Editorial – an die Leser*innen

Liebe Leser*innen, ich habe zwei Wochen lang keine neuen Blogs gesendet. in meinen Entwürfen stapeln sich ein paar aktuelle Eintragungen, die ich aber bislang nicht freigegeben habe und wohl so auch nicht werde. Ein Sommerinerview von Dr. Saibling mit dem Herrn Seehofer habe ich geschrieben, gar nicht schlecht, wie ich denke, aber die abenteuerlichen Tiraden des bayrischen Ministerpräsidenten im Spiegel-Interview haben mir die Lust dazu genommen; sicher kommen noch ein paar Bemerkungen zur sozialen Grosstat, Kindergeld für Arme um 2 bzw. 5 Euro zu erhöhen. Aber das sind alles Kleinigkeiten, die ich im Blick habe und doch immer kleiner erachte – ich werde demnächst das nächste FINIS TERRAE veröffentlichen, ich werde mich der giftigen Rede von Houellebecq zum Schirrmacherpreis widmen und ich muss noch einmal Afghanistan, Terrorismus und die Islam/Religionsdebatte aktualisieren.

An Euch und Sie habe ich die Bitte, den Blog etwas zu verbreiten und zu popularisieren, manche Kommentare sind wirklich wichtig, auch für mich. Es ist sehr schwer, sich dem Schimpfkabarett zu entziehen, das wie ein Nebel über der politischen und sozialen Wirklichkeit liegt.

Ich hatte den Blog ja mit der Verzweiflung begonnen. Es hilft nichts, wir müssen die Zweifel wieder gewinnen, auch an unserer Einsichtsfähigkeit und Verführbarkeit durch die einfachen Lösungen.

Also bis demnächst.

P.S. Hoffnung. Kürzlich überquerte ich zweimal mit dem Auto den Brenner zwischen Österreich und Italien – man sah kaum Polizisten, keine Kontrollen, und ich habe mich einfach über Europa und Schengen gefreut. Ein paar tage später, im Zug von Italien nach Österreich. Drei Polizisten – je ein Italiener, Österreicher und Deutscher – strichen durch den Zug. die einzige schwarze Passagierin hatte zwar Papiere, aber unvollkommen, und wurde freundlich beraten anstatt harassiert. Wieder habe ich mich darüber gefreut, obwohl es ja hinreichend viele Gegenbeispiele gab. Aber eines ist klar: die Flüchtlinge stauen sich jetzt wo anders. Und viele von ihnen sollten wir zu uns holen.

Nochmals und immer wieder: Flüchtlinge. Grüner Zweig….

…auf den ich kommen möchte. Manchmal fehlt mir in der Grünen Kritik der Politik der letzte Schritt, die Hinwendung zur Praxis und die klare Kante, die ja auch Anschlussfähigkeit für andere Parteien bedeuten kann.

Bitte zuerst lesen:

Thruttig.wordpress.com/

Einigung mit Afghanistan über „Rückführungen“ in Sicht/ „Dublin“-Rückschiebung eines Afghanen aus Berliner Psychiatrie

11 SundaySep 2016

Posted by Thomas Ruttig in Flüchtlinge/Asyl

dann geht es weiter mit Kritik:

Jetzt, mitten in den Wahlkämpfen, mit den Stimmenverlusten nicht nur in MV (–> vgl.: Grün Gewinnt) und Nds, mit der programmarmen Urwahl einmal ein Wort in meiner eigenen Partei: etwas zu mutlos, eng. Die Wahlkämpfer*innen in Berlin und anderswo überbieten sich mit präziser Kritik an den derzeit Regierenden, sagen aber nicht, wie sie mit einer der Parteien nach der erfolgreichen Wahl in bestimmten Fragen koalieren wollen. Was wäre, wenn man in der Flüchtlingspolitik einmal fünf Punkte klar benannte und dann daraus politische, finanzielle und soziale Forderungen ableitete, z.B. so:

  1. ASYL und EINWANDERUNG POLITISCH UND PRAGMATISCH TRENNEN: Für Asyl kann es keine Obergrenze geben, wir müssen diesen Menschen gegenüber alle menschenrechtlich gebotenen Handlungen offen, offensiv und „pro-aktiv“ setzen. Auch wenn sehr viel mehr Asylsuchende kommen, als das derzeit der Fall ist (siehe 2.). Für EINWANDERUNG, v.a. von FLÜCHTLINGEN, gelten die gleichen moralischen Grundsätze wie beim Asylverfahren, wir können aber deutlich sagen:
  2. Deutschland kann mindesten 2-3 Millionen ankommende Flüchtlinge nach den Grundsätzen der menschenrechtlich gebotenen Politik aufnehmen. DAS PROBLEM sind nicht die Flüchtlinge, sondern deren dramatische Lebensrettung aus Krieg, Bürgerkrieg und Gefahr (siehe Artikel von Ruttig oben). Wie das gehen soll? Ziemlich einfach
  3. NICHT INTEGRATION an erster Stelle versuchen, sondern aus dem ÜBERLEBEN und den FLUCHTGRÜNDEN überhaupt erst ein sprechfähiges Umfeld schaffen und so schnell wie möglich folgende Maßnahmen treffen:
  • Arbeits- und Ausbildungserlaubnis sofort nach Registrierung
  • Zuhilfenahme der jeweiligen Diaspora, soweit vorhanden, ggf. besondere Förderung
  • Gruppenweise Traumabehandlung (Hier haben Menschen ihr Leben gerettet und nicht einfach eine politische oder wirtschaftliche Migrationsoption getroffen)
  • Wohnort-Zuweisung unter Berücksichtigung kommunikationsfähiger kultureller Kerne an bestimmten Orten (dann gerade entsteht keine Gegenkultur)
  • Die Kosten werden zunächst nach einem nationalen Schlüssel geteilt (wir können soviel von den europäischen fordern wie wir wollen, da haben wir keine starke Stimme, jedenfalls zur Zeit nicht.
  1. Das ist ein Positivkatalog, der ziemlich genau differenziert werden kann. Hier haben wir mehr Kompetenz als andere Parteien und wir können die Erfahrungen der Ehrenamtlichen noch stärker bündeln und verbreiten als bisher (Hier läuft es gut, also keine Kritik). Nun aber kommt es darauf an, einige klare Entscheidungen zu treffen und nicht einfach der GroKo Unfähigkeit und den EU Institutionen versagen vorzuwerfen:
  • Unsere Position zu den Außengrenzen: sichern? Ja, wenn ja, wie? Zusammenhang mit dem Türkeiabkommen? Da müsste unsere Partei mehr Ambiguität ertragen lernen, zB. dass man sich die Diktatur, mit der man Verträge schließt und einhält, nicht immer aussuchen kann, und dass man trotzdem Kritik üben muss und auf anderen Gerbieten eher sich abgrenzt. Konfliktfähigkeit steht der Außenpolitik weniger im Weg als Appeasement (das gilt übrigens, was Syrien betrifft erst recht für unsere Position zu Russland und den USA). Was soll Frontex machen, wie soll es handeln, und vor allem: wie helfen wir Griechenland und Italien? Diese Verbindung ist unterentwickelt, und wir müssen hier längerfristig tragbare ökonomische Konzepte entwickeln? Nicht sichern: Nein, wenn nein, wie? Offene Grenzen an den Außengrenzen der EU können nur bedeuten, dass wir uns auf die oben genannten 2-3 Millionen in relativ kurzer Zeit (2 Jahre) einstellen. Abgesehen von großen Problemen mit manchen europäischen Partnern fände ich das eine Herausforderung, die Deutschland a) bestehen kann und b) die eine Weiterentwicklung einer seit 50 Jahren bestehenden EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT Schwierig, ja, teuer, ja, und? In beiden Fällen spricht viel für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik mit Augenmerk auf den Außengrenzen, gerade wenn man zur Türkei ein ambivalentes Verhältnis hat und die Mittelmeeranrainer nicht überlasten möchte.
  • Unsere Position zur von Gabriel, Seehofer und anderen betriebenen Spaltung in Zuwanderer und bereits hier Lebende: die Spaltung gilt dann nicht, wenn die gleichen und nicht bloß vergleichbare Bedingungen auf dem Bildungssektor und Arbeitsmarkt Das setzt eine Antidiskriminierungsgesetzgebung ebenso voraus wie einen Forderungskatalog: nicht unsere Werte sollen die Zuwanderer anerkennen, sondern unsere Gesetze befolgen. (Das sollen die Deutschen auch…).
  • Zu den Hetzmeuten und nationalistischen bis nazistischen Attacken – explizit von CSU-Spitze, AfD, Pegida und vielen anderen, auch Einzelstimmen – ist hier schon viel geschrieben worden. Aber im Alltag der Politik muss auch klar sein, dass die diskursive Milde der deutschen Justiz zu den verbalen Morddrohungen (AfD gegen Merkel oder von Türken gegen Özdemir usw.) ein Ende haben muss. Es bedeutet, dass Wiederbetätigung genauer und konkreter gefasst wird. Bei Frau Petrys Apologetik des „Völkischen“ darf man sich nicht auf die Philologisierung einlassen, sondern auf die KONTEXTUALISIERUNG bestehen, ebenso wie bei der Veranstaltung der AfD im Münchner Bürgerbräu. Diese nationalen Angriffe sind nicht ein „rechts“populistisch, weil populistisch sind andere auch, wir auch…in Maßen. Was Gewalt provoziert, und zwar in einem bestimmten Kontext, muss auch so genannt werden. Das heißt auch, die AfD ernst nehmen, bzw. ihre Wähler*innen und die Parteispitze gegen einander anzuleuchten.
  1. Das soll weder originell sein, noch behaupte ich, dass dies nirgendwo aufscheint. Aber einen solchen oder einen vergleichbaren Katalog will ich an den Straßen, in den Zeitungen, im Rundfunk, im Fernsehen wahrnehmen. Was die GroKo falsch macht, was Merkel richtig macht, was wir nicht wollen, wissen wir zur Genüge. Aber um diese fünf Punkte auszuarbeiten, bedarf es eines bundesweiten und tiefgestaffelten Projekts kurz- und mittelfristigen Einsatzes von Intelligenz, Fachwissen, incl. eines „grünen Gedächtnisses“ dazu, was wir schon gemacht haben und wo das funktioniert. Gehen wir ruhig von 3 Millionen wenig gebildeten, armen, familiär zerrissenen Ankommenden aus – uns ihnen zuzuwenden würde uns auch dann nicht erspart bleiben, wenn wir auch in Syrien intervenierten und die Lager in Jordanien verbesserten und die Abschiebungen – häufig DEPORTATIONEN IN DEN INKAUF GENOMMENEN TOD – unterließen. So ein Programm macht keinen Deutschen ärmer, aber vielleicht viele Deutsche menschlicher…und bisschen weniger Deutsch hat manchmal nicht geschadet.

Wenn das alles ohnehin schon in Angriff genommen wird, wenn es geplant wird, wenn es weitere erste Schritte gibt, umso besser.

Grün gewinnt. Ein starkes Signal.

Überrascht mich die Wahl in MV nicht. Der Ärger ist verraucht. Ein wenig ist sogar Freude an einem kleinen Trost im Desaster unserer Grünen Partei drin: wir sind die einzige Partei, die keine Stimmen an die AfD abgegeben hat. Da stimmt doch etwas.

(Ich mache nicht oft Propaganda für meine Partei in diesem Blog, aber manchmal muss es sein).

Insgesamt ist die Situation misslich und nicht im Schnelldurchgang von Analysen zu bewältigen, die ja alle längst vorliegen. Ich rate nicht zur Gelassenheit; sondern zum Denken politischer Veränderungen, die für die demokratische Mehrheit dieser Gesellschaft anstehen.

  1. Die Flüchtlinge, die ausländischen Bewohner dieses Landes sind nicht Ursache, bestenfalls diskursiver Anlass zu einem Wahlergebnis, an dem die mit Haftung tragen, die ständig die Ängste und Sorgen der selbsternannten Bevölkerung ernster nehmen als die Befunde der Wirklichkeit. Wenn das anders ankommt – wir haben verstanden, raunzen die Vertreter aller Parteien – dann fragt sich, ob sie nur die Flüchtlingslüge der Rechten auf ihr Verständnis von Verantwortung übertragen. Was bedeutet das im schlechtesten Fall?
  2. Mehr Abschiebungen, oft in Tod und Elend? Mehr sichere Herkunftsländer, die eben nicht sicher sind? Mehr Schikanen von Staats wegen für die, denen die Mehrzahl der Bürger sehr wohl Unterstützung angedeihen lässt (wohlgemerkt, keine Liebe, keine Freude an den Ankommenden, einfach Empathie: da sind echte Menschen der Gewalt, dem brutalen Sterben oder der krassen Armut entkommen). Empathie und ein Augenblick an die menschliche Würde denken, reicht völlig aus, um nicht falsch zu handeln. Geld, Ressourcen, Kommunikation, Instrumente – sie sind alle da.
  3. Unsere Justiz ist zu oft nur peinlich. Staatsanwälte tun alles, um die Morddrohungen, die Gewaltaufrufe, die Pöbeleien und die Lügen der rechten Hetzmeuten herunterzuspielen – es sind ja nur Worte, die sind ja alle durch die Meinungsfreiheit geschützt….jetzt auf einmal. Hier agieren die Schüler der Schüler der schrecklichen Juristen.

Lesen Sie von 2012 (!) „Das rechte Auge“ Von Benjamin Lahusen 9. Februar 2012 DIE ZEIT Nr. 7/2012, oder gleich Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord. Verlag der neuen Gesellschaft, Berlin-Fichtenau 1922. Übrigens kann man hier auch lernen, wozu Statistik gut ist: wenn sie den Behauptungen über das Volksempfinden entgegengestellt wird.

  1. Nein, politischer Mord ist nicht an der Tagesordnung, ich sage auch nicht „noch nicht“. Aber ungestraft darf ein AfD Abgeordneter der Regierung den Tod wünschen (Sachsen). „Leider hat es nicht die Verantwortlichen dieser Politik getroffen“ (Sebastian Wippel AfD, 312.8.2016 im Plenum).
  2. Ich weiß auch, dass viele AfD Wähler das nicht wollen, sie suchen nur ein Ventil, um ihre Abneigung gegen die Regierenden, die Eliten, das Establishment etc. zu zeigen. Diese Abneigung wird von der Parteiführung erbarmungslos instrumentalisiert und die Verführung besteht darin, sich plötzlich als politische Akteure „Ernst genommen“ zu vermeinen. Aber eine autoritäre, antidemokratische Parteiführung beruft sich auf ihr Mitspracherecht, um die Voraussetzungen, unter denen sie den Rechtsstaat genießen darf, zu zerstören. Genießen…das sollten die Asylsuchenden laut Grundgesetz, nicht ihre Feinde.
  3. Es kommt auf den Ton und den Inhalt an, in denen wir mit der AfD reden sollen. Auseinandersetzen heißt nicht, sich mit den Stimmungen identifizieren, um dann andere Lösungen vorzuschlagen (so treibt die AfD die großen Parteien vor sich her). Auseinandersetzen heißt, eine eigene Position so zu präzisieren, dass man etwas zu einem Thema zu sagen Und das bezieht sich auf das, was und wie man handelt, nicht was man will.
  4. Herr Gauland befürchtet, dass die obgenannten Volksteile den Verlust ihrer Heimat befürchten. Diese Vorstellung von Heimat ist eine Wurzel der Gewalt, die in Gewalt enden wird. Wenn wir nichts dagegen tun. So, wie wir die Republik nicht den Republikanern hinterlassen haben, dürfen doch nicht die Heimat dem verschmockten Schnulzenradikalismus überlassen.

Lesen Sie Ernst Bloch: Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Prinzip Hoffnung (1959), S. 1628)

  1. Die reale Demokratie IST nie; sie WIRD immer weiter, dann ist sie auch in jeder politische, sozialen, moralischen, ästhetischen Situation, im JETZT, nicht ohne uns, versteht sich. Zurück zu Punkt 1: WAS haben die Politiker verstanden? Dass ein Angriff auf die Demokratie, unsere Freiheit im Namen von Sicherheit und Delegation von Menschenwürde im Gange ist, und sie sich zu Instrumenten eben dieses Angriffs machen?
  2. Misstrauen wir jedem Politiker, der meint, es müsse ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit geben. Die beiden liegen so wenig auf einer Ebene wie die menschlichen Grundrechte, voran die Würde, und der Staat, der ein Gewaltmonopol haben sollte, sie zu schützen, und dies statt dessen teilweise an die Stimmungsherrschaft und die Wertegemeinschaften abtritt. (der Plural hats in sich, denn nicht alle dieser Gemeinschaften sind gleichberechtigt, die Kirchen, Kammern, Verbände dürfen mehr als andere. Gerade bei den Kirchen kann man die Ambivalenz sehen: manches ist wunderbar human, manches rückständig).
  3. Ansonsten: Man verfolge den Aufstieg zur stärksten Partei bei den österreichischen Nazis, die sich freiheitlich nennen und eine analoge Praxis verfolgen.
  4. Im übrigen: die Grünen sind nicht zur AfD gewandert. Sie haben wirklich verstanden.

Daraus folgt:

  1. Unbegründete Ängste nicht ernster nehmen als die Lebenssituation von Menschen. Flüchtlinge nicht gegen andere soziale Verwerfungen ausspielen lassen.
  2. Aufhören, Angela Merkel als Urheberin und Agentin einer insgesamt eher erfolgreichen Aufnahmepolitik zu isolieren: sie hat diese Politik angeführt, und zwar im Prinzip richtig (politisch-moralisch, nicht aus dem Besitzstandsreflex der Rechtsnationalen in CSU und AfD).
  3. Öffentlicher und deutlicher Protest gegen den Versuch der CSU, die AfD rechts zu überholen, namentlich durch Seehofer, Söder, Stefan Meyer und Scheuch.

Lesen Sie: Elias Canetti: Masse und Macht, Ffm 2011. Hetzmasse und Hetzmeute sind Schlüsselbegriffe einer Gewaltdynamik, die oft bis zum äußersten geht und (sich) oft nicht kontrollieren lässt, wenn bestimmte Punkte überschritten sind.

  1. Wir sollten weiterhin FLÜCHTLINGE und NICHT NUR ASYLSUCHENDE aufnehmen. Bis es eine europäische Lösung gibt, müssen wir versuchen, das mit Grenzschutz und Hilfe in den betroffenen Regionen zu verbinden, d.h. zum Beispiel
  • Konkret Griechenland und Italien unterstützen
  • Konkret das Abkommen mit der Türkei pragmatisch befestigen (ich weiss schon, Erdögan: aber wir haben viele Verträge mit vielen Diktatoren, und wir haben die Macht, die andere nicht haben: dennoch sie in die Schranken zu weisen. Das gilt für Erdögan, Putin und andere Machthaber)
  • Konkret in Jordanien, im Libanon, ggf. in Israel Auffanglager für Verfolgte schaffen
  • Rückkehrmöglichkeiten verbessern, nicht die Abschiebungsmaschinerie ölen

(gerade gegenüber Menschen aus Afghanistan und einigen afrikanischen Ländern, wo die Todesgefahr nicht aus einem anerkannten Bürgerkrieg kommt, ist schon die Rhetorik der Deportation ein Schritt zu deren Existenzvernichtung)

  • VOR JEDER INTEGRATION dafür zu sorgen, dass Ankommende für ihre schlimmsten Traumata (Hunger, Verfolgung, Folter, Todesgefahr bei der Flucht) Unterstützung bekommen (Nicht die blödsinnige „Verschärfung“ der Asylgesetze als Tummelplatz der Schürer von Hysterie: legalisierte Unmenschlichkeit)
  1. Wenn wir wirklich verstanden haben, dann heißt das, wie in Pkt 5 oben angedeutet, die Rechten dort „stellen“, wo ihre Rede und Rhetorik droht, in grausige Praxis umzuschlagen. Auf der Ebene des Volkes bedeutet das noch immer Aufklärung vor Drohung; auf der Ebene der Scharfmacher in den Parteiführungen und Hinterbänken der Parlamente: nützt Aufklärung wenig, sondern die Attraktivität der Rebellen gegen das MV verdeckt dieEstablishment müssen wir aktiv demontieren. Das heißt, auch wir müssen uns aussetzen, öffentlich dagegen unbequem werden, dass wir die Folgen der Toleranz gegenüber der Hetzmeute nicht akzeptieren. (unter anderem nicht die als Rechtspopulisten verharmlosen, die die Strategie der Nazis vor 1933 geschickt kopieren, aber auch nicht die als Nazis denunzieren, die ihre Befindlichkeit im autoritären Geführtwerden aufgehoben sehen wollen, auch wenn‘s ihnen individuell und subjektiv schadet und schaden wird (HIER ist eine Analogie zu Trump und Orban gegeben).
  2. Demnächst wieder „Finis terrae“, die Fortsetzung der Überlegungen zur Gegenwartsdiagnose. Auch die Debatte nach MV verdeckt die wirkliche Situation der Zeit.

Burkini Atoll

Nebengleis für den Hass: die Debatte zu Burka, Nikab und Burkini.

(Kürzlich traf ich die vollverschleierte Frau Petry, fünf Schritte hinter dem turbangeschmückten Herrn Höcke auf dem Weg zur Reichskleiderschau. Auch Frau von Storch hat sich gerade die Burka übergezogen, um sich erst auf dem Parteitag im Bürgerbräukeller den Getreuen zu zeigen. ) Ich hatte dies gerade geschrieben, da höre ich, dass im sächsischen Landtag eine AfD Abgeordnete brav im Vollschleier auftrat, sich aber den autoritären Verhaltensregeln des Systems unterwarf und den Schleier ablegte. So musste ihr jeder, der konnte, ins Gesicht sehen.

*

Nun haben sie wieder ein Thema, die Burka und den Burkini. Wenn die Sache mit Kleidervorschriften so einfach wäre, könnte man daraus Politik machen. So aber müssen wir denken, damit daraus Politik wird. Zunächst einige noch unverbundene Beobachtungen:

  • In den 50er und frühen 60er Jahren durften wir keine Blue Jeans tragen und die Mädchen keine Hosen in der Schule;
  • Noch in dieser Zeit hatten Männer Verfügung über Bankkonten, Arbeitserlaubnis und Reisefreiheit „ihrer“ Frauen;
  • Ich erinnere mich daran, dass bei Sommeraufenthalten in Tirol in den Dörfern alle Frauen Kopftücher trugen, schwarz die Witwen, bunt die Ehefrauen;
  • Ich wunderte mich, dass ein katholischer Priester während der Studentenunruhen plötzlich in Anzug und Kravatte, aber ohne schwarzes Röckchen und Stehkragen auftauchte und mit uns diskutierte;

Dies war das christliche Abendland der Identitären. Anderswo:

  • Über die antikoloniale Politik in Algerien berichtet Pierre Bourdieu, dass Frauen ein Kopftuch als Zeichen des Widerstands gegen die Franzosen trugen;
  • In Bagdad unter Saddam Hussain studierten Frauen ohne Kopftuch und im Rahmen ihres Privilegs, nicht zu den Verfolgten und Gefolterten zu gehören, jedenfalls emanzipierter als heute;
  • In Afghanistan ist die Burka an Universitäten verboten, weil in der Vergangenheit oft bewaffnete Männer den Schutz des Umhangs gesucht haben (vgl. Kommentar von Thomas Ruttig zum letzten Blog);
  • In Oman kann mann vollverhüllte, elegante Nikabträgerinnen sehen, deren Sklavinnen, weit weniger verhüllt, die Einkaufstaschen respektvoll hinter ihnen hertragen;
  • In den USA ist die Tötungshemmung in weiten Teilen der Bevölkerung geringer als anderswo, aber auch kleine Kinder dürfen nicht nackt am Strand spielen;
  • Ich habe bei universitären Veranstaltungen in einem islamischen Land mit gemischten Klassen verfolgt, wie sehr der Schleier als modisches Spielzeug dauernd in Bewegung („Tanga-Tschador“) war (die Ehemänner saßen daneben);

Generell kann man diese Probleme anthropologisch und sozialkulturell in drei Sparten teilen:

  • Missbrauch angeblicher religiöser Gebote
  • Missbrauch männlicher Dominanz über die weiblichen Habitus
  • Gebrauch von Kleidungs- und Entblößungsakten für die Emanzipation von Frauen, allgemein von Genderpolitik

Natürlich hat weder irgendein Gott noch sein Prophet noch sonst eine religiöse Autorität sich damit abgegeben, Kleidervorschriften zu entwerfen. Offenbarung als Begründung scheidet aus. Religion als soziale Ordnungsmacht ist nicht nur meist männlich notiert, sie dient auch der Entwertung von Frauen. Das ist keine islamische Besonderheit, das gilt für fast alle Religionen. Und hat mit Glauben nichts zu tun, sondern mit der Unterwerfung unter Regeln, die selbst Kommentare sind, aber nicht kommentiert werden dürfen.

Zynisch ist es, wenn man nur deshalb gegen ein Burkaverbot ist, weil die Frauen sich freiwillig so ankleiden und weil es sie (innerhalb ihrer Gemeinschaft?) schützt. Zynisch ist auch, sich für ein Verbot auszusprechen, weil nur das den Frauen ihre Würde zurückgebe. Zynisch ist es allemal, wenn unsere Politiker nichts besseres und wichtigeres zu tun haben, als dieses Thema in die Niederungen der Wahlkämpfe und im Stimmenfischen ganz rechts einzusetzen.

Ich – nicht wir, nicht alle, nicht unsere Gesellschaft – halte Vollverhüllung ebenso für Körperverletzung wie andere nicht-rational begründete Rituale, z.B. die Beschneidung bei jüdischen Kindern. Ich denke, solche Rituale kann und soll man nicht verbieten, sonst geschehen sie im Geheimen (Beschneidung) oder als Widerstand, und dann haben die Männer und Politiker schlechte Karten: denn dann tragen die Frauen „freiwillig“ ihre Kleidung.

Mir geht es darum, dass die Menschen sehr viel mehr über die Herkunft ihrer Kleidungssitten wissen, dass das Spiel von Entblößung und Verhüllung nichts mit Gott oder Religion, sondern mit Ästhetik, Erotik, oder schlicht mit vielfältigen Signalen nonverbaler Kommunikation zu tun hat. Dieses Repertoire zu beherrschen, gehörte eigentlich zur allgemeinen Bildung, wird aber dort kaum thematisiert. (Zur angeblichen Sexualisierung kommt ein weiterer Blog). Hier nur so viel: es kann zur Willkommenskultur gehören, diesen Aspekt durchaus kontrovers in den Ankommensdiskurs einzuführen.

Wer hat bei uns schon einmal eine Frau in Burka gesehen?

Jedenfalls sind alle gesetzlichen Verbote und Restriktionen kontraproduktiv, selbst dort, wo sie teilweise rational oder auch verständlich begründet sind. An der aufgeklärten Thematisierung führt kein Weg vorbei.

Nachsatz für die Abendländer: viele französische Gemeinden fürchten Einbußen beim Tourismus, wenn Frauen im Burkini am Strand geduldet werden. Eine klatschnasse Körpererscheinung vermag ölglänzende Körpersurrogate zu verärgern? Zu beschämen? (Wenn es jemandem nicht passt, dass er und sie in der gemischten Sauna nun tatsächlich nackt zu sitzen habe, aus guten hygienischen und medizinischen Gründen, kann man ja in die Monosex Sauna gehen, aber man kann sich nur schwerlich eine suchen, in der man nicht nackt sitzen und schwitzen muss). Wem tut der Burkini etwas zu leide? Ach ja, dem ästhetischen Gefühl des christlichen Abendlandes. Dazu demnächst mein Blog zur sogenannten Sexualisierung des Alltags.