Die Rechten fördern die Rechten

Man hat den Eindruck, dass die deutsche Rechte die deutschen Rechten nach Kräften fördert, in der Justiz, und in den Medien. Dass die AfD die Grünen in der Meinung des Pöbels überholt hat, ist so wenig demoskopisch brauchbar wie die Voraussagen über eine Niederlage des türkischen Diktators haltbar waren. Ganz Europa driftet nach rechts, wiederholt teilweise Bewegungen von vor dem Zweiten Weltkrieg und teileweise die Revanche am Versagen der hoffnungsvoll hochgeredeten Sozialdemokratie. Man braucht nur die IT Schlagzeilen von t-online oder der Welt zu lesen, ganz ohne Inhalte, es wiederholt sich wie das Ave Caesar solange, bis es das Volk wiederholt, so wie die Türken eben sozial gut gehütet ihren heimischen Diktator feiern. Das alles ist politisch nichts besonderes und auch erklärbar.

Mich irritiert viel mehr das Fehlen von Argumenten der Opposition gegen eine Rechtsentwicklung, die ja nicht unbedingt an der Ausbildung der derzeitigen Juristen allein liegt, die ja nicht einen rechten Medienboom zur Basis hat. Mir scheint, vorsichtig angedacht, dass wir (ich und andere Nichtrechte) das Argument nicht so wirklich ernst genommen haben, dass die überzogene Individualisierung des Gesellschaftlichen (also nicht des privaten Lebensstils, sondern der Haltung zum Volk, in dem man sich befindet) an dieser Rechtsentwicklung auch einen Anteil hat. Überzogen heißt, dass gemeinschaf- tliche, kollektive politische Meinungsbildung und Kritik dem Recht geopfert wird, man selbst contra factum „frei“ zu handeln, freiheitlich, wie die rechten Liberalen sich ja auch bezeichnen, bis sie ganz rechts sind, wie die FPÖ in Österreich.

Und wenn rund um uns alle rechter geworden sind als sie es bis vor einiger Zeit waren, dann verschiebt sich der Median. Dann kommen die Söders aus der Hauptstadt der Bewegung und erfinden die Anklage des Terrorismus, wo Konfliktmoderation angezeigt wäre, dann kommen die Neoliberalen mit ihrem betonierten Geschwindigkeitswahn, der ja nur ihre (politische?) Impotenz verdeckt , dann kommt Politikstil der „Realpolitik“ zu neuer Achtung.

Wissen wir alles? Wenn ja, gut so. Ich glaube, man muss hier noch genauer nachdenken und forschen, denn so klar sind ja die Auswirkungen des neuen Faschismus nicht, der sich in anderem Gewand zeigt als seine Vorfahren.

Gehts nicht billiger? Ich glaube nicht, denn Faschismus ist etwas anderes als „radikal konservativ“ und ähnlich bezeichnete Verkleinerungen des Problems. Und wenn es dann wieder einmal zu spät ist, bietet das genügend Stoff, biedermeierisch verschwiegen über die nachzudenken, die uns das eingebrockt haben.

Scholzogan und Erdölz

Dass ausgerechnet Cumex Kanzler Scholz dem Diktator Erdögan als Erster zur Wahl gratuliert, ist, genau betrachtet, kein Wunder. Menschenrechte zählen für den schweigenden Popanz wenig, nicht nichts, aber wenig. Er hofft, mit den demokratiefeindlichen Neoliberalen eine Koalition fortzusetzen, wenn man nur die Grünen jagt, an Umweltschaden leidet Scholz ohnedies nicht, davor schützt ihn sein Habitus.

Ich gratuliere Herrn Scholz zu seiner Gratulation. Sich zu offenbaren wie er es getan hat, zeigt, was Deutschland noch vor sich hat.

100 na und?

Rose Albach-Retty war eine berühmte Schauspielerin, die 105 Jahre alt wurde, die in der Nazi-Zeit auch brillierte und danach weiterhin berühmt war, bis zu ihrem Ende. Angeblich hat sie mit 101 wieder zu rauchen begonnen, und mit 102 nahm sie beim Stiegensteigen im Burgtheater den Arm eines 86 Jährigen und sagte, sie sei ja nicht mehr hundert.

Es gibt viele Hundertjährige, aber nur wenige schaffen es in die Medien. Viele, die schon lange vor dem Geburtstag dement sind oder schlicht den öffentlichen Äuglein entgehen, schaffen die Hürde auch ohne Gemeindeblumen, Bürgermeister und Ständchen.

Nicht aber Prominente, in welchem Zustand Sie und ihre Afficcionados auch sein mögen. Henry Kissinger ist hundert. Na und? Mein Vater, der aus der gleichen Gegend wie er stammte, und ihn kannte, sagte, wenn man ihm weiße Socken gegeben hätte, wäre er zur HJ gegangen. Wissen wir nicht.

Er war ein wichtiger US Politiker, er gesteht – was heißt: gesteht, er sagt sie eben – seine Fehler ein, dann können Journalisten und andere Gratulanten ihn ungestört hochleben lassen. Was heißt das „Fehler“. Vietnam, Kambodscha, Chile, Argentinien. Das reicht schon, es gibt noch mehr. Demgegenüber steht kluge Geschichtsschreibung (Metternich), demgegenüber steht Nachhaltigkeit beim Wirken für die deutsche Einheit, demgegenüber steht ein globales Denken auch gegen die deutsche Zwergstaaterei im Denken…Lest bitte die Zeit (Do), den Tagesspiegel (Sa) incl. Joschka Fischer (ziemlich gut),. den Freitag (Fr).

Und? die menschlichen Opfer seiner Politik – mehr viel mehr als die anderer PolitikerInnen? Und? Die Folgen seiner Politik, z.B. in Lateinamerika und Asien? Ich hab noch 30 dreckige amerikanische Namen, 50 russische und mindestens 10 deutsche und n+1 österreichische. So dreckig? dreckiger? so ambivalent – er hat ja auch Gutes getan, nicht?

*

Unabhängig vom Geburtstag wäre ein Würdigung und Kritik auf hoher Ebene gleichermaßen angemessen. Und man müsste nicht das Eine gegen das Andere ausspielen. Dass er sehr weit rechts stand, wissen wir, das tun andere auch. Dass Rechte auch klug sein können, bestreiten nur Linke in der Kaffeehausblase, dass Kissinger sogar sehr klug, sagt über seine Moral und seine Politik nicht viel aus. Aber die Rhetorik seiner KommentatorInnen zum 100er, die Unsicherheit „was denn nun?“ irritiert. Ist sein Geburtstag ein Ablass – wie nach einer Wallfahrt zu den Tempeln der Erinnerung?

Ich frage das nicht, weil er mich NOCH interessiert. Für Historiker ist er spannend, und für uns, wenn diese etwas aus seinen Handlungen rauslesen, das wir für die heutige Politik brauchen können. Aber das hätte man schon im letzten Jahr machen können und wir werden sehen, ob ers mit 101 noch ins Feuilleton schafft.

Bitte abrüsten! Klima klebt am Bewusstsein

DER SPIEGEL 24.5.2023

Münchner Generalstaatsanwaltschaft ändert Warnhinweis zu »Letzter Generation«

Artikel von Marc Röhlig • Gestern um 15:55

Die Behörden in Bayern haben im Zuge der Razzia gegen die »Letzte Generation« auch deren Homepage gesperrt. Ein Warnhinweis stufte die Aktivisten dort bereits als kriminelle Vereinigung ein. Nun wurde der brisante Teil geändert.

Münchner Generalstaatsanwaltschaft ändert Warnhinweis zu »Letzter Generation«

Münchner Generalstaatsanwaltschaft ändert Warnhinweis zu »Letzter Generation«© @stephanpalagan / Twitter

In sieben Bundesländern sind Beamtinnen und Beamte in einer großen Razzia gegen die Klimaschutzgruppe »Letzte Generation« vorgegangen. Auch die Homepage der Aktivistinnen und Aktivisten wurde gesperrt. Wer sie aufrufen wollte, konnte dort hingegen einen Hinweis der Generalstaatsanwaltschaft München und des Bayerischen Landeskriminalamts lesen.

Die Homepage sei »beschlagnahmt« worden, hieß es da. Und weiter: »Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar! (Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!)«

Der Tonfall und die Wortwahl wecken unangenehme Erinnerungen. Aber bitte – so, wie Bayern seine Klientel schützt, wäre hier Abrüstung schon moralisch geboten, politisch ebenso, und juristisch – da hat Deutschland noch einen längeren Weg vor sich. Nancy Faeser sagt: „Polizei und Justiz nehmen Straftaten nicht hin, sondern handeln – so wie es ihre Pflicht ist“, wenn das nur überall so wäre, wenn es nicht die Justizdeals mit den Reichen gäbe (Juwelenräuber, Dieselvergehen etc.), oder auch die ja bekannten Rechtsverstöße der Polizei, dann könnte man das ja abnicken. Aber so unangefochten rechtsstaatlich sind Polizei und Justiz eben nicht – mehrheitlich schon, aber eben nicht über alle Zweifel und Abweichungen erhaben.

Die wirklichen kriminellen Vereinigungen können sich freuen, aber das steht auf einem andern Blatt. Man treibt die Klimakleber förmlich in die Radikalisierung, und im Schatten dieser Bahnsteigkarten-Rechtsstaatlichkeit machen sich die Klimaverweigerer lustig oder breit. Damit meine ich, dass die Betoniererfraktion der Bundesregierung unter Berufung auf den Rechtsstaat die nächste Generation schädigen darf (Bahnsteigkarte gegen den Klimaschutz), während der Protest – ja, z.T. unangemessen, habe ich immer auch so gesagt und empfunden – verbal hochgejubelt wird zur Konfrontation des Staates mit seinen Protest- und Randgruppen. Damit wird nicht nur dem Pöbel, sondern auch verunsicherten Bürgern eine Relativierung des Klimaproblems geradezu auf den Jausentisch platziert. Weniger Staat, mehr Gesellschaft, wäre hier meine erste alternative Formel. Und dann: wenn man die Töne aus der Regierung genau hört, tönen da wieder die Alten gegen die Jungen. Was zum weiteren Verlust von Respekt und integrativer Haltung zu demokratischen Institutionen führt.

Ein Apercu: nach der bayrischen Verordnung darf man den Klimaklebern nicht spenden. Ok, wenn das der Logik des StGB § 129 entspricht. Viele werden eben nicht per Kto nachprüfbar überweisen, sondern mehr oder weniger bar zahlen, was den Herrn Staat dazu bringen wird, die Kontakte der so Ausgegrenzten zu überwachen. Ob das dem Rechtsstaat und dem Klima hilft…?

Mit Drohungen kann der Staat wenig erreichen, das wissen wir eigentlich.

P.S. Hat mit Klima wenig zu tun, aber mit Justizverhalten:

Urteil in Dresden: Linksextremistin Lina E. dankt Unterstützern

Artikel von dpa • Gestern um 16:05

Und die UN reagieren richtig:

Klimaaktivisten müssen geschützt werden

Nach der Razzia in Deutschland gegen die Protestgruppe „Letzte Generation“ haben die Vereinten Nationen die Bedeutung von Klimaschützern und Klimaschützerinnen und deren Aktionen hervorgehoben. „Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiterverfolgt. Sie müssen geschützt werden, und wir brauchen sie jetzt mehr denn je“, sagte der Sprecher von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, Stephane Dujarric, der dpa in New York. dpa 26.5.2023

Rosen für den Staatsanwalt

An der Impfpolitik kann man den Rassenhass und die staatlich geduldete Dummheit. demonstrieren (Die Erde ist eine Scheibe) festhalten. Es geht nicht um Meinungsfreiheit, sondern um Antisemitismus.

„Die Generalstaatsanwaltschaft hatte Bhakdi Volksverhetzung in zwei Fällen vorgeworfen. Demnach sollte Bhakdi im April 2021 im Zusammenhang mit heftiger Kritik an der Impfpolitik Israels auch gegenüber in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden zum Hass aufgestachelt und diese als religiöse Gruppe böswillig verächtlich gemacht haben.“

Wieder einmal zeigt sich die rechtslastige Tradition der sog. Unabhängigen deutschen Justiz in Reinkultur. Da wird ein notorisch bekannter Querdenker vom Vorwurf der Volksverhetzung mit einer absurden Begründung freigesprochen:

„Der Richter sagte in seiner Begründung, bei mehrdeutigen Aussagen müssten auch andere Deutungen berücksichtigt werden. Es sei nicht vollständig auszuschließen, dass Bhakdi mit seinen Äußerungen nur die israelische Regierung und nicht das Volk meinte.“ Die Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft kündigte Rechtsmittel an. (DPA, 23.5.)

Die mehrdeutigen Aussagen des Richters in Plön lassen auch andere Deutungen zu, es ist nicht auszuschließen, dass er mit seinem Urteil „nur die Juden“ und nicht „die Menschen“ meinte.

Dank an die Staatsanwaltschaft.

Neoliberaler Pöbel – weg mit der FDP

Ja, sind Sie denn verrückt, solche Pöbeleien auf eine liberale Partei loszulassen, der einmal Hamm Brücher, Baum, Hirsch angehört haben? Sind Sie vielleicht so etwas wie FDP feindliche Pflasterkleber?

Ich bin nicht verrückt, und ich schimpfe selten, aber mit Bedacht. Ich spreche über den neoliberalen Pöbel der FDP, nicht über die ganze Partei, ich kenne dort anerkennenswerte, anständige Liberale. ABER solange die sich noch mit dem Mantel von Lindner oder Wissing bedecken, um sich und uns keine Blöße zu geben, solange verlange ich: weg mit der FDP, und Vorsicht beiihrem Schutzherrn Scholz.

Nochmals: mit wem man nicht ernsthaft reden, kritisieren und handeln kann, den kann man nicht auf Korrektur ansprechen. Pöbel heißt hier, dass er vertikal durch alle Klassen strebt und nicht nur die Verachtung der Oberen, der Reichen, für die Abgehängten zeigt. Aus dem Pöbel wachsen nicht nur populistische, auch faschistische, autoritäre oder schlicht unsinnige Bewegungen, die sich der Politik bemächtigen, indem sie die Ökonomie und die damit verbundenen Ängste kapern. Genau das machen die Luxusführer der FDP, indem sie plötzlich an den Willen des Volks appellieren, den sie gerade selbst manipulieren. Klar, Klientelpolitik, Partikularismus.

Der Klimawandel duldet viele, auch widersprüchliche Gegner. Aber er wartet nicht, bis die bestochenen Gegner der klimarettenden Politik ihre Domizile gerettet haben. Die Klientelpolitik der FDP hat immer schon kleine Gruppen von Gewinn-Einheimsern begünstigt und gibt sich volksnah. Wann war das bei den Liberalen schon einmal, mehrmals?

Jaja, rudere nur zurück. Nach deiner Überschrift braucht man nicht weiterlesen. Die Opposition darf auf den Grünen herumtrampeln, weil das ihre Funktion ist. Klar will sie die verlogenen Neoliberalen der Koalition abspenstig machen. Ist ok. Aber dass die FDP auf den Grünen herumtrampelt, zeigt, dass es ihr egal ist, wer in der nächsten, übernächsten Generation verdurstet, nicht nur im globalen Süden, nein, auch hier. Dass das aggressive Verhalten nichts mit Fehlern der Grünen und deren Korrektur zu tun hat – alles konzediert – sondern arrogante Verachtung derer zeigt, die ohnedies keine Zukunft kennen, das provoziert meine Wortwahl.

Da man bekanntlich kein Volk wählen kann, muss man seine Führer an- und abwählen. Naja, Führer ist der Lindner nicht wirklich, ein Fyrerlein. Und da gerade nicht abgewählt wird, muss man ihn und seine Gefolgschaft unter Druck setzen, unter öffentlichen Druck, ob mit meinem Worten oder mit geschmeidiger Polit-Liturgie: Der Pöbel würde sich lieber der FDP anschließen als den Grünen, das ist klar. Aber der Pöbel soll und darf nicht regieren, er muss es auch nicht. Der Schutzpatron von Lindner, Sankt Olaf, will heute die SPD feiern und wird im Rundfunk mit einem Notar, aber nicht mit einer politischen Leitfigur verglichen: Zukunft hat er keine, und wenn er nicht aufpasst, die gefeierte SPD auch nicht. wenn er sich dann auf die Luxusurlauber stützt, statt auf nachdenkende und arbeitende Menschen, ist seine Zeit vorbei.

Jetzt fragt Ihr, warum ich das so ausmale. Soweit ich zurückdenken kann, bei schwarz-grünen Koalitionen hat man sich wenigstens an die Abmachungen gehalten.

Wenn ich den Feldzug gegen die Grünen allenthalben betrachte, dann stärkt der nur die AfD, zwingt die CDU sich gegen rechts abzugrenzen und belässt die FDP dort, wo sie ist, bei den 7%, die eben den Nörglern nachlaufen, solange sie noch Luft zum Atmen haben. Mit der FDP kürzer als mit demokratischen Parteien, auch wenn die nicht so populär erscheinen.

Steht auf für Habeck und die grünen Gesetze

Zoff um Graichen und Habeck: Eine Koalition der Pöbler und Trottel

Artikel von Gerhard Lehrke • Berliner Kurier, 18.5.2023

Bitte lest diesen Artikel, er fasst viele erregte Abwehrrhetorik gegen die Autotrotteln, Häuslefanatiker, und Klimablinden zusammen. Man muss nicht selber schimpfen. Der Artikel kommt nicht überraschend. Wenn der kleine Schwanz FDP mit dem großen Hund Deutschland wedelt und sich mit den Ideen von Merz verbindet, das Klima der übernächsten Generation zu überlassen, dann verschleifen sich die Differenzierungen. Wenn man das Richtige dauernd und immer schärfer wiederholt, schleift es sich ab und wird von scheinbar aktuelleren Informationen überholt. Dass wir die 1,5° nicht erreichen, wurde gestern öffentlich verkündet – und kaum Reaktionen. Ja, mein Freund, ich „eifere“, und doch sind die Reaktionen auf die Klimakleber (falsche Handlungen, richtiges Ziel) fast schon eine Entschuldigung für sie – abgesehen davon, dass zu Recht gesagt wird, sie würden endlich den KÖRPER in der Klimakatstrophe wieder thematisieren. Klima ist ja keine Frage der Statistik, sondern des Leidens unter der Hitze und des früheren körperlichen Verfalls, nicht nur der Oberschicht.

*

Das ist nichts Neues, ich weiß. Aber ich wehre mich gegen das Abschleifen des Akuten. Und ich bringe es in Kontext mit der bereits öfter geäußerten Vermutung eines globalen, also auch europäischen Fortschreitens der Reaktivierung von Faschismus als antidemokratische und effektive scheinbar alternativlos handelnde Herrschaftsform.

Das lässt sich wissenschaftlich belegen, aber vor allem – das ist mir wichtig – beobachten. Das heißt, es ist nicht so wichtig, ob es den gerne geglaubten Dogmen der politischen oder sozialen Theorie zu einem großen Maß entspricht als dass es sich wirklich ereignet: von Assad in Djedda bis zur absurden Toleranz gegenüber den Klimaleugnern, man möchte sagen: der geistigen Covidverbreitung. Hier erscheint es mir wichtig, in Richtung auf mehr Aufklärung zu gehen – also in Erziehung, Volksbildung, öffentlicher Infragestellung des scheinbar Selbstverständlichen und auch eines Vorrangs des „Sagens von Wahrheiten“ angesichts der Wirklichkeit. (Vgl. Michel Foucault: „Genauer gesagt, ist Parrhesia eine verbale Aktivität, in der ein Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit äußert und dabei sein Leben riskiert, weil er das Aussprechen der Wahrheit als Pflicht erkennt, um andere Menschen zum Besseren zu bekehren oder ihnen zu helfen (wie auch sich selbst). In Parrhesia verwendet der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen, das Risiko des Todes statt Lebensqualität und Sicherheit, Kritik anstelle von Schmeichelei, sowie moralische Pflicht anstelle von Eigeninteresse und moralischer Apathie“ (2010)

Das kann subjektiv negative Folgen haben, Verlust des Wertgeschätztwerdens, des Wohlstands, vielleicht mancher gesetzlich geschützter Sphäre – was werden wir verlieren, wenn wir das nicht tun? u.a. das Leben unserer Nachfahren.

Ich weiß, das übersteigt das Verständnis der FDP Führung, Lindner und Wissing und Co. Ehrlicherweise nicht der ganzen Partei, da gibt es noch ein paar Liberale. Aber die neoliberale Koalitionszerstörung ist nicht endlos hinnehmbar. Nun rege ich mich über diese beobachtbare Wirklichkeit gar nicht sooo auf. Aber ich wünsche mir mehr reflektierten Widerstand, reflektiert: das heißt mit Abstand zur personalisierten Pöbelei, wie sie zur Zeit von den meisten Medien und einigen Politikern der dritten Reihe veranstaltet wird. Das ist kein Widerspruch zur personalisierten Kritik, aber nur kritisch sein ist ein Privileg der Oberschicht. Die weniger Begüterten müssen für ein gutes Überleben kämpfen und sind deshalb nicht gut in die Feinheiten des austarierten Diskurses einzubinden. Und das heisst wahrnehmbare und sich selbst mit erklärende Praxis, dann, und vielleicht nur dann, kann man die Massen odes bedürftige Bürgertum mitnehmen, und dann wird es nicht zum Pöbel und geht den Trotteln nicht auf den Leim.

F-Wort, N-Wort

“Why is it necessary to build such a system? Democracies do not become Nazi countries in one day. Evil progresses cunningly, with a minority operating, as it were to remove the levers of control. One by one, freedoms are suppressed, in one sphere after another. It is necessary to intervene before it is too late. A conscience must exist somewhere which will sound the alarm in the minds of a nation menaced by this progressive corruption, to warn them of the peril.” 
Pierre-Henri Teitgen, former resistant, 1949 (in: ESI, 16 May, 2023)

Seid bloß politisch korrekt. Sagt nicht N, wenn ihr noch Neger oder Nigger gelernt habt, richtig so. Sagt nicht F, wenn ihr Fuck sagen wollt, auch das muss nicht sein. Aber seid auch nicht F-feige, N-nichtwissend.

Ich meine, dass faschistische und (neo)nazistische Bewegungen um sich greifen, nicht nur in autoritären Staaten wie der Türkei oder Ungarn, nicht nur in Diktaturen wie Russland, auch innerhalb von Demokratien gibt es die F und N Entwicklung, sie wir nur selten so gesagt, von den meisten Medien, auch liberalen, verharmlost.

Wie wurden wir 1968 von rechts angegriffen, wenn wir das nicht nur im Untergrund fortlebende Erbe des Nationalsozialismus angegriffen – anstatt dass man unsere Fehler kritisierte, WIE wir das konstruiert haben. Heute ist das Koordinatensystem anders, weil sich hinter nicht-trivialen rechts-links Designs meist einander ergänzende Demokratiezersetzung ausbreitet, die nicht durch den liberalen Radikalismus der Mitte in Schach gehalten.

Ernst Jandl:

Manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!“ (https://gutezitate.com/zitat/223511)

Nun ja, der Putinfreund Schräder mit den AfD Nazis in der Russischen Botschaft, das ist bloß die Oberfläche. Tiefer sitzt die Bereitschaft, das alte Muster aufleben zu lassen, links sei, wer faschistische und stark kapitalistische Entwicklungen ablehnt und kritisiert, und rechts ist, wer Faschismus noch immer anti-kommunistisch kleiner redet. Werch ein Illtum.

Nicht hinschauen. Der Pöbel arbeitet sich an den Grünen ab, und man hat die Heizungspolitik so wenig verstanden wie die Kritik an den Verkehrsplänen des Betonkopfs Wissing. Ist ja egal, wenn unsere Enkel ersticken. Der Pöbel, gar nicht nur in den Dilktaturen, arbeitet für die Verzaunung der EU Außengrenzen, aber die Festung Europa gibts nicht, wenn wir doch den Ansturm wirtschaftlich und waffenliefernd selbst produzieren und provozieren.

Das alles kann man genau und differenziert nach-denken und nach-lesen oder anschauen. Aber im Reden, genauer: im Sagen des Richtigen, im Vorzug der Wirklichkeit vor den verkündeten Wahrheiten, kann man schon etwas deutlicher sein. „Rechtsnational“, „nationalkonservativ“, „extrem religiös“…das sagt dem Volk nichts, und der Pöbel zieht sich diese Begriffe lieber an als die Wirklichkeit, z.B. der letzten italienischen Regierung vor Meloni, z.B. der letzten Regierungen vor den heutigen Netanjahu, Orban etc. Auch in noch einigermaßen stabilen Demokratien wie Österreich gewinnt der faschistische Pöbel an Boden, aber so darf man das nicht sagen? Ich denke, man muss. Und in Deutschland? Wenn es um die knappe Kante gegen die AfD geht, sieht man schon die Schwäche von eigenen Positionen, z.B. https://www.berliner-kurier.de/berlin/nach-afd-beinahe-wahl-zoff-zwischen-cdu-und-spd-eskaliert-li.348870 (16.5.).

Mir gehtes hier nicht um die Analyse, die kann man auf die Schnelle nicht machen, soll man auch nicht.

Aber die Scheu vor dem F und N Vergleich ist gefährlich. Alles, was nach N und F aussieht, ist ja doch nicht annähernd mit den NaziKZs zu vergleichen, oder? Dabei schwingt ein gefährliches Wort mit: NOCH. Und der Putin-Vergleich, eher mit N als mit F, hat viel mit der oben beschriebenen Konfrontation des dogmatisch inhaltsleeren AntiFaschismus links und AntiKommunismus rechts zu tun.

Ein Apercu: als ich Unipräsident war, vor wirklich vielen Jahren, gab es eine Studigruppe, die sich „Anti“ nannte. Prinzipielle Gegnerschaft kann einen stützen oder gefährden, aber sie erklärt fast nichts.

Krieg und Frieden, keine Literatur

Ich bitte um Entschuldigung, dass ich meine strikte Linie für einmal verlasse, die Kommentare zum Krieg Russlands gegen die Ukraine und gegen die Menschlichkeit nicht kommentiere. Ich habe das u.a. damit begründet, dass die Laienmeinung und die nur sekundäre Betroffenheit nicht ausreichen, um ein unbestimmtes Publikum, also das MAN, zu erreichen. Ich bleibe dabei. Aber ich will einmal auf ein widerborstiges Produkt, zwei Aufsätze in der FAZ am 7.5.2023, vor dem 8. Mai nicht zufällig, reagieren, weil sie mich jenseits des journalistischen Verwehens, beschäftigen. Die Entschuldigung steht trotzdem.

*

Zwei lange Aufsätze in der FAZ. Einer, von Schuller, plädiert für eine militärisch gestützte Angriffshaltung gegen Russland, an der nichts falsch ist, außer alles. Es ist schon der Kriegsmodus, den ich vor mehr als einem Jahr als Begriff verwendet habe. Wenn wir da drin sind, dann muss die NATO nicht nur siegen, sondern Russland so be-siegen, dass es nicht in einen Balance Status mit dem Westen eintritt, an dessen Ende dieser Westen ermüdet, wenn er die Ukraine nicht vergisst – ich sage nur Beispiel Afghanistan – und dann wird für viele der Kompromiss“frieden“ mit dem Feind erträglicher als weiter zu rüsten, kämpfen zu lassen, am Ende doch in die nukleare Gegentaktik einzusteigen. Natürlich „wollen wir das nicht“, aber was wollen WIR denn? Nicht bedroht werden. Wenn die Ukraine fällt, werden wir von der neuen Sowjetmacht gekapert. Klar, davor hat man Angst. Schuller argumentiert für eine schnelle Aufnahme in die NATO, sonst wird sie scheitern, an Erdögan, Orban, an uns…Wenn man es nicht schafft, kann es nach den US Wahlen zu spät sein. Schuller argumentiert „alternativlos“. Da geht es nicht um richtig oder falsch. Sondern darum, innerhalb einer bestimmten Ereignis-Wahrscheinlichkeit sich entsprechend zu verhalten. Das ist der „Andere Aggregatzustand“, der nicht als Kriegspartei argumentiert, sondern als Verteidigung vor dem erwartbaren Angriff.

Diese Wahrscheinlichkeit besteht, sie ist nicht alternativlos, die Alternativen sind komplizierter als die Zweilager Vorstellung. Da sich Deutschland, WIR, auf absehbare Zeit aktiv am Waffengang nicht beteiligen kann, unabhängig davon, ob die Mehrheit es will; und da auf die Amerikaner auch vor dem Wiedergänger TrumpII kein Verlass ist, würde ich weniger – nicht nicht – mit NATO argumentieren, sondern mit Europa, der EU, mit uns. Natürlich unter ökonomischen Einbußen, unter schlechteren Bedingungen, uns für eine Einbindung der Ukraine in die EU stark machen und vielleicht einen Ermüdungsfrieden mit den Russen ausschlagen? Vielleiht die soziale und kulturelle Autonomie der EU  noch stärker von den ökonomischen Ködern entfernen, vielleicht den unerfreulichen Zusatz einer wirksamen verteidigenden Aufrüstung der Russland-Nachbarn, also mit Ukraine und anderen durchzuführen, aber eben nicht primär NATO Rahmen, mit Faschisten wie Erdögan oder Orban und … im eigenen Gefolge. Das, was Schuller die „Willigen“ nennt, ist mit NATO nicht zu machen. Aber zahlen werden wir müssen, auch aus andern Gründen, das kommt noch, aber jetzt einmal ganz klar. Wenn dies die Wirklichkeitslogik ist, müssen wir selber ran, nicht nur zahlen. Und Verteidigungspolitik muss nicht der Kriegslogik folgen.

Das ist der Ausgangspunkt an einer mäßig beleuchteten Politikanalyse „Frieden um jeden Preis“, in der Oliver Georgi drei pazifistische Argumente zerlegt, die von Thomas Schwörer, Olaf Müller und Margot Käßmann. Das wäre gar nicht schlecht, würde Georgi selbst die Kriegsquantum verlassen und sich ins Friedensquantum einschreiben. Denn dass Schwörers Zersetzungshypothese nur funktionieren kann, wenn man die Russen sozusagen kampflos siegen lässt, ist einleuchtend, aber nicht aus einer Niederlagensicht, die Georgi bei kampfloser Übergabe nicht gelten lässt. Die Einladung zur Eroberung unter gleichzeitiger guerillataktischen Zermürbung? Paralysierung? der Besatzer  hat etwas für sich, aber nicht im Rahmen dessen, der sich erst ergibt und dann seine Kräfte anders einsetzt. Es ist niemals gleichgültig, wer wann wofür und wie stirbt, aber dann muss man sich von der Beobachterstelle hinein in die Wirklichkeit der Motive der Opfer begeben; das ist kein Brettspiel.

Ich hatte von anfang an gesagt, dass quasi quantenmechanisch man entweder in der Friedenslogik oder der Kriegslogik argumentieren kann, Kompromiss gibt es nicht. Die Friedenslogik ist nicht notwendig pazifistisch. Aber der Frieden wird nicht allein durch die „Abwesenheit“ von Krieg bzw. sein relatives Herunterfahren auf ein Minimum konkreter Opfer an Menschenleben und menschenwürdigem Dasein definiert. Das ist „eigentlich“ trivial, aber dem Jargon gebe ich mich nicht hin. Mit der pazifistischen Übergabe der Oberfläche und dem Kampf unter machtvollen Decke der Eroberer kann man nur argumentieren, wenn man die Menschen dazu intrinsisch bewegt, und das ginge ja erst, wenn die Russen sofort Kiew und den Großteil des Landes gekapert hätten. Dass sie es nicht konnten, wiewohl gewollt hatten spricht ja für die gewalt- und opferreiche Strategie der Ukrainer, und nicht erst ab 22.2.2022, und nicht erst durch Waffenlieferungen aus den USA und Europa, sondern umgekehrt: dass es diese davor und erst recht danach gab, hat ja die Russen gebremst. Das ist also weder pazifistischer Frieden um jeden Preis, noch Kriegserwiderung, um sich dem stärkeren Putin gleichwertig zu stellen. Eben nicht gleich, anders. Zu werden und zu bleiben. Das müssen auch unsere Militärs lernen?!

Ich kann so nicht denken, darum habe ich der metamilitärischen Kommentare weitgehend enthalten und mache es weiterhin. Dieser Exkurs war eher die Replik auf einer intrakonservatives Gerede. Meine Angst ist eher, dass dieses Gerede ähnlich und unkontrollierbare Wirkungen hat wie die zielgerichtete Desinformation seitens des Kreml – und anderer, ich weiß, meist sind die anders.

Wenn jetzt die Zyniker fragen: und was sagst du, was tun? Dann sage ich, dass wir (jetzt, wann, wenn überhaupt) nicht unser Leben hinhalten, dass wir denen helfen können, die es tun, aber nicht den Diskurs dazu anreichern sollen. Es geht um Haltung, nicht um Stil.

*

Georgi macht noch einen sehr komplizierten Haken. Er zitiert Ralf Fücks und Marieluise Beck, die zu Recht auf eine deutsche Besonderheit hinweisen, nämlich so ziemlich alles politische, oder sage ich: wirkliche auf den Nationalsozialismus hin durch das Nadelöhr der unvergänglichen Einmaligkeit zu fädeln (Meine Worte). Und die Ambivalenz, die die Menschen dazu führt, die Angst vor dem Krieg auszuhalten. Nicht schlecht, der Einschub. Er passt nur nicht zur sonstigen Pazifismuskritik von Georgi.

Und ich füge meine schwerlastende Behauptung hinzu, dass wir längst wieder „im Krieg“ sind nur nicht in den Kämpfen, die unmittelbar ums Leben gehen, Leben kosten; nur mittelbar. Oder nicht?

Dass jeder dieser Begriffe eine besondere Bedeutung hat, gilt für alle Begriffe, aber hier besonders. Sagen die Russen „Ave Putin, morituri ter salutant“? Sagen die Ukrainer „Ave Selenskij….?“; und wir, was sagen wir wirklich außer wahlweise Bedauern oder Triumph, als ginge es um Länderspiele.

Die Privatisierung der Kriegsberichterstattung und ihre Umkehrung in Friedensphantasien sind auch nicht ungefährlich. Darum ist die Frage, wie legitim bloße Meinungs-Äußerungen sind. Wen erreicht die Meinung, dass verhandelt werden soll? Wer will mit den Meinungen wen überzeugen?

Ich weiß, das ist keine politische Aussage. Will sie ja nicht sein. Es ist aber eben nicht der Versuch, der eigenen Meinung Gehör zu verschaffen. Es geht mir darum, den möglichen Frieden nicht zu zerreden. Der wird nicht durch Meinungen hergestellt, sondern durch Macht und Gegenmacht, durch Politik. Da ist spannend, welche Rolle ich, wir, in der Politik dieses Kriegs spielen. Das bedeutet, in welche Bereiche unseres Lebens er hineinspielt, ob wir ihn verdrängen, beobachten oder „annehmen“ als die Wirklichkeit, die uns mehr oder weniger von den Überlebensthemen der Menschen ablenkt – Klima, Flucht, Hunger – oder gar erleichtert (wenn wir über den Krieg reden, spielt plötzlich das Klima keine Rolle?).

Afghanistan wirklich gesehen

Die Fähigkeit der Invasoren, Glück zu verheißen und es letztlich zu zerstören, ist unermesslich. Das eint die „Großen“, auch wenn sie sonst unvergleichlich sind. Manche Länder sind besonders von der Unglückspolitik betroffen, andere vielleicht weniger. Aber es bleibt dabei: wer den andern überfällt und ihm dabei Glück verheißt, schafft Unglück.

Kaum ein Land ist so lange unglücklich gemacht worden, wie Afghanistan. Seit mehr als 50 Jahren haben sich „Andere“ darum bemüht, das bislang nie kolonisierte Land unter Kontrolle und vor allem in ihren Machtbereich zu zerren, was jeweils innenpolitisch so nie gesagt werden durfte oder, bei uns, wirkungslos behauptet wurde.

Dass man den jeweiligen Invasoren immer wieder, teilweise, kritisch, mulmig, oder aber hoffnungsfroh gefolgt ist, hat viele Gründe. Auch ich muss mit Bedauern meine anfänglich recht einseitige auch aktive unkritische Unterstützung der westlichen Staatsbildungspolitik Afghanistans nach der Petersberger Konferenz 2001 relativieren. Ich war nicht wichtig, also bleibt es fast überall beim einseitigen, selbstkritischen Diskurs, und wo es praktisch war und wurde, war es auch besser. Aber in der Retrospektive, nach der Niederlage der USA und damit auch Deutschlands 2021, ist die zwanzigjährige Verheißung von Glück und die Herstellung von Unglück schon eine Belastung. Die Zeit davor war das auch, nicht nur bis zur Niederlage der Sowjets und Russen, auch die Zeit dazwischen. Drei Generationen, mindestens, und wenn es noch Hoffnung gibt, dann ist die so komplex begründet, dass keine Erwartung sie trifft: dass Afghanistan sich von den Taliban befreit und den Versuch erneuert, ohne zu verhungern und zu verblöden, eine tragfähige demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen.

Woher kann man das wissen? Erfahrungen haben eher ein zwiespältiges Resultat gebracht, wie man in einem Archiv gut belegt nachvollziehen kann. Man muss erst einmal die Phantasien, Lügen oder schlicht Unwirklichkeiten vieler Selbstbezüge abbauen, um zu verstehen, was wirklich geschah und wer woran beteiligt war. Forschungen sind, wenn es sie gibt, oft besser, aber spärlich, und auch hier muss die Quellenlage studiert werden, sonst wäre die Sicht z.B. der Bundeswehr und der humanitären Hilfsorganisationen vordergründig unverständlich.

Diese Einleitung ist mir so wichtig wie die folgende Besprechung des Buches eines guten Bekannten, der den schmalen Pfad geht, die Wirklichkeit über die konstruierten Wahrheiten zu setzen.: Reuter, Christoph (2023): „Wir waren glücklich hier“. Afghanistan nach dem Sieg der Taliban. – Ein Roadtrip. DVA/Spiegel, München

Da schreibt einer, der schon viele Konflikte und Krisenherde bereist hat, der viel wahrgenommen hat und gegen die Lüge über das Beobachtete anschreibt. Das heißt zunächst anschaut, erklärt, vor allem die Hintergründe ermittelt.

Warum muss man in Deutschland viel über Afghanistan wissen? Weil wir schon vor 2001, vor der Bonner Konferenz, in diesem Land involviert waren, wenn man so will, seit über 100 Jahren, und jedenfalls immer „Rollen“ gespielt haben, die weniger mit den Menschen in Afghanistan zu tun hatten und mehr mit der (vermeintlichen, angestrebten) deutschen Rolle in der Internationalen Politik.  Auch ein Thema. Aber seit 2001/2 waren wir ja Kriegsteilnehmer, mehr noch als davor im Kosovo, und das Verhalten 2021, beim Sieg der Taliban und im Vorfeld des Ereignisses, wirft ein grelles Licht auf die deutsche Politik, mit all ihren Lichtpunkten in der Zeit, die ja auch dazugehören.

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Reuter, erfahren, ein Kenner des Landes, nutzt den äußeren Frieden – ja, Frieden – unter den neuen Herrschern, um Routen und Orte kennenzulernen, die ihm vorher verwehrt oder schwer zugänglich waren. Dass der Frieden keine Freiheit in einem Unrechtsstaat bedeutet, weiß er auch. Und wie es sich bei einem Roadtrip gehört, beschreibt er mit journalistischer und fast ethnologischer Präzision, was ihm dabei begegnet und widerfahren ist. Kaum jemand interessiert sich für das Leben der Gesellschaft nach dem Abzug der meisten Deutschen und dem Verbleib vieler Ortskräfte, die ihrem Schicksal rechts- und moralwidrig überlassen werden. Die Geschichte ist mit den parlamentarischen Untersuchungen und der Enquete nicht beendet, aber die meisten Medien haben Afghanistan längst vergessen. Und wie kaum ein anderer lenkt Reuter unseren Blick auf die Wirklichkeit unter den Taliban und die Vorgeschichte von deren zweiten Sieg, nach dem ersten 1995 -2001, ohne den wir vielleicht gar nicht an der neuen Republik mitgewirkt haben. Der historische Teil, immer wieder aufgerufen, das ist ja kein Geschichtsbuch, bringt einige schwer erträgliche Wahrheiten: Im 2. Kapitel „Ins Herz des Wahnsinns – meine erste Reise nach Afghanistan“ werden die Folgen amerikanischer Lügen, Verschleierungen und absurder Gewalt gegen die Bevölkerung beschrieben. Gebündelte Wirklichkeit: „Dass die USA die Welt nach ihrem Willen formen konnten hatten die Taliban schmerzhaft gelernt in jenen mörderischen Wochen Ende 2001…Dass aber die USA nun in gleicher Manier, nur ohne wirkliche Antagonisten fortfuhren, sollte zum Auftakt ihres Untergangs fast zwei Jahrzehnte später werden“ (S. 43). Diese These habe ich spät, aber schon früher geteilt (Daxner 2017), und Reuters Detailkenntnis stützt die Vorwegnahme der amerikanischen, westlichen, internationalen Niederlage.

Historische Einblendungen kommen auf dem Roadtrip immer wieder vor. Sie sind verbunden mit früheren Reisen, Begegnungen, persönlichen und politischen Wahrnehmungen. Es ist geradezu befreiend zu lesen, dass bei detaillierten Schilderungen der Erfahrungsschichten in Kunduz die Geschichte des unsinnigen Verhaltens der Bundeswehr unter Oberst Klein, der dafür zum General befördert worden war, genau geschildert wurde. Das humanitäre Ansinnen von Reuter und seinem Fotografen Mettelsiefen hat zur Wahrheit der Beschreibung und zur Anteilnahme am Tod von über 90 Menschen geführt. Die Ausstellung an verschiedenen Orten, auch Potsdam, war ein Teil der Befreiung durch die Wirklichkeit vor der staatlich verordneten Wahrheit, also der Lüge über den Vorfall am 4.9.2009 und seine Vor- und Nachgeschichte(n) (Mettelsiefen 2010, Reuter 2010). (S. 181ff.). Das wird nun in eine Geschichte der Wiederkehr eingebettet, sie „suchten nach den Spuren der Deutschen“, S. 187). Der Roadtrip kann ohne die Schnittpunkte zur Geschichte und den relevanten Ereignissen, wenn es sich um bekanntes oder Neuland handelt, nicht gefahren werden. Und jetzt war Reuter da und berichtet über das deutsche „Intermezzo“, „Nun lag die Stadt abermals da wie vor den dramatischen 80 Jahren zwischen Glorie und Grauen“ (S.198). Vieles trifft sich mit anderen Erzählungen von Kunduz, Reuter erwähnt Schir Chan Nashir, und Nadia Nashir, die vor wenigen Tagen gestorben ist, hat von ihrer lokalen Geschichte und von ihren Schulprojekten dort berichtet (Vgl. Nadia Nashir Karim, Blog: Michaeldaxner.com/4547 25.4.2023). Reuter benutzt jeden erlebten Aufenthaltsort zum Anlass einer Geschichtserweiterung, oft auch Geschichtskorrektur. Und so fährt er auch dorthin, wohin man von Kabul aus seit vielen Jahren in der „befreiten“ Republik immer weniger fahren konnte. Manches kannte ich aus den frühen Jahren in Afghanistan, natürlich Mazar, Asadabad, und sehr früh Kandahar. Aber dass Reuter jetzt auch nach Nimruz vorgedrungen war, nach Ghormatsch im Nordwesten, das ist schon ein Erlebnis, das man sich selbst gewünscht hätte.

Soweit der allgemeine Roadtrip. im äußersten Südwesten, Seine spezielle Qualität aber ist die Kommunikation am Wegesrand, bisweilen von Taliban, Polizei, festgehalten, bisweilen so friedlich und gastgeberisch aufgenommen, wie das eben in der Zeitlücke des noch nicht ganz gefestigten autoritären Regimes geht – das kann der erfahrene Journalist und Reisende besser als viele Experten sich vorstellen zu können, weil sie ihren Berichten im Vorab trauen müssen. Die Wirklichkeit ist oft unglaubwürdig, aber eben wirklich. Das wird unterstützt durch die Bezugnahme auf Thomas und Iris Ruttig und deren Team, wohl die langfristig noch immer beste Quelle für Information https://www.afghanistan-analysts.org/en .

Das Buch von Christoph Reuter ist, wie seine früheren Texte und Bücher zu Afghanistan, Syrien, der Ukraine, ein MUSS. Das sagt man nicht leichtfertig, ich baue ja gerade ein Afghanistanarchiv auf, voller Bücher, Dokumente, Bilder. Aber Reuters Buch ist eine Ausnahme, er gehört in eine Reihe wichtiger Quellen auch zur Selbstreflexion des Westens, was der dort verloren und nicht gewonnen hatte, vielleicht gemeinsam mit Ahmet Rashid. Die Parteinahme für die von Gewalt, Folter, Armut, Hunger bedrohten Afghanis ist nicht eine einseitige Verurteilung des Westens, sondern auch eine Beurteilung der Schwächen und Fehler afghanischer Politik. Aber da ist die Besonderheit: zwar beschreibt und analysiert Reuter viel Politisches, auch Politökonomisches, aber es geht ihm nicht um den Staat, sondern um die Gesellschaft, also notwendig ein Heraustreten aus der Vertikalsicht auf die Macht und  der erlebte Nachweis, dass die Menschen in ihren sozialen Beziehungen, in ihrer Angst und Hoffnung eben nicht das „Unten“ sind, das von „oben“ gerettet werden kann (wobei ja „Oben“ dem afghanischen Staat seit Karzai vielleicht eine Übertreibung war).

An manchen Stellen seiner persönlichen Begegnungen, auch Lebensgeschichten und Zukunftsaussichten, ist es ein trauriges Buch. Weil, und das zeigen ja auch die letzten Monate, noch keine Ende des schmerzhaften Abwärtstrends in Sicht ist, der nicht erst mit den Taliban, nicht erst mit Trump und Doha begonnen hatte. Dass in diesem historischen schmerz dennoch individuelle Hoffnungen, im Bleiben wie in der Flucht, im Anpassen wie im Widerstand, erlebbar sind, ist ein gutes Mittel gegen die Arroganz der Politik, ihr Fehlverhalten und ihre mangelnden Konsequenzen auch noch schön zu reden, durch angebliches Nichtwissen, nichtkönnen und höherrangige Politische Einbindung. Reuter als Gegengift ist auch nicht zu verachten, aber das bedeutet auch sich, auf eine Lesepraxis einzulassen, die nicht bei der Aufnahme von Bericht und Bild endet.

Daxner, M. (2017). A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS.

Mettelsiefen, M. R., Christoph (2010). Kunduz, 4. September 2009. Berlin, Rogner & Bernhardt.

                Forschungsbericht und Fotodokumentation nach dem Bombardement vom 4.9.2009. Vgl. Ausstellung Potsdam 24.4.2010

Blog: Michaeldaxner.com/4547 25.4.2023

Reuter, C., M. Mettelsiefen, H. Theiss (2010). Kunduz, 4. September 2009. Eine Ausstellung. Kunstraum Potsdam, 04/23-06/13/2010.

https://www.afghanistan-analysts.org/en