskieren? Unsere fatale Flüchtlingspolitik erst revidieren und dann die Türkei korrigieren? In Syrien eingreifen und von daher die Türkei unter Druck setzen?

Wir haben uns daran gewöhnt, dass klerikofaschistische Regierungen (Polen), faschistische (Ungarn) und autoritäre Systeme Teil der EU sein können und dürfen. Wir haben uns an die Türkei in der NATO gewöhnt. Bevor wie eine Entwöhnungskur politisch durchmachen, bleiben nur Appelle, zugegeben zahnlos. Wir können sie aber nur politisch durchmachen, wenn wir unsere mehr oder weniger verdeckten nationalistischen, ethnozentrischen, fremdenfeindlichen Residuen auch in Angriff nehmen. Damit würden wir die Opposition in der Türkei gleich mitunterstützen.

In Belorus möchte Frau Tichanowska  zu recht, dass wir die Opposition so stärken und uns nicht kaltkriegerisch einmischen.  Das gleiche könnte  für die Türkei gelten. Dann aber müssen wir dort Druck ausüben. wo wir es können

Vielleicht machen wir wieder Außenpolitik?

April, April…

1         Whan that Aprill with his shoures soote
 :              When April with its sweet-smelling showers
2         The droghte of March hath perced to the roote,
               Has pierced the drought of March to the root,
3         And bathed every veyne in swich licour
               And bathed every vein (of the plants) in such liquid
4         Of which vertu engendred is the flour;
               By the power of which the flower is created; Geoffrey Chaucer, Canterbury Tales,1-4    
Wie schön, dass schon im 14. Jahrhundert Frühlingsgesang die Geschichten einleitet, die wir für unsere Kultur und Politik gut brauchen können.   Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich dieses Langgedicht im Studium für die Prüfung vorbereiten musste.   Heute machen einige Unentwegte ihrer Aprilscherze, deshalb zur Unzeit, weil zu viele derartiger Scherze als Politik, alternativlose Entscheidungen oder zum Prinzip erhobene Uneindeutigkeit dem so genannten Volk angeboten werden – und dann erwartet man Loyalität, Vertrauen und patriotischen Gehorsam.        Frühlingsgrauen; MORGENGRAUEN   In einer heftigen Auseinandersetzung wurde mir entgegengehalten, dass diese Beschreibung auch die verallgemeinernde Haltung von AfD und Querdenkern sei.  Das ist historisch insoweit richtig, als natürlich die Politik, die Politiker, niemals abdecken, was im konkreten, in einer bestimmten Situation von bestimmten Menschen wirklich getan und unterlassen wird.     
Im Extrem gilt das für die Beispiele von individuellen Nazis, Stalinisten, etc., deren vereinzelte Haltung oder Praxis doch KEINE RELATIVIERUNG IHRES POLITISCHEN LAGERS zulassen.  
Wir haben heute KEINE EXTREME SITUATION. Aber natürlich sind die Wahrnehmung der politischen Praxis Anlass genug,  das Ausmaß  von Loyalität, Vertrauen und patriotischem Gehorsam zu überprüfen. Andererseits bietet die Coronapandemie ziemlich bizarre und einzigartige Einblicke in die Schwächen „der“ Politik, Beispiele – Nordstream 2 und die doppelbödige Unmoral, Flüchtlings-Unmenschlichkeit, Nachsicht gegenüber den rechtsradikalen Rhizomen in allen Sicherheitsorganen, Klimazynismus….in der Weimarer Republik waren es vor allem wirtschaftliche und verfassungsbezogene Brüche, bei uns ist es die problematische Unentschiedenheit zwischen Ausnahmezustand  und verordneter Normalität.   Aber wir, aufgeklärte, selbstkritisch selbstbewusste demokratische BürgerInnen, sind doch nicht die einzigen, die die gleichen Beobachtungen machen. Wir können nicht verhindern, dass die Extremisten, in diesem Fall die rechtsradikalen Netzwerke, das Selbe beobachten und für sich ausschlachten. Wir können verhindern, dass deren Kontext uns zugerechnet wird, wenn wir die gleichen Beobachtungen machen: DAS IST POLITISCH ANGEMESSEN, wenn wir entsprechend handeln. * FRÜHLING. Chaucer denkt an die Macht, die das Erwachen der Natur lenkt. Wir denken jetzt nicht an Gott oder die unwandelbaren Gesetze der Natur. Denn letztere haben ja die verheerenden Folgen menschlichen Handelns zu schrecklichen Prognosen verstärkt. Umgekehrt,  was ich an Frühlings-Erwachen im Park von Sanssouci täglich sehe, dann steht diese Hoffnung auf schwachen Stützen. Chaucer empfiehlt eine Wallfahrt. 16         Of Engelond to Caunterbury they wende,
               Of England to Canterbury they travel,
17         The hooly blisful martir for to seke,
               To seek the holy blessed martyr,
18         That hem hath holpen whan that they were seeke.
               Who helped them when they were sick.   Keine Angst,  wir sind nicht die hilfreichen Märtyrer. Aber wir wissen, was die tausenden Hilfeleistenden, v.a. wenn sie nicht die Krise einfach verwalten, machen. Sie handeln. Und wir können da mitmachen. DAS ist die Unterscheidung gegenüber der Politik  der Politikverachtung.
 
Beobachten allein, analysieren allein – hilft nicht, muss aber stattfinden. * Über gelungene Aprilscherze darf und muss man lachen. Ich erinnere mich daran, dass die österreichischen Medien am 1.4.1954 Stalin im Kaukasus wieder lebendig erklärt haben. aber der Inhalt des Scherzes ist nicht lustig, sondern die Tatsache, dass viele wirklich erschrocken sind…wie schwach wir bei jeder Falschmeldung sein können.   We help them, when they are sick.