Verschärfung und Abmilderung

Was kann man tun, um die ungehinderte Nazifizierung der Welt – und Deutschlands zu bremsen?

Man kann ja nicht viel machen, am Schreibtisch sitzend, die Weltprobleme so reduzierend, dass sie wenigstens auf der Landkarte der Gegenwartsdiagnose erscheinen. Hektisch schreiben nützt auch nichts, schimpfen entlastet nur die Gegner (die plötzlich einen Verbündeten wittern), und die Aussichtslosigkeit von Politik ist auch nicht leeres Schwarzmalen.

Was nun folgt, ist kein politisches Wunschkonzert:

Ich denke mir zwei Regierungen in Deutschland und Österreich (jeweils getrennt, bitte). Beide Länder könnten z.B. erwägen und in höchst unterschiedlichen Verfahren und wahrscheinlich auch unterschiedlichen Wirkungen agieren:

  • Ein Einreiseverbot gegen alle Amerikaner zu verhängen, die Mitglieder der National Rifle Association sind;

Unsinn: wie will man das herausfinden außer durch eine Erklärung der Betroffenen? Und welche Folgen wird das haben? Keine, weil NRA Angehörige ohnedies nicht nach Europa reisen.

  • Visumpflicht für alle anderen US Bürger einzuführen, wie das schon einmal Brasilien nach 9/11 versucht hat;

Die USA würden ähnlich ungehalten und mit scharfen Sanktionen reagieren. Die könnten wir vielleicht aushalten, aber was dann? Wir würden die Falschen von Europa fernhalten, nebenbei.

  • Aufrechterhalten aller Sanktionen gegen Russland, wegen der Annexion der Krim und der Ostukraine;

Ist zwar relativ einfach durchzuhalten und zu verschärfen, aber löst es Probleme? Symbolisch würde es dazu die eigenen Nationalismen verschärfen.

  • Sofortige Übernahme bzw. aller Waffen- bzw. Rüstungsexporte durch die Bundesregierung bei deutschen Rüstungsunternehmen und restriktive Exportmaßnahmen (d.h. bewusste Enteignung aufgrund übergeordneter Prinzipien);

Verstaatlichung geht schon, aber dann wird das Ergebnis umgangen oder von den Finanzministern aufgeweicht; die Firmen gehen halt ins Ausland, der freie Handel wird gefährdet. Kann man ja versuchen.

  • Sofortige Stilllegung aller Kohlekraftwerke. Staatliche Minimalaltersversorgung und Hilfen für Umschulung der Arbeitskräfte;

Ein besserer Vorschlag, auch wenn er teuer ist. Aber die Arbeitskräfte werden schneller nach rechts abwandern als man ihnen helfen kann.

  • Erzwingung der Reform der Vereinten Nationen durch vorübergehende Einstellung aller Zahlungen solange, bis das Privileg der fünf Vetomächte ersatzlos fällt;

So vernünftig wie aussichtslos, weil es keine kritische globale Geschichtspolitik gibt.

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Ich könnte hunderte Vorschläge hier auflisten, wie sie in den letzten Wochen zornig, ohnmächtig, blauäugig oder zynisch gemacht wurden. Aller ernsthaften Argumente zu einzelnen Aspekten liegen längst auf dem Tisch. Sie werden nicht diskutiert oder in praktische Rahmen gebracht, weil sie

  1. nicht politisch kommuniziert werden, sondern innerhalb ihrer Diskursschalen unzugänglich bleiben;
  2. Für sich genommen rational und machbar erscheinen, aber ihre Schnittstellen und Anschlussfähigkeit nicht erkennbar machen bzw. bei sich tragen;
  3. Nicht so geschnitten sind, dass sie ohne weiteres mit einander kombinierbar sind.

Darüber hinaus bedürfen sie einer gewissen „Rezeptionsmoral“, d.h. erst wenn sie beim Adressaten ankommen, müssen sie erklärt und legitimiert werden, sozusagen auf ihre schädlichen Nebenwirkungen abgeklopft werden und vor allem – sie müssten auch dartun, wie sie in Lebensstil, Habitus und soziales Umfeld eingreifen.

Sehr abgekürzt, aber eindringlich: man muss gescheit sein, etwas wissen und Freiraum zum Bilden eigener politischer Überzeugungen haben, also kommunikationsfähig sein, um dies zu können. In früheren Blogs habe ich auf die Konstitution des Volks aus der Bevölkerung hingewiesen, jetzt gehe ich den Schritt weiter: Diese BILDUNG gehört zum Konstitutionsprozess dazu, sie ist ein Angriff auf die Halbbildung, die uns allenthalben von den zähklebenden Vertretern der Interessengruppen vermittelt und dennoch freudig aufgegriffen wird. Wir erschaffen durch unsere Bereitwilligkeit zu glauben erst das Establishment, das wir dann, oft zu Recht, kritisieren. (Wenn wir nicht dazu gehören und im Namen der Meinungsfreiheit alles verteidigen, was aus unseren Reihen kommt).

Übrigens: es heißt REGIERUNGSBILDUNG:

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Regierungsprogramme können das nur beschränkt leisten. Gut und ernst gemeinte Vorschläge können Debatten anstoßen, die im Vorhof der Politik versanden.

Bevor man sich auf den Weg zu Reformen macht, lese man Kafkas „Vor dem Gesetz“ und suche die Alternativen: welche Verbote müssen umgangen werden, damit die Praxis keine unzumutbaren Preise und Opfer hat?

Allein in meinem politischen Umfeld häufen sich die guten Ratschläge, die außerhalb desselben bei den politischen Umfeldern anderer Gruppen, Parteien und Zirkel wiederum erörtert und vorgeschlagen werden, und umgekehrt. Das ist, auf der höheren Ebene, eine Art von Ratgeber-Literatur-Konzil, global.

Das wäre ja nicht wirklich von Übel, wüsste man genau, mit welchem konkreten Ziel und aus welcher Kritik der Verhältnisse jeder Programmpunkt entstanden ist. Nur ist die Rekonstruktion schwierig, und am Grunde jeder Programmatik findet sich meistens das eigene Interesse (legitim, aber selten zureichend) oder ein quid pro quo (was hab den ICH davon? Illegitim, aber wirkungsvoll).

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Ich will meine Leser*innen mit solchen eher Brackwasserigkeiten nicht langweilen. Sie stoßen mir nur auf, weil ich mich in einem Umfeld befinde, in dem oft Ratlosigkeit zu übertriebenen, aggressiven Emotionen oder stumpfen Kurzschlüssen führen, und ich meine eigenen Schnellschussreflexe testen will, bevor ich sie auf andere loslasse. Am Beispiel meiner Vorschläge oben – und ihrer Widerlegung – kann jeder üben.

Wie man eine großartige Idee entwickelt, hat Robert Menasse in der „Hauptstadt“ anhand eines Plädoyers für Auschwitz als europäischer Hauptstadt in einem sehr komplexen Kontext dargestellt (man kann, ohne ihn durch Überinterpretation zu beschädigen, behaupten, dass in das Gesamtkonzept der polierten Imagekonzeption jedes der angesprochenen Probleme und noch viele mehr untergebracht werden können, dass aber kein einzelnes ohne den Kontext dessen, worum es wirklich geht, voll ausgedeutet werden kann). In diesen Tagen, wo Gefangene gegen Rüstungsexporte, Flüchtlinge gegen Volksberuhigung, Minderheiten gegen Stabilität, Betrüger gegen Klimaziele getauscht werden, ist die Herausnahme von Problemen aus der Tauschlogik so wichtig wie eine Formulierung der Perspektive jenseits der Probleme. Das ist ein Umweg zu dem, was mich bewegt zu schreiben (nicht, was mich bewegend bewegt, die Romantik ist zur Zeit flüchtig).

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Wenn ich mir die Forderungskataloge gerade der Menschen vornehme, die mir politisch näher stehen als andere, dann zeigt jedes einzelne Problem eine Schwelle der Unlösbarkeit. Wenn angebliche Pazifisten aus der NATO raus wollen oder die nationalen Streitkräfte abbauen oder ihre Einsatzbereiche reduzieren auf „Verteidigung“, dann klingt das vernünftig und ist gut zu argumentieren. Wenn ich dem entgegenhalte, dass man sich bei solchen Maßnahmen schnell die Private Security, die ohne Gesetz und Kontrolle Kriege führt und Gewalt ausübt – in vielen Fällen habe ich das selbst beobachtet –  dann setzt zu Recht Nachdenken ein.

Wenn mit den Arbeitsplätzen der Autoindustrie argumentiert wird, dann sind die Alternativen ganz stark an den Lebensstil und die Macht der Gewohnheit gebunden, ohne dass das auch nur offenkundig wird. Ich erinnere mich daran, welchen Ärger es in den 80er Jahren gemacht hat, als ich vorschlug, die Einspruchsmöglichkeit gegen Bahntrassen  geringer ausfallen zu lassen als beim Straßenbau…und warum werden Autos gebaut, die 240 km/h schnell fahren, wenn alles über 130 km/h ein Tötungsprogramm für Mensch und Umwelt ist?

Jeder der möglichen Konditionalsätze erzeugt einen ganzen Wirbel an Ausweitungen, Schnittstellen und Konfliktpotenzialen. Bis man erschöpft zurücksinkt und entweder resigniert oder dne Kompromiss der kleinsten gemeinsamen Nenner findet.

Und da denke ich, dass wir es aushalten können, „Verschärfungen“ zu fordern und, wo es geht, durchzusetzen, auch im Strafrecht (Autovorstände, Chemielobbies, etc.), auch im Eigentumsrecht (siehe oben: Waffenproduzenten und Anteilseigner an diesen Industrien), auch in der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Geschwindigkeitsbegrenzungen, Verlangsamungen, aber auch Begrenzung der Eingriffe in den Naturraum z.B. bei neuen Seilbahnen usw.). Und es soll Abmilderungen geben dort, wo die Rigidität nur den Ideologen nützt. Es ist eine Abmilderung, ausländische Straftäter in Deutschland einzusperren anstatt sie durch Abschiebung in den Tod zu schicken.

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Dass ich immer wieder bei der Bildung, beim Wissen, beim Gescheitsein lande, ist auch für mein Leben kein Zufall (gewesen und geworden). Keine Selbstbespieglung ist, dass mir ein recht berühmter Kollege aus dem Bildungsbereich einen antipädagogischen Affekt vorgeworfen hatte. Und er hat mir, dem einstmals promovierten Pädagogen, nicht Unrecht getan. Wenn ich heute die massenhafte Unbildung kritisiere, beklage ich sie doch nicht, sondern ordne sie in genau den zivilisatorischen Konflikt ein, der Ursache und Anlass dieses Blogs ist. Zu wissen, wie und warum die Evolution aus der Spur geraten ist, macht uns vielleicht nicht glücklicher…aber das war ja nicht das Ziel der Gesellschaft.

  • Zu Anfang dieses Blogs habe ich gefragt, was man gegen die Nazifizierung unserer Gesellschaft machen kann. Gestern, am 23.2.2018 konnte man sehen, wie die Nazis im Parlament, also die AfD, den anderen Parteien vorgeführt hat, wie der Stad der Dinge ist. Man plädierte für eine würdige Geschichtspolitik auch gegenüber den Verbrechen der Nazis, möchte sie aber von der Schuld abkoppeln, die bis in die Gegenwart und weiter greift. Einige der demokratischen Beiträge haben das zu Recht aufgegriffen. Mir wurde aber höchst unbehaglich dabei, wie wenig konkret das Geschichts“Geschehen“ und die Erinnerung verknüpft wurden. Eines aber war klar: die Nazis im deutschen Parlament gibt es.
  • Mit meinem Freund Bodenheimer habe ich lange einen Satz entwickelt und vertieft: „Nur wer vergessen will, darf sich erinnern“. Im Kontext eben der wirklichen Verbrechen und Gräuel, im Kontext der Auslöschung. Das bedeutet, in Bildungsdiskurse übersetzt: das Erinnern ist kein Instrument. Weder für die Entsühnung, nichts wird dadurch besser, dass wir es erinnern; noch für die Selbstbefreiung im Sinne einer psychoanalytischen Therapie (die gehört auch in den Kontext, aber eben „umgekehrt“). Ich habe mich immer wieder gefragt, wer das Schreckliche nicht vergessen möchte. Weil es nicht erträglich ist. Und die Erinnerungsbilder, die Auschwitzbilder, die Zeitzeugenberichte und die Kinder, die unsere Generation nicht als Enkel, Brüder und Schwestern oder Cousins je kennengelernt hatte…all das will man nicht dauernd um sich hat. Und deshalb will man es vergessen. Erinnern kann befreien, dann, wenn man genau weiß, was es ist, das man nicht mehr präsent haben will. Dazu muss aber erst einmal genau hingeschaut worden, Betonung auf genau.
  • Das gilt für die Geschichte der Shoah und etliche Menschheitsverbrechen danach. Und das ist, so paradox es auch klingt, ein Teil der eingangs zitierten Komplexität kleinster Problemlösungen. Nicht die Probleme sind das Problem, sondern wir.

 

 

Deutsche Fragen

Deutsche Fragen. Die deutsche Frage. Die Deutschen fragen…zu wenig.

Ich schreibe eine Rezension eines 2016 in Oldenburg erschienen Buchs, nicht nur, weil ich es für wichtig halte, sondern auch, weil es vielfach an Beobachtungen der jetzigen Situation anschließt.

Oldenburg, das war einmal meine Universität, und ich verbinde mit dem Buch eine ständige Herausforderung durch die deutsche – und internationale, wie man sehen wird – Geschichte. Politik ohne Geschichte ist etwas amputiert, das musste ich in den letzten Jahren in der Lehre an der exzellenten FU Berlin erfahren, und in Oldenburg war es nicht sehr viel besser. Doch, auch in meinen Veranstaltungen, aber mühsam: Geschichtswissen als teilweise Antwort auf meine Lieblingsfrage: woher weiß ich, was ich weiß?

Klaus Finke: Die Deutsche Frage und die Barsinghausener Gespräche 1958 – 1967. Oldenburger Beiträge zur historisch-politischen Bildung, #13. BIS Verlag der Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg, 2016.

In diesem Titel ist schon viel enthalten. Die historisch-politische Bildung, für Geschichts- und Politikwissenschaft gleichermaßen bedeutsam, ist ein intellektuelles Gut, das zu den stromlinig geschneiderten Modulen der Fachwissenschaften nicht so richtig passt. Der BIS Verlag einer sehr menschenfreundlichen großen Bibliothek gibt mehrere Reihen dieser Art heraus, und kümmert sich mehr darum, Vernünftiges zu produzieren, als den Lobes- und Zitierkartellen der Großverlage nachzueifern.

Wichtig zum Thema, viel wichtiger: Carl von Ossietzky, der Namensgeber der Universität; und Armin Mruck, der vier Beiträge und ein Interview zu diesem Band beigetragen hat.

Ossietzky und die Weimarer Republik stehen bereits für eine Deutsche Frage, die anders konstruiert war als die nach 1945, aber vieles von dem in ihre Antworten hat fließen lassen, das heute wieder wichtig wird, z.B. bei Analogien unserer politischen Zustände, einschließlich des Anwachsens der Nazipartei AfD, mit der Weimarer Republik (das fällt auch anderen auf, u.a. in den USA dem bedeutenden Mark Mazower). Wer den Zusammenhang genauer an Ossietzky festmachen möchte, der lese nach bei

  • Elke Suhr, àGerhard Kraiker und Dirk Grathoff, à Rainer Rheude, und die umfangreichen Dokumentationen zur Namensgebung, die erst 1991 erfolgte und in deren Umfeld die ganze Kontroverse um verarbeitete Geschichte, Aufarbeitung und Ausblick noch einmal hochkochte. Gerhard Schröder, Aron Bodenheimer und viele andere seien genannt.

Ich war damals schon ein paar Jahre Unipräsident und habe mich vor allem auf die Kontroverse eingelassen, ob diese Uni den Namen Ossietzkys überhaupt „verdiene“ (was von den „Linken“ in Frage gestellt wurde, die ein einseitiges Geschichtsbild dogmatisch verfolgten). Ja, sie hat es verdient, und die Publikation von Finke ist ein Beleg.

Es geht in diesem Band um eine Gesprächsreihe der Nachkriegszeit, in der der Zusammenhang zwischen Vertreibungsproblematik, Kaltem Krieg und den Variationen der „Deutschen“ Frage vor und nach dem Mauerbau 1961 thematisiert wurde. (Beitrag von Sören Nordhoff). Flucht und Vertreibung sind auch heute, unter anderem Vorzeichen allerdings, aktuell.

Klaus Finke leitet das Buch mit einem großen Essay ein, der m.E. nicht nur kenntnis- und faktenreich ist, sondern das Problem „Deutsche Frage“ der politisch-historischen Bildung zurecht als Thema mit Variationen an die Hand gibt. Studierende können im übrigen daran lernen, dass es doch, vor allem Europa betreffend, Fortschritte seit den 60er Jahren und erst recht seit 1989 gegeben hat.

Mein zweiter Anlass ist Armin Mruck.  Noch als Kriegsteilnehmer in den Neubeginn in der amerikanischen Zone gekommen, hatte Armin Mruck in Marburg und Göttingen studiert und war in den 50er Jahren über Stipendien und erste Berufungen zum Professor an mehreren amerikanischen Universitäten geworden, zuletzt und für viele Jahre an der Towson Universität, nahe Baltimore in Maryland. „Europäische Geschichte“ war und ist sein Kernfach, und die „deutschen Fragen“ standen immer im Zentrum seiner Überlegungen. Ich hatte Armin 1986 wenige Monate vor meinem Amtsantritt als Unipräsident kennengelernt, bei einem Studienaufenthalt mit der GEW in den USA. In Towson wurde uns Armin Mruck als Betreuer zugeteilt, und daraus entwickelten sich ein persönliche Freundschaft und stabile akademische Beziehungen zwischen beiden Universitäten. Der amerikanische Freund, der immer auch ein deutscher Freund war, bildete einen frühen Ansatzpunkt für die notwendige Internationalisierung unserer Reformuniversität, der Austausch florierte, von Forschung über Studium bis hin in den Verwaltungsbereich. Armin Mruck also hat Oldenburg viel zu verdanken. Jetzt hat er diesen von Klaus Finke besorgten Band angeregt. Sein erster Beitrag, das Deutschlandbild der Amerikaner betreffend (1961) ist typisch für seine Herangehensweise; und allemal aktuell sind seine europapolitischen Vorstellungen im Gespräch zur deutsch-polnischen Aussöhnung (1963). Barsinghausen ist schon deshalb ein wichtiger Ort.

Finke gebührt das Verdienst, Sichtweisen gegeneinander zu stellen, etwa die Bewertung Röpkes durch H.A. Winkler und Götz Aly: im Kapitel 2 seines langen Essays wird hier ein Beispiel auch anschaulicher Kritik gegeben; Studierenden sollte es leichter fallen, sich in eine Zeit hineinzuversetzen, in der der Kalte Krieg nur mehr ein metaphorischer Begriff von größter Unanschaulichkeit ist. Weiß man etwas mehr, versteht man Egon Bahr, der den Kalten Krieg einmal Beispiel für Eindeutigkeit in den Weltverhältnissen beschrieben hatte, und noch mehr, dass bei der Münchner Sicherheitskonferenz eine solche Eindeutigkeit vermisst wurde (zu Unrecht, wie ich meine).

*

Ich habe diese Rezension in meinen Blog gestellt, weil ich ja viel vom gegenwärtigen Vorkrieg schreibe und von den schwierigen Umständen, unter denen Hoffnung zur politischen Praxis werden kann. Wer den reaktionären und revanchistischen Grundton in weiten Teilen Westdeutschlands nach dem Krieg und die abstoßende Kippfigur der Deutschlandpolitik im kommunistischen Lager und der DDR verfolgt, der gewinnt eine Ahnung, wie sehr die Ostpolitik von Willy Brandt, wie sehr die Auschwitzprozesse und die Studentenbewegung, wie sehr die Revitalisierung von Ossietzky und Tucholsky, zumal in Oldenburg, doch erhebliche Verbesserungen auch unserer historischen wie politischen Ausgangslage gebracht haben, nicht nur akademisch, sondern im wirklichen gesellschaftlichen Leben.

Finkes Band zeigt aber auch, wie sich das Stellen von Fragen verändert hat, wie wir mit Antworten umgehen müssen, wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt. Das ist es, was dem Studium immer hinzugefügt werden sollte, und wovon alle einen Gewinn haben: Lehrende und Studierende.

Unordnung und Durchatmen

Unordnung und Durchatmen

1.

Ich eifere nicht Thomas Mann und seiner Novelle „Unordnung und frühes Leid“ nach (1925), mein Titel ist spontan, aber es gibt einen Bezug: man kann Vergangenheit bearbeiten, lebendig machen  und für sich nutzen, für alle nutzen, aber man sollte ihr nicht nachtrauern.

Unordnung kann heute zweierlei bedeuten: die grenzenlose, oberflächliche Schlamperei der Wahrnehmung und Argumente, das Fehlen von Sorgfalt im Diskurs, die Müllhalden in den eigenen Umgebungen, Nostalgie und Historismus anstatt Reflexion dessen, was uns gemacht hat und wovon wir anderswohin ausgehen müssen, um zu überleben (Finis terrae!).

Unordnung kann aber auch ein Befund sein: Sie hängt eng mit der Unübersichtlichkeit zusammen, der Habermas eine seiner besten Aufsatzsammlungen gewidmet hatte (1985). Darin gibt es den Essay: „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“ (141-163). Lesen, Stoff genug, auch zu sehen, wer sich heute so mit diesen Themen beschäftigt. Deren wichtigstes ist für mich die Abkopplung der gesellschaftlichen Entwicklung von der ausgeübten Macht. Das Fehlen von Utopie – nicht Utopismus! – bedeutet auch Verengung der Zukunft auf Statik und falsche Gegenwart. Zeitgeist ist da so ein Ausgangswort, wo und wie ist er heute zu beschreiben? Gegenwartsdiagnosen dürfen es nicht bei sich selbst aushalten, gut, aber wie machen wir das, wenn all das den Bach runterzugehen scheint?

Genug der Einleitung.

2.

Die Münchner Sicherheitskonferenz ist als langatmiges, aufregend banales Ereignis zu Ende gegangen, im Vergleich zu den Jahren davor auch uninspiriert mehr als nur Ratlosigkeit zeigend: Unordnung im Denken, Feigheit der möglichen Moral.

Cem Özdemir ist wichtiger geworden als die ganze Konferenz. Er zeigt, wie unmöglich Außenpolitik geworden ist, die nicht mit den Ambiguitäten der Wirklichkeit umzugehen weiß. (Man hätte die türkische Delegation nach ihrer Anzeige rausschmeißen müssen, nicht nur Cem Özedemir schützen, was natürlich vor allem richtig war).

3.

Die Unordnung besteht darin, nicht mehr zu begreifen, dass Parteiergreifen oft nicht möglich ist, und Pragmatismus nicht Gleichgültigkeit bedeutet. Wer hat „mehr Recht“ – Erdögan in Afri, die USA mit ihrer Unterstützung der Kurden, Assad mit seiner Unterstützung der Kurden, die Russen mit ihrem Bündnis mit Erdögan und Assad, alle gegen den IS, die USA und Israel gegen Assad etc.? So zu fragen, bedeutet, keine Antwort erhalten zu können, ich vermute, gar keine zu wollen.

In meiner Wissenschaft gehört hinzuschauen und zu verarbeiten, was ist, also was wahrgenommen werden kann und in einen Kontext einzuordnen, zu den primären Tugenden. Die Wirklichkeit aus einer Konstruktion abzuleiten, die immer schon den Rahmen für das zu untersuchende System abgibt, reicht nicht, geht oft gar nicht. So taugt die Konstruktion  des „Westens“ zur Standortbestimmung schon deshalb nicht, weil es außer und außerhalb dieses Westens nichts konkretes, profiliertes gibt, als den Nichtwesten. (Der Osten ist es nicht, der globale Süden ist es nicht, der nichtwestlliche Norden auch nicht…wenn ich mich für den Westen stark mache, dann nur im Kontaxt und konkret). Ich schreibe das auch unter dem Eindruck einer innergrünen Debatte, die den Westen gern fundamental kritisiert, aber nicht genau weiß, welche Bündnispartner man sich mit der Westkritik einfängt. Um die Metapher genauer zu erklären: Ich habe vor Jahren Anstoß an der Politikerfloskel „Deutsche und Juden“ genommen, und einem Aufsatz den Titel gegeben „Rund um uns Millionen Nicht-Juden“. Übertragt das mal auf eine Welt: rund um uns globaler Nicht-Westen…

In diesen Tagen zerfällt die Weltordnung, die keine war. Die Toleranz gegenüber Diktatoren und Verbrechern, großen und kleinen Machthabern, korrupten, rassistischen, sexistischen Kleptokraten etc. wird immer doppelt gerechtfertigt: a) besser mit jemandem dieser Art zu reden als sich auf eine verbissen-schweigende Konfrontation vorzubereiten; b) man sei durch Bündnisse, Verträge und Realpolitik zu dieser Toleranz verpflichtet, auch wenn die Kontrahenten diese Verträge nicht einhalten bzw. das Bündnis schamlos zur Erpressung ausnutzen.

Der Kalte Krieg war nicht ordentlicher als die Welt heute. Die Polarität der Herrschaft war nur eindeutig, und die Linien der Dominanz waren klarer. Keine Nostalgie, bitte. Die Unordnung der Jahre 1985-1990 war ungleich fruchtbarer und friedensförderlicher als viele andere Perioden. Ein großer Irrtum allerdings ist uns, auch mir, unterlaufen: wir hatten zu einfach geglaubt, ein Zeitalter fortgeschrittener Vernünftigkeit würde in den Beziehungen von Staaten einkehren, weil ja die Gesellschaften darauf drängten.

Wir waren nicht naiv, damals. Eher zu erwartungsfroh, wo uns die Utopie-Lehre bedeutete, welche Voraussetzungen erst geschaffen werden mussten, um den Frieden zu festigen und die Vergangenheit zu bewältigen. Geld und kurzfristige Abrüstung waren zu wenig. Die Unordnung von Befreiung hatte nicht etwa nur Freiheit vorrangig gebracht, sondern auch den Boden für Orbans, Le Pens, Straches und andere mehr oder weniger scheusalige Autokraten bereitet, die alle nicht die Demokratie als Grundlage für die Einlösung von Zukunftsoptionen anerkennen (und es wird nicht hinreichend bestraft, wer solches zum Prinzip macht).

(In einem dramaturgischen Szenario würde ich gern die Aufgabe stellen, zum Satz: wir haben die Feinde aufgerüstet und uns abgerüstet, um ein Beispiel zu geben. Ich mache das nicht, weil es zu kurz eine Wahrnehmung macht: wir haben geglaubt, ohne die Grundlage von Vertrauen zu schaffen. Dieser Klammereinschub ist nicht meine Position, aber sie drängt sich eben auch auf).

Warum ich den Grundton der politischen, der „anthropologischen“ Verzweiflung nicht mildere, und trotzdem nicht in Tristesse oder ohnmächtiges Aufbegehren mich verabschiede? Weil es natürlich – natürlich im Wortsinn – gegen diese ganze Misere Widerstand gibt, Lieblingswort der Kritiker: heute Resilienz, und weil es ein quia absurdum gibt. Dass Widerstand möglich ist, und dass er viele Gesichter hat, auch unter widrigsten Umständen, zeigen viele: die amerikanische Justiz, eine Minderheit von Medien in Polen, Russland oder der Türkei, Personen mit Zivilcourage wie Yücel, eine lange und würdige Liste ohne Rankings: eines ist den Genannten gemeinsam: sie stärken die Gewalttäter an der Spitze von Staaten nicht dadurch, dass es sie gibt. Widerstand als Weihrauch der Opfer für die Täter ist falsch. Und: jeder Widerstand hat auch eine Ordnungsstruktur in Latenz. Ungerichtet ist er kein Widerstand, sondern Aufbegehren, Empörung…. wem nützt das?

Und quia absurdum. Einer meiner Lieblingssätze, das absurdum ist nicht absurd, sondern meint eher unvernünftig, unpassend. – im Wörterbuch steht auch noch abgeschmackt und unbrauchbar. Aber das ist es. Eine Unordnung kann nicht mit der Rationalität ihrer Verursacher zu einer akzeptablen Ordnung führen. Eine illiberale Demokratie, wie Orban sein Paradies nennt, kann nicht liberal werden und schon gar nicht demokratisch; America first setzt die Ordinalzahlen außer Kraft. First vielleicht, aber wenn niemand ernsthaft nachkommt, dann steht der nackte Kaiser auf weiter Flur und friert (hoffentlich bevor er die Bombe wirft).

Immer, wenn Menschen an den Umständen ihres Lebens verzweifelt sind, gab es zwei Ausgänge: in den Untergang und schlimmere Umstände, oder in die Freiheit. (Etwas besseres als den Tod findest du immer…stimmt leider nicht: oft waren die KZs, der GULAG, die Folter, der Verrat schlimmer als das Auslöschen von aller Welt). Aber wenn der Durchbruch geschafft war, dann setzt Befreiung ein, Befreiung „zu“ wohlgemerkt, das „von“ liegt hinter uns. Unordnung in Welt und Politik ist der noch nicht zum Lehrplan geronnene Mainstream der genormten Auffassung. Wer sich befreit, schreibt selbst am Curriculum mit.

Wichtige Ergänzung:

Aron R. Bodenheimer, bedeutender Psychoanalytiker, querdenkender Erforscher des Judentums, und ein guter Freund, hatte im Oktober 1991, im Zeitalter hoffnungsfroher Befreiung und neuer Kriege, einen Vortrag in Oldenburg an der Universität gehalten: Plädoyer für die Unordnung“, aus dem drei Jahre später ein Buch wurde, gleichen Titels: (Verlag c. Haux, Bielefeld 1994). Dieses Plädoyer, außerordentlich umfangreich, facettenreich, voller Verzweigungen, ist ganz und gar nicht unordnetlich, aber es ist ein Hinweis auf die aktuellste aller Entgegenstellungen: wenn Ordnung Sicherheit bedeutet, engt sie im Übermaß die Freiheit ein, und das Übermaß erkenntman, wenn die Freiheit eingeengt wird. Lest das.

Mir ist das Buch wiedergekommen, als ich heute morgen hörte, die bayrischen Kommandos hatten wie der 14 Afghen abgeschoben – Straftäter, Gefährder usw. – also tendenziell in den Tod geschickt. Die 14 hätte man auch hier gut verwahren könnnen, es soll aber ein Zeichen sein, im Namen des Christentums, des Sozialstaats, der Ordnung – nicht viel anders als 007: mit Lizenz zu töten. Die Täter heißen nicht nur Hermann, de Maizière und wie sie alle heißen, unsere Sicherheitsbeauftragten. Auch wir haben eine Verantwortung dafür, und die Antwort lautet nicht einfach: keine Abschiebungen. Sondern Justizreform, sie lautet schlicht: Rechtsstaat.

 

 

 

 

 

 

 

 

Finis terrae XVII: Globale Nazis & Faschisten

Eingeständnis: ich wollte ich hätte in wichtigen Argumenten Unrecht.

Behauptung: Die Welt – also die globale Vielfalt an Staaten ist auf dem Weg in autoritäre, diktatorische oder jedenfalls unfreiere Status als wir sie kennen, wir in Europa und der EU. Wir werden dem nicht einfach entkommen, indem wir auf die republikanischen, demokratischen Grundlagen unserer Staaten und unsere Verfassungen verweisen, also auf den rechtlichen Rahmen und auf den Zustand, in dem sich unsere Freiheit befindet.

Analogie: viele Erscheinungen sind analog zu denen der Zwischenkriegszeit in Europa 1918-1938.

Begriffsbestimmung und Warnung: man wirft mir vor, ich verharmlose die Nazis und/oder Faschisten, wenn ich heute Erscheinungsformen und Praktiken der Politik mit ihrer Praxis in der Vergangenheit vergliche. Ich bestehe aber auf dem Vergleich, der keine Gleichsetzung ist: nicht alle Nazis von heute begehen – zur Zeit, noch nicht, nicht – die Verbrechen der Shoah oder des Gulag. Mein Hauptanliegen ist die Analogie aufzuzeigen, die zwischen dem Entstehen der faschistischen Staaten und Nationalsozialismus und heutigen Entwicklungen besteht. Dabei trenne ich begrifflich zwischen Nazis und Faschisten, bei größeren oder kleineren Schnittmengen: Nazis haben ein Übergewicht auf völkischen und rassistischen/ethnischen Machtstrukturen (Typus „Volksgemeinschaft“), Faschisten auf einem ethnisch, nationalistisch gestützten Staatssystem.

Anlässe:

  1. Österreich

Dazu habe ich einige Blogs geschrieben. Ein Besuch in Österreich 10.-14.2.2018 hat mir einiges vor Augen geführt, das an die früher gemachten Beobachtungen anschließt.

Keine Anekdote: in Innsbruck geht eine Frau in einer engen Gasse an einem Verbindungshaus einer schlagenden Burschenschaft vorbei. Zwei Chargierte stehen davor, einer mit einer frischen Mensurwunde. Sie fragt, ob das eine neue Verletzung sei. Antwort: Kusch, jetzt sind wir dran.

Hintergrund: die FPÖ hat über 30 Mitglieder von schlagenden Verbindungen ins Parlament entsandt, einige Minister gehören diesen Burschenschaften an, die sich als „deutsch“ und nicht österreich definieren. Ein Wahlkämpfer gehört der Germania an, in deren Liederbuch der Judenmord  gebilligt und verherrlicht wird (er musste zurücktreten). Die Debatte ist jetzt aufgeflammt, die FPÖ will ihre Geschichte untersuchen lassen, die Verbindungen aber zögern, ihre Bücher dafür zu öffnen, und der Kommission gehören eher zweifelhafte Mitglieder an. Aber: das Problem ist offensichtlich.

Die FPÖ sind keine „ausgereiften Nazis“. Aber sie haben vom ersten Tag ihrer Mitregierung begonnen, die Infrastruktur einer an sich festen demokratischen Verwaltung umzustrukturieren, und bedienen sich dabei bewährter Methoden, analog zur AdD: sie stellen sich als Opfer der Medien und linker Vorurteile dar. Sie beklagen die politische Korrektheit ihrer Gegner und relativieren die unbestrittenen Fehler ihrer Exponenten (etwa, wenn der neue Innenminister Konzentrationslager im Wiener Umfeld für Asylbewerber bauen will). Aber ihre Stärke ist sehr ähnlich früherer Nazi Strategien: sie sind gut im Erkennen von Schwachstellen von Staat und öffentlicher Meinung, kritisieren diese manchmal mehr, manchmal weniger zutreffend, und bieten dann keine Lösungen an, sondern berufen sich auf die Kritik als Weg zum richtigen Handeln. D.h. sie bieten gar keine entscheidungsfähigen Optionen für die Bürger*innen an. Im schlimmste Fall bereiten sie sich auf eine Machtübernahme vor, im mildesten Fall zieht ihre Mitregierung die anderen Regierungsparteien – zur Zeit die ÖVP unter Sebastian Kurz – in ihr Lager.

Einwand: die FPÖ unter Strache beschwört ja geradezu hektisch ihr Loyalität zu Österreich, ihre Abkehr vom Antisemitismus, ihre Gesetzestreue und sogar ihre Verbundenheit zu Europa (vergessen ist nicht der Öxit-Kurs dieser Partei vor einem halben Jahr noch). Nähme man das Ernst, wäre es eine Variante einer Art von „Mäßigungstheorie“, wonach, erstmals an der Macht, radikale Kräfte sich pragmatisch abmildern. Das stimmt nicht für Trump, Putin, Erdögan, Kaczinsky, Ji Jin Ping, Duterte und andere, und was mäßig erscheint, kann ja auch unsere erschöpfte und resignierte Wahrnehmung des „Noch ist es ja nicht so arg wie befürchtet“ sein; oder „noch trifft es mich nicht“.

Der Einwand mahnt immerhin zur Wachsamkeit. Aber es geht ja darum, Instrumente zu haben, die praktisch werden können, wenn die Mäßigung nur von taktischer Dauer ist.

Die österreichischen Gewerkschaften unterstützen eine ausländerfeindliche Immigrationspolitik der Regierung, weil sie für heimische Arbeitsplätze fürchten, obwohl Arbeitskraftmangel besteht. Die geschlossene Balkanroute ist ein Verbrechen, das kein Problem gelöst hat, nur das Elend umverteilt und breite Zustimmung beim Stammtisch genießt, dem ja das Verrecken im ungarischen Stacheldraht so gleichgültig ist wie die Unmöglichkeit, die EU Außengrenzen anders als mit völkerrechtswidriger Gewalt zu schließen.

Österreich ist ein Beispiel dafür, dass die nazistischen Bestrebungen nicht von einer strategischen Führungselite und einer populistischen Diskurshoheit allein „aufgebaut“ werden, sondern dass es einen bodenständigen Bodensatz an autoritären, „plebejischen“ Kollektiven gibt, deren Gemeinsamkeiten so etwas wie die ethno-nationale Alternativkultur ausmachen. Keineswegs nur das Prekariat, sondern viele studierte Akademiker, nicht nur solche mit zerhackten Gesichtern; auchRichter, Staatsanwälte, Unternehmer, gehobene Schichten.

Das ist eine Beobachtung, noch keine Analyse. Es gibt in Österreich Widerstand, der sich zum Teil nicht mehr offen als solcher zu erkennen gibt, aber auch mit viel Zivilcourage handelt, und die staatliche Autorität irgendwo liegen lässt. Ich sage bewusst nicht „links liegen“ lässt, weil rechts und links hier nicht mehr passen.

  1. Deutschland

Auch hier erlaubt sich der  Pöbel – nicht mit dem idealisierten untergegangenen Proletariat zu verwechseln – mithilfe der AfD gezielte Ausfälle gegen die Zivilisation, die nun wahrlich nicht leicht errungen  und gefestigt worden war. Wie in Österreich gibt es rhetorische Gallionsfiguren  (Höcke, Boehringer, Poggenburg, Gauland…), die einfach Nazisprüche klopfen und sich darauf  zurückziehen, es nicht „so“ gemeint zu haben, wie es ankommt, und im Übrigen die Meinungsfreiheit für die Opfer – also die Nazis -ein noch höheres Gut sei als für die anderen Menschen. Wie in Österreich gibt es hier keine klare Grenze am Parteirand der AfD, sondern die Pöbelei geht in fast allen Parteien unter die Haut. Auch hier gibt es eine Tendenz bei den Lohnabhängigen, sich vom autoritären System mehr sichere Arbeitsplätze zu versprechen als von der deliberativen Demokratie, und von Teilen des Arbeitgeberlagers ebenso. Deutschland ist (noch) weniger anfällig für Regierungsübernahme durch die AfD, aber CSU, Teile der FDP und ein Randstück der Linken sind manchmal wie Steigbügelhalter im Wartestand.

  1. Global

Was hier kurz angedeutet wurde – ich schreibe ja Blogs und kein Buch – kann genau und facettenreich belegt werden. Es ist nicht erstaunlich, dass weltweit analoge Erscheinungen auftreten, oft in den gleichen Mustern und immer nur mit dem relativen ökonomischen Wohlstand als intervenierender Variable.

Ich habe dafür natürlich kein umfassendes theoretisches Konzept, das daraus die Elemente einer genauen Diagnose und möglicher globaler Politiken aufzuzeigen. Aber ich möchte einige Behauptungen nebeneinander stellen und nur annehmen, dass diese logisch verknüpfbar seien. (Was dazu zu lesen sei…wir werden von guten Theorien und Vorstellungen hinreichend versorgt, aber Teil meiner Sekundärbeobachtungen ist, dass wir uns – wir, viele von uns, wir alle? – zu sehr von Nebenproblemen und Restnationalismen auf taube Gänge drängen lassen).

  1. Die oft beklagte fatigue de democracie, die Demokratiemüdigkeit, kommt unter anderem von der irrigen Vorstellungen, dass ein demokratisches Teilhabesystem von sich aus schon die Position des und den Ertrag für den Einzelnen steigert und sichert. Das Gegenmodell „agonistischer“ Widerstände kann wirksam sein, verändert aber nicht den Wert demokratischer Grundstrukturen.
  2. Die am meisten analysierte Widrigkeit ist die Dominanz der Ökonomie über die Politik, ja ihre politische Stabilisierung. Das ist nicht einfach ein Auswuchs des Kapitalismus, sondern auch auf die Resignation zurückzuführen, dem Kapitalismus ethische, soziale und kulturelle Bindungen anzulegen.
  3. Das negative Ergebnis ausbleibender Menschenbildung – Bildungssysteme, wissenschaftliche Engführung, Ent-Öffentlichung der Kultur – führt zu einer Weltsicht, die sich der Verantwortung des Individuums für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Probleme entzieht. (Dies ist keine „Kulturkritik“, sondern die Kritik daran, dass der Individualismus, den ich nicht angreife, nur seine Vorteile, aber nicht seine Verantwortung wahrnimmt: Das entfesselte Individuum ist vielleicht vom falschen Kollektiv befreit, aber doch nicht darin frei, nichts für den Erhalt der Gesellschaft zu tun).
  4. Damit werden die tatsächlichen Probleme – Klimawandel, Militarisierung der Politik, Umkehrung der globalen Verantwortung durch diskursive Innenpolitik, Missachtungen der Menschenrechte, radikale soziale Ungleichheit, insgesamt Skepsis gegenüber dem Recht und Fakten – nicht mehr hinreichend wahrgenommen. Die Kritiker, die vieles davon auf Dominanz der Machtausübung und der Herrschaftspraxis männlich dominierter weißer Eliten schieben, haben teilweise Recht. Aber da ist mehr, das nicht einfach aus der Vergangenheit zu erklären ist: Kolonialismus, Monetarismus etc.
  5. Was fehlt ist eine politische Anthropologie, die keineswegs aus der Freiheit des Einzelnen die Freiheit „Aller“ folgen lässt. Eine solche Anthropologie setzt politische die Fähigkeit voraus, ambig zu denken, also die Ambiguitäten in fundamentalen Zusammenhängen zu erkennen. Das ist enorm schwierig, aber eine lohnende Einsicht in den Stand der Evolution, von dem aus wir vielleicht noch weiter handeln können, wenn ich auch bei Beginn meiner Blogs eher skeptisch war, ob wir die nächsten hundert Jahre als zivilisierte Menschen noch erleben/überleben werden.
  6. … Jede(r) meiner Leser*innen wird freundlich gebeten, einen weiteren Befund dieser Liste hinzuzufügen und hier anschlussfähig zu machen.
  7. Da capo al fine: Globale Nazis

Mein Ausflug war keiner in die Philosophie, aber er fordert auch diese. Selbstverständlich ist alles noch viel komplizierter und es gibt viel mehr zusätzliche intervenierende Variablen. Ich mache ja auch kein Weltrettungsprogramm, aber die Nazis irritieren mich mächtig. Deshalb interessiert mich, warum der Ethnonationalismus, der Rassismus, die Waffensucht und das Loslassen der eigenen Verantwortung so weltweit verbreitet sind. Eine mögliche Antwort wird von eher fortschrittlichen Vertretern des Nationengedankens geäußert: wenn sich Nationen als Staaten voneinander deutlich in Werten, Politiken und Kulturen unterscheiden, dann kann man auch von außen sehen, welche was besser oder richtiger machen. Gut gebrüllt, aber schon deshalb nicht richtig, weil Kommunikation und die Sicherheitspolitiken die Nationengrenzen längst eingeebnet haben, und jeder Nationalismus die beschriebenen Symptome eher verschärft. Ich denke, generell kann gesagt werden, dass die Konsequenzen der Antworten auf die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, so unterschiedlich und ungerecht und teilweise auch hirnrissig ausfallen, dass weder der Gebrauch des Verstandes (z.B. im Autoverkehr, im Rüstungsexport, in der Ungleichwertigkeit der Reproduktion von Arbeit, in der Beschleunigung unnützer formaler Strukturen etc.) noch die Konsequenzen aus Analysen des Faktischen (ganz oben der Klimawandel, sozio-ökonomische weltweite Migration und Wanderung = Flucht, Zukunftslosigkeit derer, die nicht mehr fliehen können usw.) umgesetzt werden, zur Politik werden.

Nazis kommen, wenn Stimmungs-und Meinungsdemokratie die Agency, die Handlungsoptionen einschränken. Wer den radikalen Rändern ausweichen will muss, muss aufpassen, dass sich die Mitte nicht radikalisiert.

Ich sammle im Augenblick Befunde für die hier aufgezählten Fakten. Ich werde weiterhin öffentlich von Nazis und Faschisten sprechen, und ich werde mich den Pöbeleien entziehen, indem ich nicht auf gleicher Ebene zurückrede – der gute Vorsatz hat den Vorteil, überprüfbar zu sein. Und ganz kleinteilig: rettet erst einmal unser Land (bei mir ja gleich drei Länder). Schubumkehr ist möglich.

P.S. ich gebe ungern Literaturempfehlungen. Aber es lohnt vielleicht doch Mark Lilla, Mazower, Bude, Habermas, Menasse, Bauman, zur Hand zu nehmen, oder ein wenig Konflikttheorien zu studieren, von Simmel bis Kühn. Hannah  Arendts Totalitarismustheorie trägt noch immer besser als das rechts-links-Schema, und was die neuen Nazis angeht: verstehen kann man die leicht, bekämpfen ist schwieriger.

Nachtrag am 18.2.2018

Gestern und vorgestern haben das nordrhein-westfälische Amt für Verfassungsschutz mitgeteilt, man würde die AfD nicht überwachen, weil es dazu ekine rechtllichen Anlässe gabe. Heute entnehme ich den DLF Nachrichten, dass das Amt sehr wohl AfD Funktionäre überwacht, aber keine Mandatare. Nazis im Parlament werden hier m.E. zu Unrecht geschützt, obwohl gerade sie ander Zerstörung der parlamentarischen Demokratie arbeiten. Ich wiederhole meinen Vorwurf, dass ein Teil der Sicherheitsorgane dieses Staates als/wie Vorfeldorganisationen der rechtsradikalen Szene erscheinen. Das war schon bei den NSU Morden der Fall, und setzt sich ungehindert fort.

Nachtrag:

In Windhund-Geschwindigkeit waren bei Amazon in der Spielzeugabteilung die Mini-Figuren „SS-Einheit Deutsche Armee WW2, Lego-kompatibel“ ausverkauft – und einige braune Kinderzimmer mehr entsprechend aufgerüstet. Kommentar des Verkäufers: „Starte deine eigenen Kampfszenen mit diesen großartigen Actionfiguren.“ Oder geh‘ mal raus, einen Stolperstein putzen.
 Tagesspiegel online 21.2.2018

 

Befriedung und Scham

Da capo al fine.

I.

Ich wiederhole mich, eher deprimiert und zornig, und muss dem letzten Blog zum Unhold Dobrindt und seinen Spießgesellen einiges Bittere hinzufügen.

DIE ANGST VOR ABSCHIEBUNGEN ZERSTÖRT VERTRAUEN UND FÜHRT ZUR UNMÖGLICHKEIT VON POLITIK

Zwei Tage lang habe ich mit Afghan*innen, die in Deutschland leben, diskutiert und versucht zu erfahren, wie sich dieses Leben, auch in Bezug auf ihr Herkunftsland, für sie gestaltet. Keineswegs waren das nur traumatisierte Flüchtlinge, die gerade erst angekommen waren; manche leben in vierter Generation in Deutschland. Auch Expert*innen aus dem nahen europäischen Ausland kamen zu Wort.

Viel schärfer als ich im GroKo-Blog zeigte sich, dass schon das Kooperationsangebot unserer Regierung an diese Afghan*innen, die ja nicht nur bei uns leben, sondern mit uns leben, mit Misstrauen aufgenommen wird, weil es für Abschiebungen missbraucht werden könnte. Was angesichts belegter Einzelfälle behördlicher Willkür von der Verhaftung bis zur Ankunft in Kabul belegt ist (soviel Unmenschlichkeit kann man nicht einfach erfinden, wenn man kein  Übeltäter ist.  Und erinnern Sie sich daran, wie der wohlintegrierte bayrische Junge aus seiner Klasse von gewalttätigen rechtsbrecherischen bayrischen Polizisten aus der Klasse gezerrt und misshandelt wurde, um abgeschoben zu werden – DAS ging sogar im Detail durch die Medien).

DEUTSCHLAND IST NICHT ALLEIN MIT DIESER MENSCHENVERACHTENDEN ABSCHIEBEREI – skandinavische Staaten, Österreich, Israel, und viele andere sind auch daran beteiligt.

Die Frage ist NICHT, ob diese Barbarei mit dem Rechtsstaat vereinbar ist, und sie ist nicht, ob die Abgeschobenen mehr oder weniger gute Menschen sind oder vielleicht straffällig oder gar kriminell. Wer auch nur eine nachprüfbare Geschichte vom Verlauf und dem Ergebnis einer Abschiebung in sich aufgenommen hat, weiß: hier ist Opposition angesagt, und Illoyalität gegen alle Staatsorgane, die sich daran beteiligen. (Ironie, Vorsicht: die hurenden und saufenden Berliner Polizisten im Vorfeld von G20 könnten sich ja auch an den Abschiebungen beteiligen? Das wird man nicht zulassen, denkt der mündige Bürger).

Wenn ich nur Afghanistan nehme, dann kann ich mit einiger Autorität sagen: unabhängig von der Legalität der Abschiebung ist sie schon deshalb illegitim, weil sie den Tod von Menschen in Kauf nimmt, ob schuldig oder nicht vor dem deutschen Strafgesetz.

In Israel gibt es gegen die Abschiebungspläne von 40.000 Menschen nach Afrika wenigstens Opposition. Netanjahu und seine Regierungsbande nennt sie „Eindringlinge“, das Wort könnte er in Deutschland gelernt haben, früher einmal.

Beim Familiennachzug könnte man die GroKo ja ein wenig zur Besinnung bringen: wer da Minister*in werden will, wird vorher von seiner/ihrer Familie getrennt und sieht sie vielleicht nie wieder.

Bei der Abschiebung kann man solche eher milden Spiele nicht machen. Da gilt es, Menschenrecht gegen die Oktoberfestgemütlichkeit von so genannten Christen und so genannten Sozialdemokraten ins Treffen zu führen. Noch sind wir das Volk, und von uns geht das Recht aus.

(siehe aber, in vielen Blogs, wie wir zum Volk geworden sind).

II.

So, soweit kennen Sie das ja, und es zeigt unsere Ohnmacht, dass wir es immer und immer wieder sagen müssen.

Auf einer höheren, weil politischen Ebene der Reflexion, geht es um mehr und anderes. Die Abschiebungen sind spieltheoretisch ein „Befriedungsspiel“. Die Regierung befriedet die Nazis von der AfD und ihre politischen Nachbarn von der CSU und in den anderen Parteien durch die Symbolpolitik der Abschiebung. 148 sind in 6 Transporten tatsächlich abgeschoben worden, bis zu 40.000 warten darauf, fürchten sich davor, können abtauchen, oder beginnen, sich zu wehren. Einer hat mir vorgeworfen, ich übertriebe schamlos, bei 148 so einen Aufstand zu machen, da gäbe es viel Schlimmeres. Ja, aber ich übertreibe nicht. Es ist das Wetterleuchten vor dem Tsunami, das hier geprobt wird, wie gesagt, im Spiel. Wenn die Strategie der symbolischen Politik aufgeht, kehren Wähler der AfD zu den andern Parteien zurück. Rational Choice. Wenn die zurückkehren, kann man mit demokratischen Parteien die Gesetze verschärfen, uns weiter abschotten, dann braucht man nicht abzuschieben. Damit werden auch die Kritik und die Vorwürfe zurückgehen. Befriedung geglückt. Es geht hier um Appeasement und Pacification, nicht um Frieden, aber das ist ja klar. Die Abschiebungen geben der Bevölkerung das Gefühl, über den Rechtsstaat, über den Staat insgesamt, gesiegt zu haben. Sie erinnern sich…Die Bevölkerung hält sich fürs Volk, sie hat sich noch gar nicht konstituiert und demoratisch legitimiert, da will sie schon Vorm und der Politik sein.

Die Angst eines Flüchtlings wiegt mehr als die Ängste der Bevölkerung. Das klingt aber pathetisch, Herr Daxner. ist es auch, aber es stimmt, weil seine, des Flüchtlings Angst, konkret ist. Und wer schon seinen Tod gesehen hat (Fluchtursache), der will ihn kein zweites Mal sehen.

Vor ein paar Tagen wurde wohl/hohl-tönend der verpflichtende Besuch von Auschwitz u.a. durch geflüchtete Muslime vorgeschlagen, mit guten und bösen Argumenten. Kann man pädagogisch argumentieren und muss nicht falsch sein. Warum aber eigentlich nur muslimische und antisemitische Ausländer dorthin schicken, wo sich das Sterben nachvollziehen lässt?

Befriedung ist immer Gewalt.

III.

Scham aber auch. Ich schäme mich in diesem Land, das besser ist als viele und doch den Weg mit andern mitgeht (Freunde, Verbündete, Handelspartner, Nachbarn, und die andern im globalen Kontext. Ich schäme mich selten für etwas, das ich nicht getan habe oder das ich nicht mitbewirkt habe. Aber ich schäme mich, weil ich weiß, wo und in welcher Hinsicht ich Teil des Ganzen bin, das eben auch Abschiebungen und Menschenverachtung reproduziert. Ich sage das, weil es eine demutfreie, trostlose Scham ist. Weil ich weiß, dass es hier besser ist als anderswo, und dennoch geschieht, was nicht mehr geschehen sollte.

Es ist nicht einfach, immer wieder von vorn anzufangen. Wer einen Menschen vor Abschiebung nach Afghanistan rettet, hat wenigstens das Anrecht darauf erwirkt, weiterhin die Welt zu retten. Wer es nicht glaubt, muss die Geschichten hören oder Augenzeuge werden.