Namenskrieg

Namenskrieg

  1. Einleitung: Ein Vorwort ist notwendig, denn ich will hier nicht die wissenschaftlichen Abhandlungen fortsetzen, die ich 1974 begonnen und dann abgebrochen habe. Die Onomastik wird viel seltener erwähnt als die meist biologische Nomenklatur, und sie hat ihren Platz in praktisch allen Sozialwissenschaften, aber auch in Spezialdisziplinen wie den Jüdischen Studien oder auch der Theologie. Wer trägt warum welchen Namen, der ja mehr als nur eine Bezeichnung ist, sondern oft eine Bedeutung, die oft nicht mit dem Träger identisch ist (Der Name der Rose), manchmal aber darauf genau abzielt: Michael = Wer ist wie Gott? Ich bin die Frage, nicht die Antwort. Da die Menschen sich und Dinge benennen können, die teuflischen Geister aber nicht, liegt es nahe, dass sich Gott ein Stück Ebenbild angeeignet hat. Darum geht es hier nur sehr am Rand, aber immerhin…
  2. Die Geschichte eines Ärgers: Namensgebung hat eine gesellschaftliche Geschichte, in die der Staat zunehmend eingegriffen hat und fast ein Monopol auf diesen Akt hat (ich erinnere mich nicht mehr an meine Namensgebung, als ich 5 Jahre alt war, und einen Namen an einen anderen abgeben musste). Namensgebung ist niemals nur privat. Am Namen erkennt man bestimmte Menschen, und wenn man sie kennt, kann man sie mit ihrem Namen ansprechen. An der Schnittstelle zur Öffentlichkeit werden Namen plötzlich politisch, historisch bedeutungsvoll, sie sind mehr als „sprechend“, sie sagen uns etwas, das die Straßenbehörde, meist nach Rats- oder Versammlungsbeschluss sagen will (sehen wir einmal von den langweiligen Vorstadtgassen ab, die dann Rosengasse, Lilienweg oder Eichenstraße heißen).

Straßennamen sind Teil einer politischen Erinnerungskultur. Der Ärger beginnt schon sehr früh. Straßennamen – da gab es eine Roonstraße  – Roon war Kriegsminister im 19. Jahrhundert. Jahnplatz – Jahn war ein Antisemit, auch schon als Turnvater. Karajanplatz – Karajan war ein Nazi (2x Parteimitglied) und ein guter Dirigent. Hunderte Beispiele in allen Gesellschaften. Mein Ärger: Sowohl die Geschichte der Namensgebung als auch der Kontext des Verlangens ihrer Tilgung werden kaum vermittelt. Wenn eine Gruppe oder Partei einen Namen tilgen möchte, kann das sehr vernünftig oder blödsinnig sein, wenn eine andere Gruppe oder Partei auf einem Namen besteht, kann das blödsinnig oder sehr vernünftig sein.

  • Zentralrat der Juden schaltet sich in Streit um Straßennamen ein: Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat sich in den Streit um einen Straßennamen in der brandenburgischen Stadt Oranienburg (Oberhavel) eingeschaltet. Am Dienstag traf sich die Straßenbenennungskommission der Oranienburger Stadtverordneten und beriet darüber, ob eine Straße in einem neuen Wohngebiet weiterhin nach Gisela Gneist benannt wird. Ergebnislos, wie der Tagesspiegel in den späten Abendstunden erfuhr: Die Kommission fand zu keiner Einigung und keinem Kompromiss. Jetzt sollen die Stadtverordneten befinden. Gisela Gneist war nach 1945 in einem Speziallager der Sowjets interniert, von Mitte der 1990er-Jahre bis zu ihrem Tod 2007 Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950“ – bewegte sich aber auch im Umfeld von Rechtsextremisten und diffamierte Historiker antisemitisch. „Alle Beteiligten sollten sich noch einmal zusammensetzen, um offen und sachlich über alternative Namensgeber zu diskutieren“, sagte Schuster dem Tagesspiegel. (Tagesspiegel online 19.1.2022)
  •  „Alternative Namensgeber“, Schuster meint sicher auch „Namensgeberinnen“, das sind solche die allgemein anerkannt werden. Sagt mir mehr als zehn, die allgemein jenseits aller Kritik, aber auch Verblödelung durch Kleinreden (Veilchenstraße oder Tannenweg, das kann man ja machen, unter den Linden). Alternative Namensgeber setzen auf andere politische Mehrheiten. Das kann, muss nicht, ein Indikator sich ändernder Erinnerungskultur und von Zustimmungs- und Ablehnungshierarchien sein.
  • Die Feuerbachstraße in Potsdam ist nach dem Maler Anselm F., und nicht nach dem Philosophen  Wenn man die Biographien, Beziehungen der beiden, Wirkungen studiert, kann man sich fragen wie? Warum? Der Eine ist nicht der andere. So ist das bei der Namensgebung immer. Bei der Müllerstraße ist das noch häufiger so. Manchmal wird das an Ort und Stelle erklärt, gut so, aber eben nur manchmal, zu selten.
  • „Umbenennung oder Kontextualisierung? Antisemitische Bezüge bei 290 Straßen und Plätzen in Berlin. Es ist der erste systematische Überblick über problematische Straßennamen. Berlins Antisemitismusbeauftragter hofft auf eine konstruktive Debatte“. (Tanja Kunesch) (Tagesspiegel 13.12.2021). Gute Überschrift. KONTEXTUALISIERUNG.
Wir kommen zur Liste der 290 Berliner Straßen und Plätze, deren Namen einen antisemitischen Bezug haben (Q: Studie von Felix Sassmannshausen für den Berliner Antisemitismusbeauftragten Samuel Salzborn). Empfehlungen zur Umbenennung sind gefettet, bei den anderen Namen wird zu weiterer Forschung bzw. einer Kontextualisierung geraten (etwa mit einer Erläuterung am Schild). Heute: Lichtenberg und Marzahn Hellersdorf. Wissen Sie, wo Sie wohnen? Lichtenberg:
Dönhoffstraße (August Graf von Dönhoff war Mitglied der antisemitischen Konservativen Partei); Eitelstraße (Wilhelm Eitel Friedrich Christian Karl von Preußen war Mitglied im antisemitischen Stahlhelm und in der antisemitischen Harzburger Front); Hauffstraße; Junker-Jörg-Straße (benannt nach Luther, verfasste antisemitische Schriften); Oskarstraße (benannt nach Oskar, Prinz von Preußen, Mitglied im antisemitischen Stahlhelm und in der antisemitischen DNVP); Rienzistraße (benannt nach dem Antisemiten Richard Wagner); Roedernstraße; Tannhäuserstraße (siehe Wagner); Waldowallee; Walkürenstraße (siehe Wagner).

Marzahn-Hellersdorf:
Cecilienplatz (benannt nach Cecilie, Kronprinzessin von Preußen, Schirmherrin des antisemitischen Bundes Königin Luise); Cecilienstraße (siehe Cecilienplatz); Eitelstraße (siehe Lichtenberg); Fritz-Reuter-Straße; Herderstraße; Jahnstraße (benannt nach Friedrich Ludwig Jahn, Elemente eines frühantisemitischen Weltbildes); Lohengrinstraße (siehe Wagner); Lutherstraße (siehe Junker-Jörg-Straße); Melanchthonstraße; Pestalozzistraße; Roedernstraße; Roseggerstraße; Strindbergstraße; Sudermannstraße.
  • Kontextualisierung zu fordern, ist richtig. Aber auch hiergelten Regeln, und gibt es Fallen.
  • Es kommt nicht unbedingt darauf an, wie man selbst die Namen auf Straßen und Plätzen findet. Geschmack muss man nicht immer begründen, aber wenn man ein historisch/politisch/soziales Urteil zu einem Namen hat, kann das relevant sein, zumal wenn der Name „prominent“ ist, d.h. über eine Gruppenanerkennung hinaus mit bestimmten Qualitäten assoziiert wird. Diese Assoziationen bedeuten bei manchen berühmten Namen, dass sich die Gesellschaft oder die Politik oder der Staat oder „alle“ mit ihnen assoziieren, ja, identifizieren. Bei anderen fragen sich viele: Wer? Oder, reflektiert, warum der oder die? Oder sie hängen gleich ihr Wissen und ihre Ressentiments an die Ablehnung oder Zustimmung. Hat diese private Meinung Folgen? Z.B. ich will nicht in der Hindenburgstraße wohnen, obwohl das Haus schön und die Miete niedrig ist? .
  • Aber so einfach ist es nicht. Nach wem werden Straßen in Israel benannt,  z.B. Rehov Heinrich Heine 94 Ma’Arav Yerushalayim? Und warum ist das im Kontext wichtig, mir zumindest?
  • Jüdisch sein, jüdisch leben ist ein ASPEKT in einem Leben, das niemals nur EINE Identität haben kann. Namensgebungen, zumal öffentliche, können gar nicht anders als einen wichtigen Aspekt herauszuheben, man kann ja nicht bei jedem Straßennamen alle Identitäten auflisten, wenn man sie denn kennt. (Dies eine Ermahnung an den Zentralrat). Und wie seltsam wäre es, Orte, Straßen, Gebäude nur nach Opfern zu benennen, oder auch nach abgeurteilten Tätern, oder nach den Namen, die zur E Literatur und Musik gehören, und manchmal doch zur U….Sinnvoll ist es, anstatt blind zu gendern, wirklich mehr Frauen als Namensgeberinnen wirken zu lassen, aber auch hier: Kontext und viele Identitäten.
  • Wer sich also (kultur-)politisch zu solchen Namen äußert, muss sich der Verallgemeinerung der vordergründigen Identität stellen. Mir wäre es wichtig, wenn alle Namensgebung immer mit Erklärungen versehen würde, Stolpersteine über und für alle Identitäten.

Lust vor dem Ende

Es gibt einen umstrittenen großartigen neuen Film bei Netflix: DON’T LOOK UP, mit Meryl Streep, Leo di Caprio, Jennifer Lawrence und Kate Blanchett und vielen anderen guten SchauspielerInnen. Es geht um das Verhalten von Menschen und Gruppen angesichts der drohenden und schwer abwendbaren Auslöschung der Menschen auf dieser Erde. Der Film ist groteske Übertragung der US-amerikanischen Wirklichkeit, hier nicht auf den Klimawandel, der gemeint ist, sondern auf seine symbolische Abwendbarkeit (ein Komet (!)…). Lest Bitte: Spektrum.de/…1967161 und spiegel.de/wissenschaft/don-t-look-up/-auf-netflix… das reicht erstmal.

Johann Nestroy: 1833

…Da wird einem halt angst und bang,
Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang, lang, lang, lang, lang, lang. …

Drum sag’ i, aus sein’ Gleis’ wird erst dann alles flieg’n,
Wenn Sie Ihre Nachsicht und Huld uns entzieh’n.
Da wurd’ ein’ erst recht angst und bang,
denn dann stund’ d’Welt g’wiß nicht mehr lang.

(https://de.wikipedia.org/wiki/Kometenlied#Text)

Die Nachsicht und Huld wäre im Film die Anstrengung, national-übergreifend den Kometen abzufangen und aus der Zielbahn auf die Erde zu entfernen. Schwierig, aufwändig, aber möglich…das Gegenstück heißt Politik, eigentlich unverbundene Politiken einer ambigen amerikanischen Präsidentin, konkurrierender medialer und geschäftsmäßiger Profis und Betrüger, Influencer, Beziehungen, Wissenschaftler. Die eigentlichen Entdecker (ein Professor und seine Assistentin) und ein ganz kleiner Kreis erkennen die Unabwendbarkeit ab einem bestimmten Augenblick. Das letzte Abendmahl ist so beeindruckend wie die abstruse Wiederankunft der nackten Präsidentinnencrew, die sich kryomäßig ins Weltall gerettet hatten und nach ihrer Rückkehr, mehr als 20000 Jahre später, im Paradies landen, wo sie von Dinosauriern verspeist werden. Der letzte Überlebende twittert diese Tatsache in sein Handy…ok? So wird es kommen, WENN.

WENN

…die Klimapolitik nicht an der Lausitz und im rheinischen Kohlerevier zur Seite rückt

…keine Kernkraftwerke mehr gebaut werden

…keine Kriege mehr die Politik aufhalten

…der Hunger nicht vorher beseitigt wird.

DIE LITANEI KENNEN WIR

Die Diktatoren, die Neoliberalen, die Populisten dieser Welt finden immer die Brücken zu einer Realpolitik, die die jeweiligen Systeme weiterexistieren lässt und so tut, als fände man sich im Einklang mit den Notfallstrategien, nur etwas langsamer, etwas wirtschaftsfreundlicher, etwas sozialer, ja, auch das ist plötzlich ein Argument der Verzögerer. („Man muss die Dinge ändern, damit sie die gleichen bleiben“, sagt Lampedusa). Verzögerung heißt aber, dem eigenen Ende gelassen bis gleichgültig, hedonistisch bis resigniert entgegensehen – oder sogar die letzten Barrieren zivilisierten Verhaltens kündigen, weil ohnedies alles keinen Sinn hat. Zur Sinnlosigkeit gehört übrigens die Litanei.

Die autoritären Staatstrottel, die neoliberalen Markttrottel, die populistischen Befindlichkeitstrottel etc., die auch ich öffentlich nicht SO anspreche, natürlich nicht, also diese Typen gehören in den Bereich einer Weltanschauung, in der es zwar einen (kollektiven) Tod gibt, in der aber die Privilegierten, die ihn denken, nicht sterben, und wenn, dann sofort ausgeblendet werden (so, wie ja Covidleugner, die statistisch zu Recht von der Seuche getötet werden, sofort ausgeblendet werden von denen, die noch leben und leugnen. „Statistisch“ meine ich ernst, wir können die Kranken und Sterbenden nicht nur nach ihren Kriterien behandeln…aber die einseitige Ethik der Populisten aller Lager zerstört die Denkstruktur des Möglichen, auch beim Klimaschutz, auch beim Friedensprozess, auch beim Hunger.

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Robert Habeck hat einen kleinen Sturm ausgelöst, als er weniger erfreuliche Lebensumstände vorausgesagt hatte. Dabei war er noch zurückhaltend und höflich. Wer, wie im Film übrigens, die Wahrheit und die Wahrscheinlichkeit gleichermaßen sieht, also dem Sterben der Enkel und Urenkel und vielleicht dem eigenen ins Auge schaut, wird nicht freiwillig sein Konsumverhalten aufgeben, wenn es ihm als Endzeitlebensform noch von den jetzt Regierenden angeboten wird.

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Wenn wir vom Film in die Wirklichkeit springen, gibt es nur wenige Optionen, lokal, national, global:

  • Entweder die Politik verblödelt weiter die möglichen Aktionen und Neustrukturierungen – weltweit und lokal – und verhält sich „wie im Film“. Dann wird das Ende jäh eintreten, die Verhaltensweisen werden sich entsprechend ausdifferenzieren, aber „Zukunft“ wird kein Begriff mehr sein. (Wenn z.B. die Erderwärmung noch in diesem Jahrhundert über 2,5° sein wird)
  • Oder es wird die pragmatische Lösung zur Befriedigung der meisten Bedürfnisse der größtmöglichen Zahl sein, dann bedeutet Zukunft immer schlechteres Leben für immer mehr Menschen (was automatisch eine Verklärung von Vergangenheit mit Auswirkungen auf die Politik hat). Der Bezug zu früher wird eine autoritäre Abschottung der privilegierten Herrschenden bewirken, und alles versinkt in ungleichmäßiger Verteilung der Ereignisse…bis zum Ende.
  • Oder ABER es wird so gehandelt, wie wir WISSEN, dass wir HANDELN müssen. Dann handeln wir innerhalb der Bewährungsfrist, und die muss nicht, kann gar nicht philosophisch oder moralisch begründet werden. ALLES zu tun um das 1,5° Ziel zu erreichen, bedeutet ALLES  dieser Politik unterzuordnen.

Nun ja, gut gebrüllt, Daxner. Und wer folgt dir? Mir niemand. Darum geht es nicht. Je mehr Menschen die drei Optionen verstehen, sich klar machen, was sie für sich und die Nachkommen bedeuten, desto einfacher wird es sein, sich zu entscheiden. Übersetzt Nestroys Nachsicht und Huld in Wiedergutmachung denen gegenüber, denen wir so geschadet haben, dass sie aus eigener Kraft keine der drei Optionen in Angriff nehmen können. Und für sich und ihre Umgebung bedeutet es, das zu tun, was WIR BEREITS WISSEN.

(Man könnte das auch Bildung nennen).

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Ich habe diese sehr einfache, fast flache Überlegung deshalb geschrieben, weil die Komplexität, die im Handeln liegen wird, aus einer nicht sehr komplexen Entwicklung als Folge der Erderwärmung hervorgeht. Deshalb auch der Bezug zum Film. Handeln heißt, sich Pflichten auferlegen, die keineswegs daran hindern, zusammen gut und vernünftig zu leben. Dass das der Fall sein kann, ist Aufgabe der Politik, genauer: der Demokratie.

Wenn „links“ rechts ist, wird es nicht besser

lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum

(Ernst Jandl)

Neujahrsgrüße kommen später, erfreuliche Berichte aus dem warmen Winter am Ende des koalitionären Wonnemonds ebenfalls, jetzt einmal ein spitzer Fokus. Der mich seit längerem verfolgt, aber letzthin zu massiv wurde, als dass ich ihn wie so vieles abgetan hätte als Geschwätz unreifer Marginalisten.

Die alte Diskussion um die Unschärfe der links-rechts-Dimension, die kein tragfähige Koordinate (mehr) ist, eröffne ich gar nicht neu. Natürlich gibt es auch auf der Linken, der Grünen, der Liberalen und anderen Flachländern esoterische, rechte, nationale und identitäre Einsprengsel, die meisten davon blödsinnig, manche aggressiv und einige bedenkenswert. Also keine Verallgemeinerung – und ich nenne im folgenden auch keine Namen von kritisierten Personen und Institutionen, um die Kontroverse einaml im Grundsätzlichen zu lassen.

In der Frage, ob und wie der Nationalsozialismus und der Stalinismus sich prinzipiell unterscheiden, welches die Vergleichskriterien sind und vor allem, wie man mit den Resultaten umgehen soll, ist vieles offen, solange man nicht auf dem Standpunkt steht, dass man die beiden nicht vergleichen KANN, was allerdings nicht nur randständig ist (sondern z.B. der Mainbstream der linken Sozialisation meiner Studienjahre, wenn es um die Geschichtsaufarbeituzng in beiden Sphären – dem Westen und der sowjetischen Sphäre – ging. Diese Diskussion aus der Mitte des Kalten Kriegs lasse ich weit hinter mir. Es geht mir um die Gegenwart, die auch ihre Vergangenheitsdimension hat.

Die derzeitige russische Politik und ihre Narrative setzt viele Maßnahmen der stalinistischen und der post-stalinischen Politik sowie ihrer Unterbrechungen fort. Konkret, was die politische Justiz, die Straflagerverbringung und die offiztiellen Legitmierungen betrifft, an markanten Beispielen wie Nawalny oder Memorial oder der Unterstützung für Lukashenko demonstriert (was bedeutet, dass es sehr viele nicht-demonstrierte Fälle natürlich auch gibt, die mehr oder weniger glaubwürdig berichtet werden. Eher mehr…).

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der westlichen Aufarbeitung der NS-Untaten und der stalinistischen Ist, dass Russland die meisten Belege für den stalinschen Terror nicht freigibt und deshalb Herkunft und Form vieler Narrative sich von der westlichen Beschäftigung mit dem Thema unterscheiden, auch im Grad der subjektivierten Quellen. Aber diese Quellen werden beharrlich und präzise immer wieder aufgebracht und reproduziert, und hier geht es wahrlich nicht nur um ein NICHT VERGESSEN, sondern um die Wiederkunft der Vergangenheit, um die PRÄSENZ des Gulag. Mir geht es nicht darum, die Unterschiede herauszuarbeiten, die lassen sich beschreiben und belegen. Mir geht es darum, Elemente des Vergleichs und des Vergleichbaren umso mehr zu sichern, je weniger Überlebende Zeitzeugen es gibt (aus den Nazi-KZs natürlich noch weniger als aus dem Gulag). Und es geht mir gegen eine gewisse „linke“ Attitüde, die Grauen des Gulag den Grauen der NS Lager unterzuordnen (wobei es in beiden Fällen um die Überlebenden geht, die Millionen Getöteten auf beiden Seiten konnten ja nicht berichten.

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Quelle: Ruth Franklin „The Lucky Ones“, NYRB 21.10.2021, S. 59-62. Rezensiert werden drei Bücher über die polnischen Überlebenden des Holocaust – Überlebende im Gulag, wohlgemerkt (Autoren: Mikhal Dekel, Eliyana R. Adler und Julius Margolin (letzterer schrieb seine Reflexionen 1946, und ist besonders einprägsam kommentiert von Timothy Snyder)). Ein Fazit vorab: diese Leidens- und Überlebensgeschichten sind viel weniger präsent und im heutigen politischen Alltag diskutiert, bewertet und umgewertet als die Narrative des Holocaust. Das liegt auch an der linken Unvergleichlichkeitsthese. Der stellte ja schon 1951 Hannah Arendt die These von vom symmetrischen Phänomen der totalen Vernichtung/totalitären Vernichtungsmaschinerie entgegen. Timothy Snyder behauptet, das sowjetische System sei „älter, umfangreicher, haltbarer“ als das Nazisystem gewesen, bis auf letzteres aber kann man sehr vieles schlicht nur indirekt erschließen. „But we cannot assess, what we don’t know. Until the KGB archives are fully open to researchers, Stalin’s crimes will remain incompletely examined“ (Ruth Franklin). Recht hat sie vor allem aber mit der Bemerkung, dass es (im Westen? in den USA? nicht unerhebliche Differenz) gegenüber den russischen Unterdrückungspolitiken eine ähnliche Blindheit wie gegenüber dem Gulag gäbe. Das entschuldigt oder relativiert nichts an den Nazi-Verbrechen. Wenn nun scheinbar linke Positionen die sowjetischen Grausamkeiten und oft auch chinesischen mit den Ereignissen im US System vergleichen und eben relativieren, dann wird hier sehr viel mehr als eine Verfälschung der Geschichte betrieben.

Ich hatte mehrfach beschrieben, wie diese Haltung eine dringend nötige Kritik an den USA und Teilen des Westens erschwert, weil der Vergleich so grotesk ist, dass man die diskursive Auseinandersetzung nicht führen kann. Man muss diesen Konflikt aber führen, sonst arbeitet man denen zu, die eine ständig erneuerungsbedürftige Demokratie gern gegen eine machtregulierte Funktionalität eintauschen möchten.

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Nun ging es im vorliegenden Fall vor allem jüdische Polinnen und Polen. Man kann sagen, die waren zwischen allen Fronten. Soll man diese Fronten nicht vergleichen dürfen, weil sie die jeweils andere Seite rechtfertigen helfen?

Nun sagt die von mir eingangs kritisierte, aber nicht genau benannte Linke, dass die Fehlhandlungen der Russen und Chinesen ja auf die Fehler zurückzuführen sind, die die USA mit ihren Verbündeten – die meinen auch uns! – begangen hätten und weiter dadurch begehen, dass sie die Opfer dieser Fehler wegen ihrer Retourkutschen weiter kritisieren, im Namen der Menschenrechte und Freiheiten, die dort Missbrauch der legitimen Ordnung genannt werden. Der einfache Test, diese linken Kritiker in Moskau und Peking schreiben zu lassen, kann ihnen sogar gelingen, weil sie mit ihrer engen Denke und Schreibe diese Regime unterstützen. Aus dem Gulag klänge es anders. Und dies wiederum machen sich die autoritären Kräfte, die gegen die Demokratie anarbeiten, im Westen zunutze, um ihre objektive Balance mit den östlichen Diktaturen unter Beweis zu stellen.

Wer an dieser Schraube weiterdreht, hat nicht nur rechts-links verspielt, sondern bald seine eigene Freiheit.