Religion und Gewalt

 

 

Mehrfach schon habe ich darauf hingewiesen, dass nicht einzelne Konfessionen – christliche, jüdische, muslimische – ein Brandherd gesellschaftlicher Gewaltdrohung und Gewaltanwendung sind, sondern Religion als ein Ordnungsfaktor im Konkurrenzkampf mit vielen anderen. Das komplizierte Gebiet von Glaubens- und Religionsfreiheit ist vermint. Kritik an Religion im öffentlichen Raum wird als Angriff auf persönlichen Glauben interpretiert und verfällt politisch korrekt einem Verdammungsurteil, dem man schwer sich entziehen kann. Umgekehrt versuchen die religiösen Funktionäre – auch die atheistischen übrigens – dem persönlichen Glauben dauernd Beschränkungen aufzuerlegen. Und wenns um Religion geht, dann ist die Schamgrenze deutlich niedriger als anderswo. Das ist bekannt. Aber wie geht man damit um?

Ich weiss nicht, wie MAN damit umgeht. Ich stelle mich ab und an diesem Problem, weil es mich fast täglich in der Konfliktforschung und im deutschen Alltag herausfordert. Wie also gehe ICH damit um? Bei einer „Dialog-„ Veranstaltung des jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks ELES habe ich einen Vortrag gehalten: es waren zu gleichen Teilen Christ*innen, Jüd*innen und Muslim*innen unterschiedlicher Glaubensrichtungen dabei und wir hatten einen ganzen Tag zur ruhigen Diskussion.

Mein Vortragstext ist keine wissenschaftliche Abhandlung und schon gar keine Glaubensbekundung, sondern ein Anstoß, darüber nachzudenken, wie komplex das Verhältnis von Religion zu Gewalt sein kann. Hier kann ich nur meine Aufzeichnungen zur Rhetorik des Themas wiedergeben, nicht die Diskussion, das wird ELES sicher machen. Kommentare und Kritik sind mir hier besonders willkommen und ich will sie an die Teilnehmer*innen des Dialogs gerne weiterleiten.

RELIGION UND GEWALT 28.10.2016

 

Wir sollen in einen Dialog treten. Nun kann man das ganz friedlich, wenn man bestimmte Themen sorgfältig umgeht. Während des Kriegs zwischen Serbien und Kroatien konnte man Fußballanhänger beider Gesellschaften für 90 Minuten friedlich in einer Kneipe sehen, und doch sind einige am nächsten Morgen aufgebrochen um Menschen von der anderen Seite umzubringen.

Wenn es um Religion geht, ist die Sache noch heikler. Neben der zivilisierten Rücksichtnahme auf einander, wenn man schon weiß, dass man nicht übereinstimmt, dass man nicht zum selben Gott betet, dass man nicht in gleicher Weise seinen Glauben in eine Kongregation einbringt, dann schwingen in der Rede und der Wechselrede jede Menge Subtexte mit, die dann besser doch nicht geäußert werden. Es gibt auch Menschen, die sich selbst als Person beleidigt fühlen, wenn sie meinen, dass ihre Religion beleidigt wird. Sie reagieren bisweilen darauf mit Gewalt bis zum Mord. Es ist das eine ziemlich alte Sache, die Religion in das Konzept von Ehre einzubeziehen. Beleidigung muss gesühnt werden, und selbst-zugeschriebene Beleidigung der Religion erst recht. Dann lieber unverbindlich. „Sind wir doch alle Kinder Gottes“ sagt sich leichter als „Kinder des einen Gottes“, wenn jeder „seinen Gott“ meint. (Ich finde dieses Sich-winden in ganz vielen Lehrplänen öffentlicher Schulen oder Religionsunterweisungen, z.B. Rahmenrichtlinien Bayern, 5. Klasse). Und wenn dieser eine Gott an unzähligen Stellen der heiligen Bücher, Tora, Quran, Neues Testament, denen, die von ihm abfallen, die grässlichsten Qualen, Strafen, Torturen androht, und den Braven Lohn und Erlösung verheißt, dann lächeln gerade die aufgeklärten Beobachter, obwohl sie wissen, wie dieses einfache Schema bis in die praktischen Gewalttaten und ihre Rechtfertigungen hineinreicht. Es macht keinen Sinn, wenn man die religiös sich rechtfertigenden Terroristen und Gewalttäter als Verirrungen oder Abweichungen einer „an sich“ gewalt-ablehnenden, friedlichen Religion abspaltet. Eija –Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so! so heißt es bei Wilhelm Busch und leider auch in diesem Kontext. Erst die Dekonstruktion der Doxa einer Religion kann ihre Stellungnahme zur Gewalt sichtbar machen.

 

 

 

Zu meinem Abstract: ausgehend von der Unterscheidung von Glauben und Religion wird diskutiert, wieweit gewaltsame Praktiken in allen monotheistischen und den meisten anderen Religionen zur Bindung von Menschen an Glaubensgemeinschaften und zur Abgrenzung bzw. Machterweiterung nach außen angewandt werden. Die Argumente dazu, vor allem die Frage der Legitimität  von Gewalt, sollte sich von theologischen und philosophischen Prämissen lösen: das ist wichtig um die Berufung auf Gott ganz im Sinne der sozialen Ordnungsfunktion zu verstehen. Auf Gott beruft sich, wer sich gegen Kritik immunisieren will.Es werden auch konkurrierende Rechtssysteme erklärt, in denen Gewaltanwendung unterschiedlichen Stellenwert hat. Gewalt aufgrund von Verletzungen inner-religiöser Regeln (Konversion, „Austritt“, Blasphemie, Vernachlässigung von Ritualen) oder als externe Machtpolitik (Mission, Verbindung mit Staatlichkeit, Autonomie gegenüber dem Staat) werden unterschiedlich gerechtfertigt, aber immer als Kommentar zu Referenz-Offenbarungen oder kanonischen Texten von den inner-religiösen Machthabern ausgelegt. „Kommunitaristische“ Modelle, wie in den USA, verlangen vom Staat und der Öffentlichkeit volle Gleichberechtigung und Toleranz, aber auf keinen Fall Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“. Die Diskussion soll sich vor allem den Praktiken und ihrer Rechtfertigung zuwenden.

Vorweg. Heute wird niemand von mir erfahren, woran, an wen oder was ich glaube, ich behalte diese meine Wahrheit als unverfügbar bei mir. Umso freier kann ich als Wissenschaftler zu meinem Thema sprechen. Das ist mir wichtig vorweg zu sagen, dass ich nicht als erkennbar gläubiger oder agnostischer Mensch spreche. Aber auch nicht in der Absicht, Wissenschaft gegen Religion auszuspielen, wie das zB. von Dawkins oder anderen Naturwissenschaftlern geschieht – eine sinnvolle Debatte, die aber von unserem Thema wegführt. Aber ich will so viel sagen: ich habe derart vielfältig religiös verantwortete Gewalt erlebt, von den drei monotheistischen Religionen und anderswo, dass ich an die Sache nur schwer unbeeinflusst herangehen kann, umso spannender die wissenschaftliche Distanz.

Kaum ein Themenfeld hat derart viele disziplinäre Zugänge mit widersprüchlichen Ausgangsfragen wie die Religion. Wissenschaftliche Herangehensweise aus welchem Fach auch immer erfordert eine strenge Einschränkung: sie kann und muss sich oft sowohl der Philosophie als auch der Theologie bedienen, darf aber nicht innerhalb philosophischer oder theologischer Systeme argumentieren. Es kann sehr viel Sinn machen, mit einem Gott der Philosophen zu argumentieren. Die „Wissenschaft des Judentums“ kann das hgleiche Thema religionswissenschaftlich und religiös behandeln, dann gibt es eben zwei Wahrheiten. Des Weiteren ist eine Klärung vorab sinnvoll, nämlich die Unterscheidung von Glaube(n) und Religion. Ich definiere den Glauben als unverfügbares Element der Würde der menschlichen Person, genauer: einer Person. Was ein Mensch glaubt,  und woran dieser Mensch glaubt, sind zwei verschiedene Dinge. Beides ist niemals bis zum letzten zugänglich und kann nicht auf seine Wahrheit hin geprüft werden. (Das hat schon die Inquisition erfahren müssen, und auch die Folterer aller Regime haben es gelernt). Ob ein Mensch wirklich an einen bestimmten Gott oder an Götter oder gerade an keinen Gott glaubt, werden die anderen nie wissen. Glaube als Haltung, Tugend, Einstellung oder Vertrauen….das sind jedenfalls Variationen, die hier nicht verhandelt werden. Glaube ohne Religion ist großes und sich ausbreitendes Muster personalen Lebensstils; umgekehrt erfordert Religion keinen Beweis eines kohärenten Glaubensmusters seiner Mitglieder – jedenfalls nicht in Friedenszeiten….).

Religion hingegen ist ein soziales Ordnungssystem in Konkurrenz zu anderen, z.B. der Familie oder dem Staat. Damit erklärt Religion auch die Welt, versucht es oft über den Rand ihrer Mitglieder hinaus. Religion ist glaubensbasiert, d.h. sie fasst eine Menge individueller Glaubensäußerungen (Intuition, Tradition, oktroyiert….) zu einem bestimmten Geglaubten zusammen, beispielsweise über gemeinsame Bekundungen oder Loyalitätserklärungen oder gemeinsamen Bekenntnissen. Religion haben ein gewisses Maß an Inklusivität und Exklusion, d.h. Mitgliederselektion, Regeln für diese Mitgliedschaft sind erheblich. Das kann auch zu mehr oder weniger gewaltsamen Aufnahmeritualen führen, wobei aber Aufnahme nie so schmerzlich ist wie Austritt oder Distanzierung. Gegenseitige Erkennbarkeit ihrer Mitglieder, Sanktionen für die Nichtbefolgung von Regeln, Ritualsicherheit, oft, aber nicht immer, auch Missionsgebote gehören dazu. Glaubensbasiert bedeutet in der Regel, dass wenigstens ein Teil der Glaubensinhalte transzendenten Ursprungs sind. Offenbarungen müssen auch geglaubt werden und können nicht bewiesen werden, hier kommen die Kategorien Anerkennung und Durchsetzung der Glaubensinhalte durch die Religionsführer ins Spiel. Das Zusammenspiel von interner Autorität und externer Anerkennung ist ebenfalls ein oft gewaltsam konstituiertes Muster in der Auseinandersetzung um Macht. Ein sehr sensibles Feld ist der irdische Gewaltanspruch, um die (All)Macht (eines) Gottes zu demonstrieren. Die Tatsache, dass ein unmittelbares, kausales Eingreifen eines Gottes in menschliche Wahrnehmungsbereich natürlich mit dem Glaubensinhalt wenig zu tun hat, hindert nicht daran „mit Gottes Hilfe“ die Feinde zu schlagen oder die Besiegten zu bestrafen. (Vgl. Dazu Aron Bodenheimer: Rabins Tod, v.a. wenn es um Fundamentalismus geht)

Dass es dabei Überschneidungen mit anderen Ordnungssystemen, etwa der Gender-Ordnung, den Heiratsregeln oder den Anerkennungssystemen gibt, ist wichtig zu beachten, weil es dann  schwierig ist, den Ursprung eines Konflikts und seine Folgen auseinander zu halten. Aber die Grenzfläche aller Religionen zu Körper, Sex, Geschlechterhierarchein ist auffällig und nicht zufällig,  und drückt sich oft in den durchaus nicht-religiösen formalen Institutionen, wie Gesetzen und der Judikatur aus. Meist zum Nachteil von Frauen. Nirgendwo spiegelt Gewalt mehr die gesellschaftlichen Machtverhältnisse so wie bei Sex und Kopulationsregeln, und nirgendwo sonst ist die Inanspruchnahme Gottes so unmittelbar folgenreich.

Die verschiedenen Rituale sollen die Loyalität und Bindung an den verbindlichen Glaubenskern befestigen, entweder mit Belohnungen oder durch Androhung von Strafen (Hölle, Verdammnis, Sündennachlass, Freuden im Paradies), wobei die Perspektiven nach dem Sterben wirksamer sind, weil sie den Menschen, solange sie leben, ständig zur Ordnung rufen und den Jenseitsglauben befestigen. Das Aufspüren von individuellen oder offiziellen Akten des Unterlaufens dieser Regeln hält die Religionsoberen ständig in Bewegung, auch mit ihren Versuchen, den Glauben der einzelnen Person zu „knacken“, d.h. einzudringen in den geschützten Raum der Persönlichkeit. Das kann auch mehr oder weniger gewaltsam geschehen (Beichtrituale bei Kindern. Exorzismen, etc.).

Hier haben wir das erste Mal einen konkreten Bezug zur Gewalt, also zu unserem Thema.

Bevor es zur innerreligiösen Ordnungs-, Macht- und Gewaltstrukturen kommt, muss es ja zu Klärungen des Verhältnisses einer bestimmten Religion zu ihrer sozialen, politischen und kulturellen Umgebung kommen. Systematisch gibt es hier einige Modelle, die der Diskussion Wert sind:

  • Religion als Gegengewalt zu einer gewaltsam erfahrenen gesellschaftlichen Umgebung. Oft war und ist dies ein Motiv, Aufstände oder Widerstand gegen Kolonial- und Gewaltherrschaft zu legitimieren, wenn normale Emanzipationswünsche dabei nicht ausreichen, weil die Masse der Gläubigen an der Legitimität der herrschenden Zustände nicht zweifelt.
  • Religion als gewaltsame Verdrängung anderer Religionsgemeinschaften, die Unterlegenen werden zwangsbekehrt.
  • Entweder im Gefolge oder als Rückendeckung für einen politischen oder kulturellen Machtwechsel; Unter dem Bon roi Henri IV: „Paris vaut une messe“.
  • Religion als Repräsentanz bestimmter starker Wertverschiebungen oder Wechsel in den Lebensstilen; Gewalt gegen Schwule oder Anerkennung von Praktiken, die zu innerreligiösen gewaltsamen Konflikten führen können. Religion ist dann ein typisches „quid pro quo“, also eine Ersatzlegitimation für etwas anderes, oft unbewusstes oder verdrängtes – das nicht einfach zutage tritt.
  • Religion als politische Macht. Der polnische Klerikofaschismus von PiS oder die parteipolitische Erpressung der Regierung in Israel durch das Rabbinat, wenn es um Arbeit am Schabbat geht.
  • Religion als private (Selbst)rechtfertigung in Abwehr oder Anerkennung von Elementen des gesellschaftlichen Wandels. Hier gibt es ein breites Feld, von Sekten, über Zivilreligion bis hin zu völlig undurchschaubaren individuellen Haltungen, die als Ausübung von Glaubensfreiheit ausgegeben werden.

Ausnahmslos: In all diesen Varianten sind Gewaltpotenziale notiert. Es geht also konkret um die Rechtfertigung bestimmter Gewalt bzw. ihren Ausschluss von legitimer Anwendung.

Das steht keinesfalls im Widerspruch zur rhetorischen Behauptung, eine bestimmte Religion sei friedlich und prinzipiell gegen Gewalt.

  • Bevor ich hier weiter einsteige, noch eine sehr aktuelle Beobachtung. Aus einem islam-kritischen Impuls lernen vor allem Politiker und Christen – das ist nicht dasselbe– mehr über den Islam als über das Christentum und ihre eigene Gesellschaft. (C.Emcke: die die keinen Schleier tragen, beschäftigen sich mehr damit, als die die, die ihn tragen, aus welchen Gründen auch immer). Die Tagung in Brüssel zum Terrorismus, von der ich hier auch berichten werde, ist ein interessantes Beispiel für die Verwechslung bestimmter religiöser Inhalte und der Religion als soziales System. Wenn wir heute besonders viel über den Islam sprechen, können wir in fast allen – nicht wirklich allen – Fällen den Namen der Religion vertauschen. Was zB. Märtyrer, also Opfer von Gewalt, angeht, sind sich Christen und Muslime oft sehr ähnlich. Muslime wehren sich oft, indem sie die Gewalttäter, die sich auf Sharia oder den Propheten oder auf Allah berufen, als nicht-islamisch, als randständig marginalisieren und sich selbst als friedlicher Mainstream verorten. Das kann man machen, es hilft nur wenig. Es provoziert u.a. die Einstellung gegen den Islam, nicht einfach ihm gegenüber, und dann wird plötzlich ein Kulturkampf daraus (Huntington: Clash of Civilizations!) oder der Ethnopluralismus dominiert (Serben, Kroaten, Muslime in der Verfassung des alten Jugoslawien und Bosniens, als wären Muslime eine Ethnie; genauso ist richtig, zwischen jüdischen Menschen und Israeli in Israel zu unterscheiden, und das sogenannte Abendland ist multiethnisch und keineswegs christlich, übrigens seit je her). Viel spannender wäre es, wenn Muslime, Juden, Christen oder Hindus die gewaltbereiten und gewalttätigen Gruppen in ihren Reihen, zumal wenn sie sich auf Gott oder die Religion berufen, selbst zu analysieren.
  • Eine interessante Spielart sind Übertragungen, wenn man auf starke Wertvorstellungen sich berufen kann: Ist Antisemitismus heute überwunden? (nein, sagt Jonathan Saks, Oberrabbiner in England); ist der Anti-Islamismus eine neue Spielart des Antisemitismus (sagen viele Muslime); dabei geht es auch um Umkehrung von Gewaltverhältnissen: nicht Jihadis gebrauchen Gewalt, sondern Gewalt gegen Muslime produziert und provoziert gewalttätigen Jihad. Natürlich gibt es Antisemitismus, Antijudaismus, Anti-Islamismus, Anti-Christentum…Aber keines dieser Antis kann sich auf einen Gott berufen, sondern nur auf die Gewaltordnungen, in denen sie sich verorten.

Ich mache hier einen Schnitt und bringe einige Daten: 2014 wurden im Bereich von EUROPOL 774 Menschen wegen Terrorismus verhaftet. Die größte Zahl – 395 – wurde religiös motivierten Gewalttaten zugeordnet. (Kepel/Rougier 2016, 8). 15-20% der europäischen Kämpfer bei Al Nusra und Daesh sind Konvertiten (ebda.15; 37);

Die Zahl der Toten aus Kämpfen zwischen Schiiten und Sunniten z.B. vor religiösen Festen (Ashura u.a.) geht in die Hunderte (z.B. Kabul im Oktober 2016, wo bislang religiöse Gewalt nicht im Vordergrund stand, ebenso der Anschlag auf die schiitische Moschee im November 2016).

Aus einer unveröffentlichten Dissertation „A number of studies (Jürgensmeyer 2003, Burstein 2016) found statistical evidence that religious terrorist groups are more likely to launch deadlier terrorist attacks“ (Man.Is. 2016). In der gleichen Arbeit wird versucht zu erklären, warum es heute darum geht möglichst viele zu töten und von möglichst vielen wahrgenommen zu werden, und nicht das eine oder das andere zu suchen, wie das früher der Fall war. .

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Die Rechtfertigung beruft sich gerne auf Gottes Gebot, Aber auch Konzilien, gelehrte Versammlungen von Religionshütern, Lehrmeinungen etc. kommen in Frage, bis hin zu individuellen Auslegungen durch einen einzigen Vertreter seiner Konfession vor Ort. Alles hängt von der Macht zum Kommentar ab. In Kabul wird eine Frau vor einer Moschee ermordet, weil der Mullah etwas über sie behauptet hatte – und jetzt sollte niemand fragen, ob das Behauptete stimmte oder nicht. Je gefährdeter die Autorität der Religionsvertreter ist, desto gewaltbereiter sind sie in der Regel und desto drakonischer ihre Androhungspolitik, verbunden mit statuierten Exempla. Kommentare können natürlich auch drakonische Gewaltanwendung (Strafen bei Vergehen gegen den Code) abmildern. Dier aufgeklärte Kunst des Kommentars wäre es immer gewesen und ist es, unverständliche oder falsche Normen so zu interpretieren, dass sie in Freiheit lebbar sind (hier stößt die Theologie an ihre Grenzen und man braucht moralische, juristische und soziale Argumente – ich sagte „lebbar“ und „glaubbar“).

Die unerhörten Gewaltakte, die sich im Deus lo vult oder im Inshallah verbergen, die in der Inquisition geschehen sind oder gar in der Shoah (wenn sie als von Gott verhängte Prüfung gerechtfertigt wird), die Gewalt, die im Kampf religiöser Parteien gegen eine säkulare Staatsmacht sich ausdrückt, die religiöse Legitimation von Terrorismus im Namen Gottes. All das durchschauen wir unschwer als unsinnig, moralisch falsch und keineswegs durch einen Gott gedeckt, der so ist, wie ihn die meisten anbeten oder glauben. Aber eben nur die meisten.

Es kommt immer auch auf das Institutionengefüge an, in dem Religion Gewalt legitimiert. Institutionen vermitteln die Regeln, nach denen die gesellschaftliche Machtarchitektur funktioniert. Wann darf Gewalt angewendet werden, und worauf bezieht sich die Erlaubnis. Begeben wir uns ins Rechtssystem. Dazu muss gesagt werden, dass Recht und Moral und  Politik und Religion nicht einfach aufeinander abbildbar sind. Über diese Ambiguität müssen wir sprechen, weil ja manche behaupten, es dürfe keinen Widerspruch zwischen verschiedenen Rechtsordnungen z.B. der Sharia und einer Verfassung geben[1]. Es muss einen Widerspruch geben, das ist das eine Problem. Das andere Problem ist, dass man aus einem religiösen Recht nicht ableiten kann, welchen Regeln des staatlichen Rechts man als Individuum, als Angehöriger einer Religionsgemeinschaft nicht gehorchen müsse oder gar dürfe. Nach diesen Vorbemerkungen einmal ein Versuch, drei Rechtsordnungen (nach Jan Koehler) einander gegenüber zu stellen:

Göttliches Recht, d.h. als geoffenbartes in einer bestimmten Auslegung unveräußerliches und unverfügbares Regelsystem;

Gewohnheitsrecht, d.h. lebensweltliche Traditionen, die im Alltag nicht hinterfragt werden;

Staatliches Recht, d.h. eine Ordnungsfunktion, die zugleich die Staatsbürger*innen organisiert und schützt und gute Regierungsführung ermöglicht.

Der Rechtspluralismus kann verschiedene soziale Geltungsbereiche abdecken. Über die Anwendungsbereiche und die Geltungsgrenzen sowie über Gleichzeitigkeit bzw. Ausschluss von Geltung entscheiden Macht und von den Menschen anerkannte Prozeduren. Wenn wir die drei Ordnungen als Grundmodelle angeben, so sind ihre jeweilige Legitimation, ihr Geltungsbereich und ihre Durchsetzungsmacht sozusagen vor allen Inhalten festzustellen. (Ausführlich dazu Schuppert, Kötter).

Wo es keinen Pluralismus gibt, ist die Freiheit zur Entscheidung zu einer Religion natürlich eingeschränkt. Darf sich ein Mensch damit auch gegen den Gott dieser Religion entscheiden? Wann gilt welches Recht, wer unterwirft sich ihm, wie sind die Sanktionen? – alles ganz einfache Fragen, und sie betreffen jeden erwachsenen Menschen in jeder Gesellschaft, in der nicht nur staatliches Recht gilt. (Ich habe hier „erwachsen“ hervorgehoben, denn ein weiteres Problem ist die Bestrafung von Kindern oder im Denken Behinderten bei Regelübertretungen, wenn sie diese Regeln gar nicht verstehen können oder nie die Wahl des Widerstands ihrer Durchsetzung hatten)[2].

Das führt notwendig zu Fragen nach Sünden, die durch Gewaltausübung begangen werden, und nach der Strafe für Sünden, auch gewaltarme und gewaltlose, die gleichwohl heftigst gewaltsam sind. Auch die präventive Gewaltanwendung zur Vermeidung von Sünde wäre hier zu diskutieren. Bindet die Kinder nur im Bett fest, damit sie nicht masturbieren….

Wir sind hier nicht im Bereich der geglaubten Offenbarung mit einem absoluten Gewaltkatalog, sondern im Bereich der Auslegung und der praktischen Macht über den Kommentar. Wer bestimmt, unter welchen Umständen gegen wen welche Gewalt angewendet werden soll, darf oder zu unterbleiben mag? Und wer setzt diese(n) Entscheider in ihrer Autorität und Legitimation ein? Nehmen wir nur die Beispiele von Begnadigungsrecht oder grausamster gewaltsamer Strafpflicht, die bei verschiedenen Rechtsschulen aller Religionen aufeinander prallen; und im Kontrast zum staatlichen Gewaltmonopol erst recht. Aber auch im Kontrast zur staatlichen Rechtsordnung und Justiz sind hier Differenzen: man sehe nur die Begründungen zur Verteidigung so genannter Ehrenmorde, v.a. wenn dieser aus einer Mischung von Sharia und traditionellem Ehrenkodex gerechtfertigt werden. Die Instrumentalisierung des sogenannten göttlichen, d.h. von Gott gesetzten Rechts, darf durchaus als Regelverletzung kritisiert werden, greift aber tief in die Autorität der Religionsführung ein. Ich lege Wert darauf, an dieser Stelle geradezu ein Verbot der Berufung auf Gott im 2.Gebot vom Sinai zu diskutieren.

Wir sind wieder bei der Anrufung. Gott will es, Gott will es so, Gott hat es geboten. Der Kreis schließt sich: wir sind wieder beim unverfügbaren Entscheid angelegt: muss ich tun, was Gott will, auch wenn ich es für Unrecht halte, oder gibt es eine Rechtfertigung für Regelverletzungen unter anderen, konkurrierenden Normen? Darf eine Kirche oder ein ihr ergebener Staat eine Frau zwingen, die von einer Vergewaltigung schwanger ist, ihr Kind auszutragen?

An dieser Stelle dürfen wir einer Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen. Ich nehme an, viele von Ihnen kennen Michel Houellebecq bzw. sein letztes Buch „Unterwerfung“. Hierschreibt jemand, der definitiv weder links noch im Sinne der Aufklärung fortschrittlich ist. Aber seine Verbindung von Kritik an westlicher Schwäche und religiös fundierter Feindeserklärung durch den Islam geht haarscharf an viele diskursive Politiken unserer Islamfeinde, aber auch der von Verlustängsten geplagten Wohlstandsverwahrlosten heran. Houellebecq spricht aus, was offenbar viele denken, und die Alternative zur gewaltoffenen westlichen Gesellschaft in Form eines gemäßigten Islam kann man jeden Tag in den Feuilletons auffinden. Wir werden ihm nicht zustimmen, aber wir müssen uns doch bemühen, dem, was man als rechts oder reaktionär ablehnt, etwas Lebbares, Emanzipiertes oder Soziales entgegenzusetzen, das sich politisch auch ohne Gewalt verwirklichen lässt. Die Gefahr, den Identitären auf den Leim zu gehen ist groß. (Michel Houellebeq, gewiss kein Linker, hält den Linken und Aufklärern entgegen: Wenn der Islam eine religiöse Macht ist – was sind dann wir? (Dankesrede zum Schirrmacherpreis, 27.9.2016). Und in seiner „Soumission“ zeigt er deutlich auf, was sich in Frankreich und bei uns gerade abspielt. Die Gegenstrategie kann also nicht Unterwerfung durch Wegtauchen sein, nur ist das bei ihm eine identitäre Lösung und wäre bei uns Widerstand durch aufgeklärtes Verhandeln im öffentlichen Raum dessen, wie wir leben wollen.

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Ich möchte mich auf einige Textstellen heiliger Bücher konzentrieren, die die Schwäche der wörtlichen Auswahl und die Zweideutigkeit und Macht der Kommentare zeigen:

  • Kain und Abel. Frühes Problem der Gewalt, aber auch der Regeln für Erstgeborene, Vorrang von Modernisierung und, wenn Sie wollen, frühe politische Ökonomie (Ackerbau/Landbesitz vs. Viehzucht). Ist der Abschluss der Abhandlung: „Wer Kain schlägt, wird sieben Mal, siebzig Mal gerächt…“[3] eine Absage an Gewalt, eine Rechtfertigung gar des Brudermords, geht es um die Fürsorgepflicht? Ich kann da eine Menge von Kommentaren bringen, aber jede Wissenschaft wird ihre eigene Logik produzieren müssen.
  • Zwanzig Jahre später war der Tenor ein anderer: Frieden schaffen ohne Waffen. Oder den Spruch eines Teils der Studentenbewegung ernst nehmen: Gewalt gegen Sachen ja, aber nicht gegen Personen. Heute sagt Carlin Emcke genau dagegen:

Gewalt ist niemals nur Instrument. Weder die Recht setzende noch die Recht brechende Gewalt…Sie formt und verformt, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter….(Das ist für die Djihadis besonders wichtig)….Die Kritik an der Gewalt ist bis heute tabuisiert, weil sie noch immer wirkt, diese binäre Struktur, in der zum Gegner gehört, wer sich auch nur partiell abweichend äußert (C.Ehmcke., aaO. 81-82). Wenn dann aus dem Gegner der Feind wird, ist die Gewalt schon da.

Aber diskutieren wir das alles nicht einfach unter dem Aspekt einer universellen oder lokalen Ethik allein, sondern unter dem religiösen Aspekt. Was kann, darf die Religion dazu sagen? Nehmen wir die drei Rechtssysteme, die ich oben skizziert habe, als Leitlinie. Und nehmen wir zur Kenntnis, dass selbst in Deutschland die beiden großen christlichen Religionen verfassungsmäßige Ausnahmepositionen in einigen Rechtsbereichen haben (Arbeitsrecht), es aber auch nicht religiöse Ausnahme-Justiz gibt (Sportgerichtsbarkeit u.a.).

Das Beispiel Exodus ist geradezu ein Paradigma dieser Auseinandersetzung. Gewalt ist an allen Ecken und Enden im Spiel. Michael Walzer konstruiert das Buch Exodus zu einem der entscheidenden Mythen (v.a. des Westens) für Befreiung (in meinen Augen gleichrangig mit Odysseus u.a. Mythen). Exodus ist ein Mythos der Befreiung, aber die 40 Jahre in der Wüste werden auch zur Rechtfertigung langer Perioden des Staatsterrors zur Vorbereitung der neuen Gesellschaft genommen ((Walzer, Exodus, 15). Befreiung ohne Gewalt ist schön, aber selten. Religionen verlangen oft Gewalt gegen ihre eigenen Mitglieder und nicht nur gegen ihre Gegner oder die Ungläubigen.

Wir können die Diskussion auch nicht politikfrei halten, das göttliche Recht vom staatlichen Recht, die universale Ethik vom Glaubensbekenntnis fern und freihalten.

Ein anderes Beispiel: „Tötet die Ungläubigen“ führt auch wiederum zurück zur unerlaubten Bemächtigung der menschlichen Würde durch den Bekenntniszwang der Religion. Wer darf gewaltsam zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterscheiden? Wenn nicht aus einer missbräuchlichen Vermischung der Gewaltlegitimationen, die ich aufgezählt habe?

Und ein letztes Beispiel: das Züchtigungsrecht gegenüber wehrlosen Personen, z.B (Ehe)Frauen und Kindern. (https://kurier.at/leben/trybeatingmelightly-pakistan-gesetz-soll-leichtes-schlagen-von-frauen-erlauben/202.123.903)-. Plötzlich will der Staat mit dem Segen der Religion handeln.

Ich frage rhetorisch: Muss sich Religion nicht gegen jede verordnete Gewalt wenden? Dass sie sich gegen Gewalt außerhalb ihres Kontexts wendet, ist allgemein bekannt, wird aber entweder gar nicht ernst genommen oder als Heuchelei bezeichnet. Nehmen wir diese Ambiguität ernst.

Das bringt uns an eine andere Grenze; die zwischen religiös vermittelter Gewalt und jeder anderen Form gesellschaftlicher Gewaltpraxis, die nun primär gar nichts mit Religion zu tun hat. Natürlich kann jeder alles auf Religion zurückführen; oder eben Religion als einen Schritt der Evolution und Anthropogenese begreifen. In beiden Fällen wird Religion bzw. ihr herrschendes Dogma zur Rechtfertigung von Handlungen, deren normaler Kontext sie verbietet. Was also die Gewaltanwendung zum Ausnahmetatbestand machte, der entweder präzise vorher festgelegt werden müsste (da gibt es einiges, vom Antikolonialismus bis zur Notwehr…) oder aber nur ad hoc entschieden werden kann und im Nachhinein bewertet und gerichtet werden dürfte.

*

Wie diskutieren wir diese Überlegungen, ohne in eine Falle zu gehen: es geht nicht um eine Ablehnung von Gewalt, wenn sie nicht von der Religion verordnet ist, bzw. man das glaubt. Es geht auch nicht darum, ein Bekenntnis zu seiner Religion oder gar zu einem Gott dadurch abzulegen, dass man Gewalt ausübt. Gewalt bedeutet einen Eingriff in das Zusammenleben von Menschen, mit dem Einzelne oder Gruppen gezwungen werden, etwas zu erdulden oder Schäden zu erleiden, oder Handlungen zu verrichten, die sie nicht tun wollen. Wenn Religion die Anwendung von Gewalt für ihre Mitglieder rechtfertigt oder anordnet, müssen wir darauf reagieren, ebenso wenn Religion unter Berufung auf ihre Rechte gegenüber der Öffentlichkeit oder dem Rechtssystem Gewalt rechtfertigt, die ansonsten verboten und/oder als ethisch und moralisch unzulässig erachtet wird. Rückzug auf traditionelle Positionen – wie dem Widerspruchsverbot gegen Eltern, Kleriker und machtvolle Personen, sowie vermeintliche Gehorsamspflichten müssen offen gelegt und kritisierbar gemacht werden.

Aus der Konfliktforschung können wir verschiedene Zugangsformen zur Bearbeitung gewaltsamer Konflikte im größeren Rahmen lernen, die sich aber oft in individuellen Streitigkeiten und Gewaltanwendung äußern. Wichtig ist zu wissen, wer sich in einem Konflikt an welche Regeln hält, oder ob für eine oder alle Seiten keine wechselseitig anerkannten Regeln gelten. (Vgl. Elwerts Begriff der eingebetteten Gewalt, worin es also einen Fundus an beidseitig akzeptierten Regeln gibt). Oft wird Religion als Vorwand genommen, gewaltoffene Räume zu verschleiern und zu rechtfertigen. Die Begründung ist, dass sich Religionen weder an nicht-geoffenbarte Normen halten müssen, oder können, wenn die ihrem Machtverständnis widersprechen.

Ich stehe auf dem Standpunkt, dass keine Religion irgendeine Gewalt legitimieren oder anstiften darf, die den universalen Menschenrechten widerspricht. Das ist mein einziger Überzeugungsbeitrag zu dieser Diskussion.

Literatur und Hinweise:

  • Jüdische Allgemeine 19.5.2016: Frage an den Glauben: Fundamentalismus oder Toleranz: Warum der Kampf gegen religiöse Fanatiker so wichtig ist (Michael Brenner).
  • Warum ist es so schwer zu sagen, Fundamentalisten handelten NICHT IN GOTTES NAMEN?
  • Wir sollten Bodenheimers harte Wort ernst nehmen: Er ist der Terrorist. Er heisst nicht jüdischer Gott. Er heisst Der Herr…in jedem Glaubensbekenntnis, sofern dieses den Einen, den Einzigen verehrt. In der Einzigkeit liegt, implizit und unvermeidbar, die Unduldsamkeit…Neben dem Einzigen besteht nichts und niemand.“ (ARB: Rabins Tod, 1996, 17). Das entlastet Jigal Amir, den Mörder Rabins nicht, es beginnt hier die Dekonstruktion der Berufung auf Gott.
  • Kampfbefehle Allahs im Koran – Warum Muslime gegen Ungläubige kämpfen müssen (PDF) Von Salam Falaki /Wissenschaftlicher Islamexperte .
  • Sure 2, Vers 191: „Und erschlagt sie (die Ungläubigen), wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben; denn Verführung zum Unglauben ist schlimmer als Totschlag„. (Internetquelle ohne Angabe des Übersetzers, aber in einem ironischen Kontext: Stupidedia, aber sehr nahe an der Übersetzung von Henning, Hamburg 2010)) In einer anderen Version steht fast das Gegenteil: „Und kämpfet für Allahs Sache gegen jene, die euch bekämpfen, doch überschreitet das Maß nicht, denn Allah liebt nicht die Maßlosen“ (Ahmadiyya 2003): Weiterlesen bis 194;
  • Sure 4, Vers 89: „Sie wünschen, dass ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, und dass ihr ihnen gleich seid. Nehmet aber keinen von ihnen zum Freund, ehe sie nicht auswanderten in Allahs Weg. Und so sie den Rücken kehren, so ergreifet sie und schlagt sie tot, wo immer ihr sie findet; und nehmet keinen von ihnen zum Freund oder Helfer“.
  • Sure 8, Vers 12: „Wahrlich in die Herzen der Ungläubigen werfe ich Schrecken. So haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab“. Davor steht: „Ich bin mit euch, festigt drum die Gläubigen“. Das geht noch weiter, seitenweise werden Abfall, Konversion und Rückkehr zum Glauben gepredigt.
  • http://www.die-besten-aller-zeiten.de/die-besten-buecher/religion/koran-uebersetzungen/
  • Allahu Akbar – rufen die Terroristen, die Extremisten, die Radikalen, die Gläubigen, Gewalttäter und ihre Gegner gleichermaßen: es bedeutet nichts mehr
  • Die Gewalt des IS ist attraktiv: warum?

Sehr oft sind Analysen aus der Sicht des Westens (neokolonial, orientalistisch), dürfen aber auf keinen Fall so erscheinen und fallen deshalb in die Klischees einer tiefer wurzelnden Islamophobie zurück. (zB. Werner Ruf). These des Islamwissenschaftlers Reinhard Schulze hingegen: „Die Konvergenz des Niedergangs ideologischer Ordnungsvorstellungen in der islamischen wie der westlichen Welt lassen vermuten, dass in den 1980er Jahren allgemein das Vertrauen in eine politisch planbare Zukunft der Gesellschaft schwand“ (Rainer Stephan zitiert R.S. in der Sz 12.9.2016) und folgert: in ihrem Zusammenbruch werden beide Systeme einander auf schreckliche Weise gleich. Das hieße, dass auch wir (Westen) gewalttätig im Zusammenbruch werden? Ich denke, die Zerfallsideologie ist seit Spengler oder früher immer Nährboden für Gewalt oder Unterwerfung: dazu muss man Hoellebecqs oft schwer erträgliche Philosophie genau lesen:

  • Islamismus und Rechtsxtremismus bedingen einander (Nils Minkmar) (Spiegel 39/2016): Beispiel Algerien – Islamisten haben die Regierungsmacht verloren, aber sie dominieren die Kultur. „Das kommt den Regierenden gerade recht: Wenn die Bürger zu Gläubigen werden, gehen sie beten, nicht demonstrieren“ (sagt der Schriftsteller Daoud). Minkmar: „und nichts widerspricht dem Weltbild des „Islamischen Staates“ so sehr wie die freundliche Aufnahme der Flüchtlinge im vergangenen Jahr durch die Bundesrepublik“.
  • Mein Blog: Radikalisierung, Jihad & Europa: michaeldaxner.com (3.10.2016).

Stephen Pinker: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer, Frankfurt 2011, ISBN 978-3-10-061604-3 (original 2011: The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined; aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel).

Salam Falaki, Kampfbefehle Allahs im Koran – Warum Muslime gegen Ungläubige kämpfen müssen. Arabisch-deutsch, 19 Seiten (PDF). Diese Schrift wird vor allem von christlichen Aktivisten immer wieder zitiert, die die Rechtfertigung ihrer Kritik am gewalttätigen Islam suchen.

Kain und Abel: Q 5, 28 „Gott nimmt nur an von Gläubigen“, T 1,4, 5ff. Kain opfert nicht aus Glauben? Er senkt den Kopf…die Psychologie verhindert Sozio-Ökonomie….

Carolin Emcke: Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF. Frankfurt 2016 (2008)

Michel Huellebecq: Ich bin ein halber Prophet. FAZ 27.9.2016. (Schirrmacher-Preis).

Gilles Kepel and Bernard Rougier (eds.): Addressing Terrorism. A Policy Review. Publications Office of the European Union, 2016. à siehe meinen Blog: Radikalisierung, Jihad & Europa 3.10.2016

(https://kurier.at/leben/trybeatingmelightly-pakistan-gesetz-soll-leichtes-schlagen-von-frauen-erlauben/202.123.903). Vgl. Auch “Und Shilan musste sterben”, ZEIT Dossier 22.9.2016

Mit der Behauptung, man gehöre einer Religion an, kann man Gesetze umgehen. Vgl. dazu die USA: Michaela Haas: Oh my God! Sz 10./11.9.2016

Jonathan Barker: The No-Nonsense guide to Terrorism. Verso, London 2002.

WICHTIGER NACHSATZ.

Dieses war ein Vortrag, der Diskussion, Kontroverse und Nachdenken anregen sollte; nicht alles, das ich weiß, und nicht alles, das ich dazu denke, ist da enthalten. Ich bin Soziologe und Konfliktforscher, ich habe an Jüdischen Studien mitgewirkt, aber ich wehre mich energisch gegen jede fachbezogene, disziplinäre Verengung. Deshalb wäre ich gerne zu einer kulturpolitischen Ausweitung des Vortrags gekommen, das war aus Zeitgründen nicht möglich. Ich bin für die Partner*innen im Dialog jederzeit erreichbar.

Michael Daxner

michaeldaxner@yahoo.com

michaeldaxner.com

[1] Das ist einer der Widersprüche der afghanischen Verfassung, die moderner als andere islamische Verfassungen ist, aber hier dennoch die Unmöglichkeit des „islamischen Staates“ darstellt. Der IS natürlich noch weit mehr. Aber wir haben hier auch das Grundproblem, beim Schächten von Tieren (Halal, Kashrut), bei der Mehrehe, der Gewalt gegen Frauen.

[2] Hier muss ich auf Kants Aufklärungsschrift und auf Piagets u.a. Theorien der moralischen und kognitiven Entwicklung verweisen.

[3] Kain&Abel kommentiert: Q 5, 28 „Gott nimmt nur an von Gläubigen“, T 1,4, 5ff. Kain opfert nicht aus Glauben? Er senkt den Kopf…die Psychologie verhindert Sozio-Ökonomie….?

Wir sind Establishment – und das ist so richtig wie falsch

Wir sind Establishment – und das ist so?

Wir sind Elite – und ist das so?

Ich möchte aus der Haut fahren, aber kann nicht aus ihr heraus. Da stellen ernsthafte Forscher und Analytiker seit längerem fest, wie sehr sich bestimmte Gruppen der Bevölkerung bei uns und in vielen Staaten abgehängt, missachtet und ausgegrenzt fühlen. Man kann nachweisen, wie viel oder wenig das mit den Gesellschaften in westlichen Industriestaaten oder in nachhinkenden Ländern Mittel- und Osteuropas und gar in den USA zu tun hat; wir wissen so viel über realer und gefühlte Einkommensscheren, Verlustängste, Unsicherheitsbedrohung usw., dass wir geradezu nachvollziehen können, warum sich große Teile in unseren Gesellschaften unwohl fühlen und nach den Schuldigen für ihre Misere suchen.

Politiker aller Couleurs springen auf diesen Zug: sie wollen den Menschen wieder zuhören, die Ängste und Sorgen ernst nehmen, sie wollen sich wieder dem Volk öffnen, dem wahren Souverän. Keineswegs ist das nur die Botschaft der Rechtsradikalen, obwohl die sie am besten verkaufen. Auch linke, konservative, bisweilen sogar grüne und liberale Politiker und Wirtschaftsvertreter, Medienleute usw. nehmen sich dieser Botschaft an: sie identifizieren die Schuldigen: das Establishment, die Eliten, und manchmal aufrichtig scheinend, sich selbst. Seehofer in der FAZ, Stephen Greenblatt in der SZ, und alle Parteitrumpeter landauf landab. Alle wissen wer schuld ist: das Establishment, manche wissen, dass sie dazugehören, nur ganz wenige wissen, dass die Abkopplungsmechanik etwas komplizierter ist als einfach der Duktus des die andern Abhängens.

                        Odi profanum volgus,                         et arceo (Horaz, Oden III/1)

Ich hasse das gemeine (ungebildete) Volk und halte es fern von mir.

Ja, so stellt man sich die herrschsüchtigen Eliten gerne vor. Ist es das Establishment, das das dumme Volk abhängt, und geschieht das nicht auf Gegenseitigkeit, und sind die Eliten immer das Establishment? Seit Jahren arbeite ich daran, die Differenz von Elite(n) und Avantgarde zu ergründen, und der Charakter der Politik gegen das Establishment gehört doch zu jeder neuen Bewegung, hat auch immer zur grünen Politik gehört. Aber plötzlich ist alles einfach.

Und gutwillig übernehmen es die Medien, der gebildetere Stammtisch, die öffentliche Meinung: jetzt wehrt sich das Volk gegen das Establishment, und heraus kommt Trump. (Nachdem schon Orban, Kaczinsky, Strache und viele andere herausgekommen sind – alle mit dem gleichen Duktus. Und selbst die teilweise Rechtfertigung von Populismus profitiert davon, denn was ist es anderes, als das Ohr an seinem Maul zu haben….).

Noch einmal Horaz: Principibus placuisse viris non ultima laus est. (Epist. 1, 17): Den Ersten im Staat zu gefallen, ist schon ehrenwert. Überhaupt wenn man Dichter ist. Überhaupt.

*

Die Eliten gibt es wirklich. Es sind Menschen, die eine besonders effektive Mischung aus kulturellem und sozialem Kapital auf sich vereinen, oft, aber keineswegs immer mit viel Geldkapital ausgestattet, und in realen und symbolischen Leitungspositionen einer Gesellschaft. Sie sind funktional ausdifferenziert, reproduzieren sich am liebsten selbst, kooptieren, nehmen aber nicht auf Antrag auf und haben nicht selten kein bloß affirmatives, sondern ein kritisches Verhältnis zur herrschenden Machtkonstellation. Ihre Erscheinungsform ist immer auch an den Ornat von Ästhetik (Geschmack) und meist von Moral (nicht immer der besten) gebunden. Sie spielen eine Rolle und sich selbst.

Das negative Attribut elitär passt nicht immer und nicht ganz zu den so beschriebenen Eliten, anti-elitär ist eine Haltung, die grundsätzlich oder im konkreten Fall kritisch zu den Eliten steht.

Warum ich mir diesen didaktischen Ton antue? Weil das Establishment etwas anderes als die Eliten darstellt, weil es konkrete Mach- und Wahrnehmungskonstellationen im sozialen Raum repräsentiert und sich gefühlt oder tatsächlich von den Nicht-Etablierten abhebt, die also in diesem Raum keinen sicheren Ort haben und ständig in Abrutschgefahr sich wähnen.

Mit einem Anti-Establishment Wahlkampf hat Herr Trump die Wahlen gewonnen. Er ist ein Sexist, Steuerbetrüger, Rassist und auch sonst ein übler Zeitgenosse; weil er nun amerikanischer Präsident wird, bekommt er einen zweiten Körper (dazu unten), aber er bleibt das, was er ist. Sein Böhmermann ist noch nicht erfunden. Dass er dem Establishment selbst angehört ist unbestritten; welcher Elite er angehört, hingegen sehr: denn nicht einmal das mit dem Geld stimmt so ganz, für den Geldadel bedarf es mehr als des Reichtums. (In der INYT vom 17.11. steht richtig, dass es das Geld noch lange nicht ist, das Trump in die Elite einbringt; auch sonst lesenswert).  Aber Trump Bashing ist einfach. Nur, wer haut dem Volk seinen Aberglauben um die Ohren, dass man nur gegen das Establishment reden muss, um schon erfolgreich dagegen sein zu können?

Natürlich ist der white trash in West Virginia abgehängt worden (und jedes einzelne Schicksal ist der Empathie und Hilfe wert). Aber als Kollektiv der Kurzschlüssigen attackieren sie ihre elitären Peiniger und heben ihre pöbelhaften Peiniger an die Macht. Und so halten es die Verlustängstlichen, und erst recht die, die sich von einer Wende auch dann noch was versprechen, wenn sie zu den Verlierern gehören werden. Das Establishment sind nicht einfach „Die da oben“. Ein wenig Klassenkampf, das wäre Bernie Sanders gewesen. Das sind auch seine Wähler, die und  schon eher die nicht Erreichbaren, durch Habitus und Bildungsschranken, aber auch durch wichtigere Barrieren Getrennten.Viele von ihnen haben Trump gewählt.  Etabliert ist, wer…?

Das Establishment ist eine Konstruktion. Die Zuschreibung, machtvolle oder „unvertretbare“ Positionen einzunehmen, ist von Interessen getragen, die diesem Machtradius widersprechen: Establishment ist ein zugeschriebene Inflexibilität, die der eigenen Politik widerspricht oder sie behindert. Establishment bashing ist eine einfache Umschreibung von Interessenpolitik ohne Verhandlungsoffenheit im öffentlichen Raum. Das kann in Wahlkämpfen oder in der Organisation von Interessengruppen oder im Prozess der Vermehrung einer Masse hilfreich sein (Nach Canetti „Masse und Macht“ ist der Prozess stetigen Wachstums für viele Gruppen zwingend – und bei Trump wurde das ebenso bestätigt wie bei den wachsenden Anhängerschaften der deutschen Rechtsextremen).

Establishment ist immer Establishment in den Augen eines anderen Establishments. Also gehören auch wir zu dem einen oder andern Establishment. Das Wort ist zum Schimpfwort geworden, und die Begründung für die Abwertung ist immer eine Verteidigung der eigenen Position. Das kann legitim sein, muss aber nicht – es ist, wie jede Konstruktion,  kontextabhängig. Wenn es verfestigt wird, dann tritt das Labelling, oder die Stigmatisierung ein – und von da bis zu einem hetzerischen Polarisieren ist es nicht mehr weit: dadurch werden die unerträglichen Eigenschaften eines Trump nicht mehr relevant, weil der gemeinsame Feind ausgemacht ist: Wall-Street, Mexikaner, Frauen. Andere Establishment-Feinde haben andere Feindbilder und die Überschneidungen helfen der jeweils aktiveren Bashing-Gruppe (Bernie Sanders‘ Kritik am Finanzestablishment trifft sich mit der Rhetorik von Trump).

Die Behauptung, die Abgehängten, Unerhörten, Ausgeschlossenen wären vom Establishment in ihre marginale Rolle gebracht worden, ist wohlfeil. Sie benennt weder Akteure noch die Prozeduren des Ausschlusses und Abhängens. Das heißt nie, dass diese Anschuldigungen völlig unempirisch sein können, und hier liegt die Gefahr. Denn von hier zu Schuldzuweisungen und dem Ruf nach Vergeltung ist es nicht weit.

Der Befund unserer kritischen Sozialwissenschaft über die exkludierenden Wirkungen der ökonomischen („neoliberalen“) und sozialen Entwicklung unserer Gesellschaft nennt selbst sowohl verantwortliche Akteure (z.B. kriminelle Agenturen, korrupte Vorstände, sozialvergessene Aktionäre) als auch Aktionen (Ausschluss der Öffentlichkeit von Information, Verweigerung von Partizipation und Verhandlungen im öffentlichen Raum). Aber gerade die Isolierung eines Establishments inmitten vieler Establishments geben diese Befunde nicht her.

Weil wir auch Teile des einen oder anderen Establishments sind, müssen wir versuchen, die Konstruktionskriterien zu durchschauen und rational zu gebrauchen und  zu kritisieren. Das heißt im konkreten Fall sich zu distanzieren, sich herauszunehmen.

*

Wichtiger ist mir die Differenz zu den Eliten. Eliten sind nichts „besseres“ als das Establishment, sondern ganz etwas anderes. Sie sind funktional und nicht konstruiert; sie sind entweder direkt oder indirekt an Machtkonstellationen beteiligt oder herausragend an deren Kritik beteiligt. Es wäre falsch, diese Eliten immer nur „oben“ zu verorten, sie sind aber meistens dort, wo Macht ausgeübt wird, legitim oder nicht. Ihr wesentliches Merkmal ist eine optimale Verbindung von sozialem Kapital (wer kennt wen?) und kulturellem Kapital (wer kann mitreden?) und oft, aber keineswegs notwendig und immer Geld.

Die gesellschaftliche Struktur erklärt, wie und warum Eliten entstehen und sich etablieren. Alle Forschungen erlauben uns, den Umgang der Eliten mit sich selbst und ihrer Systemumgebung, ihre Reproduktionsmechanismen, Widersprüche etc. Aber diese Erklärung ist kompliziert und vor allem nicht akkurat in den Gegenwartsdiagnosen – Wichtiger ist, dass der Habitus die Eliten zugleich unangreifbar und verwundbar macht. Unangreifbar, weil man sich nicht in die Kommunikationswege und Diskursstrategien der Eliten einfach hineinbohren kann; verwundbar, weil die Eliten in ihren Umgang untereinander und mit ihrem Außenbereichen auch nicht flexibel umgehen können: sie können nicht erfolgreich opportunistisch kooptieren. Elitenwechsel ist ein wichtiges Instrument der Politik, aber wir kennen viele Fälle, wo Personen ihre Rollen verändern und umkehren, und immer Elite bleiben (bei vielen lateinamerikanischen Guerillas/Regierungen, bei der Abschaffung von Monarchien, aber auch bei bestimmten Regimeübergreifenden Funktionen).

In nationalen Hierarchien gibt es „oben“ einen Überschneidungsbereich zwischen der herrschenden Elite und einem Establishment. Wenn das andere große Establishment – z.B. die Koalition des Trump-Lagers – zum Sturm bläst, dann auf diesen Überschneidungsbereich, weil ausnahmslos alle bisher nominierten Kumpanen des neuen Regimes ja aus diesem verhassten Establishment selbst kommen, aber soweit ich sehen kann, keiner der „etablierten Elite“ der USA angehört (das mag unscharf sein, in der Tendenz stimmt es). Der illegitime Griff nach der Macht, um tatsächlich Herrschafts auszuüben.

Gefährlich ist die Nähe des linken und gefühlsmäßig „klassenbewussten“ Establishment-Bashing, wenn es übereinstimmt mit anderen Ressentiments, die man als legitim bezeichnen kann: Wall-Street ist da so ein Angriffspunkt. Da muss man aber die Gründe für die Kritik und den Widerwillen auseinanderhalten. Und der militärische „Isolationismus“ ist noch lange keine Friedenspolitik, wenn andere dafür die Drecksarbeit tun.

Und zurück an den Anfang: gefährlich ist es, das Ohr am Volk zu haben, und das, was man hört, mit der Volksstimme zu verwechseln. Es ist dies das Kunstprodukt der Volksnähe, das Anschmiegen des Parvenüs an den Zeitgeist. Will Seehofer ein Zipfelchen Macht über seine dumpfen Massen abgeben, nur weil er ihnen jetzt (jetzt erst?) zuhört? Um welchen Preis rettet Trump ein paar Bergarbeiter in West Virginia? (Und Gabriel Kohlekumpels in der Lausitz). Die neue Vulgarität beruht auf dem Multiplikationseffekt, den auch die neuen Medien haben: wenn nichts anderes mehr angeboten wird, stumpft man eben gegen die Lüge ab und gegen ihre Produzenten: da mag der Trump das bleiben, was er ist: ein Sexist, Rassist, Gewaltbringer. Er wird im Kreis seiner Produkte nicht auffallen.

Sein Körper wird im Ornat des US Präsidenten Ansprechhülle für andere sein. Für vier Jahre wird der so genannte amerikanische Präsident „unsterblich“ sein, übernatürlich legitimiert, wo wir ihn beim besten Willen nicht als präsidiabel erachten mögen. (deshalb „so genannt“). (Ich übertrage die Thesen von Kantorowicz „The King’s Two Bodies“ (Princeton 1957) hier sehr frei. Aber der Modus der Unterwerfung unter die Erscheinungsform des Mächtigen – der „mächtigste Mensch der Welt“, welche Dummköpfe wiederholen diese Formel und warum? – kann durchaus als Modell dienen. Realpolitisch ist ohnedies klar, dass man mit diesem Unhold wird handeln und verhandeln müssen, wie wir es mit hunderten Mördern, Lügnern, Folterern in hohen Regierungsämtern auch tun. Regime Change von außen zeichnet sich nicht ab, also ist er der auf Zeit ein Faktum. Von innen wird er eine Weile seine Macht zementieren, wie das die Unholde anderswo auch tun, und es wird mehr Unglück, Armut und Unsicherheit geben. Lange Zeit wird der Club der Establishment-Feinde – die armen weißen und ihre Bärenführer aus dem anderen Establishment, gegen ihre Interessen da mitziehen, so wie sie es ja jetzt zur Wahl auch getan haben. Das Ergebnis kann eine Festigung der Diktatur sein (Die Zustimmung zu Hitler war ja auch nicht nur die Folge der Nazi-Propaganda und seines Charismas) oder aber Regime Change, einschließlich einer Neuorientierung der Eliten. Ein demokratischer Wechsel ist ebenso vorstellbar wie eine der vielen Erneuerungen, die die USA schon bewiesen haben; ebenso wie ihre hartnäckigen Rückfälle in nicht-aufgeklärte Selbstbedienung.

Nachsatz 1: die Antithese zu den Eliten ist die Avantgarde, und nicht ein Establishment. Sie reproduziert sich nicht selbst, sie kann sich aus allen Schichten rekrutieren, sie folgt einer tätigen Hoffnung (die natürlich nicht automatisch gut oder besser ist, aber den Boden aushebelt, auf dem die Eliten regieren, auch wenn sie sich oft aus diesen rekrutiert).

Nachsatz 2: ich weiß, dass dieser Blog viel zu kurz ist. Ich möchte nur davor warnen, sich der Abgehängten anzunehmen, ohne zu wissen, wer sie denn eigentlich abgehängt und ausgegrenzt hat. Da kommen wir dann schon an die Klassenfrage heran – mit und ohne Marx – und da wird klar, wie das Establishment, das an den Eigentums- und Partizipationsstrukturen nichts ändern möchte, sich opportunistisch mit denen verbündet, deren Unzufriedenheit und Ängste es mitproduziert hat, um an den gegebenen Ungleichheiten nichts zu ändern. Für deren Politik gilt noch immer: Wenn man möchte, dass die Dinge die gleichen bleiben, muss man sie ändern“ (Lampedusa).

Auftauen!

Wenn etwas sehr Schlimmes sich ereignet, sind viele schnell dabei, ihr Herz zu öffnen und ihren Verstand ausrinnen zu lassen. Erdbeben können sie nicht erklären, da bleibt es still. Aber Trumps Wahlsieg meinen sie zu verstehen und teilen dies in allen Tonlagen mit.

Ich hatte seit Monaten dieses Ergebnis vorausgesagt, und werde hier nicht die Gründe und meine sinistre Denkarbeit ausbreiten. Trotzdem bin ich wie schockgefroren. Neben den Inhalten, die er und die total siegreiche wie unerträgliche Republikanische Partei wohl ändern werden, denke ich an andere Verwerfungen.

Die AfD brüstet sich damit, das Ergebnis gewusst zu haben, und zwar aus den gleichen Gründen, warum alles, was sich links dünkt, seit Wochen das Anti-Establishment-Argument zelebriert von den Abgehängten, von denen, die von Politik, Entscheidungen, Kultur etc. ausgeschlossen sind. Die Rechten waren immer schon gut im Aufspüren von Systemschwächen, und die Linken im Analysieren, wenn etwas gründlich schief gelaufen war.

Wenn die Wähler in den USA eine totale Wende um jeden Preis wollten, haben sie das geschafft. Was über die These vom „kleineren Übel“, das die Clintonwähler und ihre Hoffnungsträger weltweit genährt hatten, zu halten ist, hat Schirach in seinem Text „Terror“ deutlich gemacht.

Natürlich werden wir auch Analysen brauchen. Aber vor allem Widerstand. Der kann nicht nur in Kritik bestehen, nicht nur darin, jeweils die zu unterstützen, die aus dem Desaster das jeweils „Beste“ machen. Das sowieso, und ist keine Heldentat, sondern ein Teil der Überlebensstrategie. Widerstand bietet seine Mittel nicht offensichtlich an. Dagegen sein heißt auch gegen uns selbst sein, jedenfalls so weit, wie wir die Ambiguität der Situation nicht in unser eigenes Handeln integrieren können.

Wieder einmal schlägt Klarheit alle Wahrheit.

Ich sage voraus, dass schon heute verschiedene Formen des Arrangements beginnen, vom Appeasement bis zur Hoffnung, alles würde nicht so schlimm werden, und bei uns jedenfalls nicht so wie in den USA selbst, und dazu könne man ja solidarisch gefahrlos für die Verlierer dort sprechen. Die diplomatischen Rituale sind einmal auch dazu gut, in ihrer Doppelbödigkeit Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Aber sie werden nur ein paar Wochen verdecken, dass härtere Tage kommen werden, in denen wir sehen, wie vieles nieder gerissen wird, das uns Zuversicht gegeben hatte.

Jetzt stopft einmal alle Bitterkeit zurück und versucht, langsam aufzutauen. Gefroren ist man im Zustand einfacher Unterwerfung.

Kindersegen

 

Große Freude im Deutschen Reich: die Kinderquote ist von1,34 auf 1,5 gestiegen, die Deutschen sterben nicht aus. Das heißt, wenn wir die Verfassung ändern, und jeder Mensch, der hier geboren wird, wir deutsche Staatsbürger*in. Wenn die Geburtenrate in diesem Tempo weiter wächst, werden wir zu Ende des Jahrhunderts wieder so bevölkerungsreich sein, dass die aufgegebenen Landstriche in Brandenburg, Mecklenburg und in den deutschen Kolonien wieder besiedelt werden.

Warum bekommen die Familien in unserem Land wieder mehr Kinder? Nicht weil die Sozialpolitik so kinderfreundlich wäre, nicht weil Kinder wieder ungefährdet auf den Straßen spielen könnten, nicht weil es genug Kitaplätze gibt. Auch nicht wirklich, weil die Ideologie sich zugunsten gebärfreudiger Sozialbindungen verändert hätte (wie das alle fundamentalistischen, orthodoxen und ethno-nationalen Organisationen gerne fordern).

Die meisten der zuwachsenden Kinder haben Eltern mit Migrationshintergrund, wie ohnedies schon 20% der Bevölkerung, was mich freut. Das ist kein anti-deutsches Ressentiment, sondern die Freude an der Durchmischung, weil mit dieser Realität den Rassisten a la Höcke ein Widerstand empirisch angeboten wird und sogenannte Mischkulturen auf allen – allen! – Feldern produktiver, flexibler, kultivierter sind. Den ethnisch reinen Weltbürger gibts nicht so leicht.

Aber satirisch wirken die Pressemeldungen zum kleinen Geburtenanstieg auch: viele haben zu wenig Geld für Kultur und Reisen, da liegt freie Zeit zum Zeugen ebenso nahe wie im bayrischen Modell der Käfighaltung von Frauen – hier kann man schon von familienpolitischer Überzeugung reden, und wenn schon die Immigranten uns so viele Kinder bescheren, dann zahlen die vielleicht einmal in die Rentenkasse der christlich-abendländischen Deutschtümler ein: Hoffnung auf eine agile Generation.

*

Das Thema lässt Satire fast unvermeidlich aufkommen. Aber wenn ich mir seine dramatisch, oft tragische Komponente ansehe, dann sollte man darüber nachdenken, warum die Rechtsradikalen bei uns wieder bei ihrer Blutsbürgerschaft angekommen sind, und warum der demographische Wettkampf (zB. Palästinenser und jüdische Israeli, Türkei, Polen etc.) keineswegs einer Stufe vergangener Zivilisationsdefizite angehört. Ich lebe in einem Stadtviertel, in dem es viele Kinder gibt. Das Glück in dieser Lebendigkeit sind die Kinder, nicht die Herkunft der Eltern.

(Sozial- und Kulturpolitik muss folgen. Aber da sind wir uns schnell einig).