Der alte Kurz ist klein geworden

„Vom Staatsfeiertag zu unterscheiden ist der 1965 eingeführte, für das nationale Selbstverständnis Österreichs weit bedeutendere Nationalfeiertag am 26. Oktober, an dem Österreich seiner 1955 in Kraft getretenen „immerwährenden Neutralität“ und indirekt des Abzugs der letzten alliierten Besatzungssoldaten gedenkt. Verwechslungen der beiden Feiertage und zahlreiche weitere Irrtümer zum Staatsfeiertag sind in der Praxis häufig.“ (Es lohnt den Artikel zu lesen https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsfeiertag_(%C3%96sterreich) – weil er ein rationales Österreich darstellt, das es so nie gegeben hat – die beiden Feiertage sind der 1. Mai und eben der 26. Oktober (damals ist der letzte Russe heimgefahren, schade, sagen manche, denen hat es in Österreich besser gefallen als den ständig nörgelnden Einheimischen). Erst Tag der Flagge, dann Tag der Fahne – schon besser, weil, wer Wein trinkt, eine Fahne hat und keine Flagge, und Wein trinken wir doch fast alle.

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Schon allein die Frage, ob, und wenn ja, wie, Österreich eine Nation ist, eine Nation, kommt vielen Studierenden und Journalisten entgegen, der Stoff geht einem nicht aus. Die letzten Wochen und Monate, die so genannte Krise um Kanzler Kurz, der zur Seite tritt, machen diesen Diskurs nicht unwichtig. Seit meiner Schulzeit bis heute, eigentlich, ist die Frage nach dem wirklichen Status dieses Landes keine triviale, die Nation Österreich fällt in die Abhandlung zum Singular (vgl. den vorletzten Blog und Marlene Streeruwitz‘ Ausführungen zu Herrschaft und eben diesem Singular); ich habe mich längst darauf geeinigt, mit mir, dass es Österreich nicht „geben“ muss, um zu existieren: Nicht umsonst sind wesentliche Ergebnisse der Physik in Wien gefunden worden, und die Katze, die es lebendig gibt oder auch nicht mehr ist ja mehr als nur ein Symbol. https://www.welt.de/wissenschaft/article118912805/Wie-Erwin-Schroedingers-Katze-zu-Weltruhm-kam.html

Die Unsterblichkeit der Wurschtelei zwischen Sein und Nichtmehrsein und Schonwiedersein hat die herrlichste Literatur hervorgebracht, die ich nun einmal nicht deutsch- sondern österreichsprachig nenne, weil sie wirklich anders ist. Vor allem mehr als eine Wirklichkeit in ihren Beschreibungen und Erzählungen zulässt, a priori auf jede unterwerfende Eindeutigkeit verzichtet. VORSICHT: das ist nicht nur gut. Das ist bisweilen schlecht, wenn man etwa das Herauswinden der österreichischen dominanten Selbstrechtfertigungen aus ihren Faschismen (lest Streeruwitz), ihren Verdrängungen (Lest Eva Menasse oder Freud), ihrer Neigung, den Falschen das Falsche zu verzeihen und das Richtige zu spät, oft post mortem anzuerkennen. Gut ist die fehlende Eindeutigkeit dort, wo aus einer klaren Ansage unklare und oft überraschend bessere Praxis folgt. Das gilt nicht nur, aber wahrnehmbar stark, in der Kultur, die sich an Spannung zwischen unerträglich und unfassbar gut geradezu überschlägt. Das alles hat seinen Preis.

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Am 30.11.1954 stattete Kaiser Haile Selassie Österreich einen Staatsbesuch ab. Mit Äthiopien hatte Österreich keine kurzfristige Erinnerungskultur zu teilen.

30.11.1954: Haile Selassie I. im Wiener Rathaus

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Staatsbesuch des Kaiser Haile Selassie von Äthiopien

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Kaiser Haile Selassie von Äthiopien trägt sich in das Gästebuch ein

Heute stattete Haile Selassie I. mit seinem Gefolge dem Wiener Rathaus einen Besuch ab. In Anwesenheit der gesamten Stadtregierung empfing Bürgermeister Jonas den Kaiser von Äthiopien.

  • Warum ich das erwähne? Ich glaube mich zu erinnern, dass wir SchülerInnen abkommandiert wurden, den Kaiser am gerade eröffneten neuen Wiener Westbahnhof zu besichtigen, wo er aus München per Bahn ankam – ein bis heute unfassbar gutes, modernes Gebäude, das gut zu den nicht-eindeutigen Schwerpunkten der Nachkriegszeit passt, einschließlich der teilweisen Westorientierung. Für mich war der Bahnhof wichtig, weil ich als Schüler später über den Verschubarealen an der Einfahrt auf der Signalbrücke viele Stunden damit verbrachte, mich in den unter mir fahrenden Zügen anderswohin zu beamen. Dass da ein Kaiser ankam, der den Nachkriegsösterreichern eine Schule schenkte, …wir wurden, glaube ich, mit Fähnchen an den Bahnhof geordert.

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Ach ja, Österreich. Die wirklich guten und die wirklich schlechten AutorInnen, MusikerInnen, bildenden KünstlerInnen reflektieren dauernd Österreich, weil es so unfassbar erscheint. Meine Theorie dazu war die Periode zwischen Napoleon und dem Ersten Weltkrieg als Zeit der strukturellen Andersartigkeit: die Energie der meisten großen Imperien und Nationen ging in die koloniale Unterwerfung riesiger Länder, ganzer Erdteile. Österreich dehnte seine Kolonien nicht überseeisch aus, sondern verschob sich immer weiter nach Osten, bald an den Bahnlinien entlang. Darum hatte man mehr Zeit und Energie sich mit sich selbst zu beschäftigen, das führte nicht nur zur Psychoanalyse, zu großartiger Mathematik und Kernphysik, sondern auch zu einer beständigen Frage, was an diesen Ländern, später an diesem Land, „eigentlich“ „dran“ sei – und die Antworten sind ein Kulturkanon, der sich nachhaltig vom deutschen unterscheidet, ohne deshalb „österreichisch“ zu werden.

Dazu werde ich, aus gebotenem Datum, in zwei Tagen einen Blog schreiben, schaut euch schon einmal den Wiener Zentralfriedhof auf der Karte an, und die herrlichen kleinen Gräberstätten von Wien. Da liegt man gerne…aber so lange wir leben: was ist dieses Österreich?

(Mich beschäftigt das Thema umso mehr, je älter ich werde, und die Rückkehr, die ja kaum eine Heimkehr wäre, sich immer mehr in Richtung Friedhof verschiebt anstatt dass uns jemand eine Wohnung nahe dem Burgtheater zum Nießnutz anböte…)

Talking Holocaust, again

On invitation by Tim Kucharzewski I participated online in a seminar hegave in the context of his engagement in European adult education on democracy, history and enlightenment. This is not a condensed summary of my research on the topic of Shoah, but a kind of transitional motivation for further discussions and commitment to a theme that is never going to die, but must be renovated all the time.

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Shoah today – Memory, Reminiscence, and Fake

Michael Daxner

14 October 2021

Online[1]

Dear participants,

Talking about Shoah has become a necessary routine on many levels, whenever reminiscence, memory and obliviousness of important periods or moments in our history become thematic. There are no longer around too many witnesses of the terrible events, there are less survivors and even not too many second and third generation persons who are affected by the Holocaust ‘directly’. Do we need to apologize for never letting go the topic? Do we need new concepts in a discourse that has had the profile of a never-ending loop?

I am grateful for the invitation discussing the answers with you, and yet it is difficult, because I come from a generation, where the history of the answers did affect private lives and politics likewise in a way that will be impossible in the future.

Too many comparisons, that’s one of my problems. The comparison between actual contemporary atrocities, torture, dictatorships and other human-made disasters with the Holocaust or the Shoah, as I prefer to call it.

Of course, comparison is always necessary and often unavoidable, but if there is an inflation of a certain attitude, it becomes flawed and incredible; the comparison is losing effect. Thus, the Shoah is becoming less relevant and significant when it is compared with each cruel event in present times. On the other hand: if you don’t compare, you don’t understand. Not enough comparisons, that’s another one of my problems.

When I visited Auschwitz/Oswieczim for the first time, I watched other visitors and how they expressed their interests and feelings. I was astonished that they were less interested in the gas chambers, where human beings were killed, than in the cremation ovens, where their dead bodies became annihilated. Later in the day, I was really shocked and emotionally driven by walking over a meadow with most beautiful flowers and very green grass: underneath, there were the ashes of hundreds of thousand people[2].

Let me start with a personal note. Born into a family, where my father was Jewish and my mother half, it took years until understood the full reality, call it truth. Many members of the family had died in the Shoah, there were survivors on both sides, not many, but sufficient to bring me up in a pseudo-Christian environment, where Judaism was ignored. I had to learn my own history during my childhood and adolescence, fully aware of the facts not until I was sixteen, and by then my sources were entangled. At the age of 18 I quit the church, a few years later – under some troubles for a secular young scholar – I “converted” back into a Jewish community. Since then, I am engaged as a rather earthly activist in Jewish organizations, I have been teaching in Jewish studies since the mid-90s, and I did some research. All this was never in the centre of my professional life, but it became a steady companion of both private and public communication. Survivor’s Guilt was not my profile, nor was it the exaggerated Jewishness of a late returnee. In a way, I have become a survivor of survivors’ guilt terrain. Of Course, the Shoah and its narratives were ever present in my work. Of course? However, I am opposing any elevation of the Shoah as the turning point in history. Terrible as it was, the Shoah has been and still is part of history, and whether it is our history, as human beings, as Jews, as Europeans, as Germans etc., is also an effect from the context into which we put it. The Shoah has been real, and nobody should even dare to neglect it. But what reality it was, and how it still influences our present lives, is not a self-explaining fact. For me, the Shoah is company to both, the Jewish studies I am committed to, and my mainline research in Conflict studies and Sociology. It had an influence on my family life, this goes without saying, but also on my political and public agenda. One cannot put down this coat.

The Shoah still has a different impact on the cultural and political lives in Germany and Austria, and in Israel, than on other nations’ understanding. This is easily to explain, – and most of the explanations are questionable.

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Let us start from another angle: None of you is an eyewitness of the Shoah; many of you have seen the memorial sites, the former concentration camps, the monuments; you know the position of the Shoah in your curricula and in everyday discourse, you may know jokes, Jewish or anti-Semitic, referring to the Shoah; you may have read historiography, or personal accounts – Anne Frank as a symbolic figurehead, or a person close to your family, or one with a certain reputation in your cultural or political environment. It is likely that you have perceived the air of a survivor, still alive, or his or her representation, you have seen movies and other features, and you have learned about the Shoah, mainly by reading and discussing. And there is one aspect that might be important in the future as well: all of us, and you certainly, know about the processing of the Holocaust in diverse forms of trials and the elaboration of justice, you know the defence of the perpetrators, you have learned about bystanders and seemingly innocent persons, and the Shoah has become a narrative, perhaps far away from your experience or immediate contact with affected persons, “real” survivors.

That is one of the reasons why we meet today. The Shoah has become a landmark in global history, and it will need more und differentiated understanding, the further the real events of the Holocaust are gliding into the past. So, we may also discuss why you might be interested in the Shoah, why it has become part of this seminar, why Tim Kucharzewsky and Silvia Nicola have invited me to talk here, and to discuss with you.  

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Within the diverse discourses about the Shoah, there are many streams and deviations and abbreviations. Certainly, the focus should remain the policy and action of the Nazi extermination policy and practices. But this was not the entire Shoah, nor can it be explained by National Socialism alone, nor should it be reduced to Anti-Semitism alone. The roots of Nazi ideology go far back into history, and there are relatives to this policy in other political systems, like Stalinism.

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For a contemporary debate, it may be good to ask two questions:

  • How do we know what we know? (Gaston Bachelard)
  • What will the Shoah mean for the future, and how shall we deal with it?

Both questions aim at your and our common interest in the Holocaust. The first one refers to something that happened individually in our past, far, or recent. How do you, each one of you, know what we are talking about at this moment? Of course, all of you are educated persons, thus, we can start with the assumption that knowledge about the Holocaust is part of general education. Is it? For a long time after the war, the Holocaust was clad into national interests, it was not the Jews who had been tortured and killed, but they were Polish, Ukrainian, German Jews. Comparisons were strictly forbidden, e.g., drawing similarities between concentration camps of the Nazis and the Gulag. When it comes to the roots of the Shoah, there were anti-capitalist, antisemitic, racist, ethnophobia, or simply political arguments explaining the Shoah. And in many cases, these widespread collection of explanations, excuses, or accusations, is still in use, sometimes in strange coalitions. To learn about our knowledge about the Holocaust means that we will learn about our parents, family members, social and cultural environments, our teachers and textbooks – and we will suddenly learn about the complete silence, when the topic is being raised.

The next step answering the first question will be the distinction between scholarly expertise and laypersons everyday discourse. There is a lot of research in all varieties of Shoah appearances and facts, and it still is as controversial as in the beginning. You need not be an expert yourself if you gain insight from this research. But if you compare the movies “Night and Fog”[3] or the mini-series “Holocaust” (1978) with other movies[4], you will find rather many of these motives, either focussing on the victims or on the perpetrators, either broken through a subjective lens or trying to present an objective view. There are conferences, podcasts, blogs, and a host of documentary, docufiction, fiction and poetry; there is drama and fine art, there are installations, comics, and satire. Why has been there a “culture” of concern for the Shoah? Again, we can divide the agenda: there is a lot of culture of memory (Erinnerungskultur) and there is a culture of lessons learned. Both are often intertwined. The culture of memory is part of ethical obligation or commitment, often ordered top-down and frequently framed by politics. Lessons learned are lessons applicable to the present and the future. They are also within a political frame. Both cultures have a list of intervening variables, such as nationalism, cultural tradition, opposition towards imposed strategies of mourning or displacement. For both varieties, Aron R. Bodenheimer’[5]s statement is valid: “Only he/she who wants to forget will be able/allowed to remember”. Aron was a close friend of mine, and I may interpret this recommendation: to forget it is necessary to know what you may want to forget; before that, relying only on vague orders or dogmas, forgetting will be either careless or frivolous.

One other aspect among the answers to the first question is the problem of defining the victims of the Shoah, i.e., the Jews, either through a religious interpretation or within an ethnologic and anthropologic frame. The results might be stunningly different and produce more diversion and conflict. If the religious interpretation prevails, then the conflict between the Christians and the Jews, including inquisition, discrimination, downgrading in the eyes of the respective god etc., will come into the picture. The history of anti-Jewish resentment cannot be written without referring to the Christian anti-Judaism, which often has merged and is merging with anti-Semitism. (A similar, however incongruent) window can be opened about Islamic anti-Judaism and anti-Semitism). The enlightened anti-Semitism would be split into a vision of tolerance towards all religions, if they won’t subdue other denominations, and into an anti-religious secularism. Then, anti-Semitic resentments against Jews would be based more on a socio-economic prejudice or cultural “ethnopluralism”)[6]. The secular approach is more complex; religion is only one among other ingredients of socio-anthropological construct of ethnic entities (The Jews, The Hebrews etc.), and this is leading both to a modern, post-revolutionary secular distinction between religion and other qualities of a certain societal group (language, tradition, environment etc.) that play roles, and religion is more often playing the role of an ideological glue to stabilize the intra-societal relations). For both answers, one of the clues is a thorough analysis of anti-Semitism, and almost inevitably, the reference to Zionism and Israel.

This is, among other reasons, why I am normally never speaking of Jews, but of Jewish people, thus avoiding an ontology (Jews are…; or “Germans AND Jews”). My main book on this subject is “Antisemitism makes Jews” (Correct in German “Antisemitismus macht Juden” (2007). Much of this approach is also inherent to the recent book by Delphine Horvilleur, a French woman rabbi: (Horvilleur 2020) who has worked on an ethno-cultural difference between the unfinished Jewry and the urge for completeness in other ethnicities.

The second question may lead as to answers that are more relevant for our present and future; they are linked to the deconstruction of the first question. Now, we should have an idea how to deal with the Holocaust.

Today, and in the future, there will be many accounts to the Shoah, but will it be the central focus of any perception of Jewry, of history at large, of political ethics, of global justice, of universalist ideas…?

Before I say, “certainly not”, give me a moment.

In Germany, Antisemitism has never ceased to exist after the war. There were periods of relative calm, when anti-Jewish resentments were silenced because of political and juridical countermeasures. And there are periods, like today, when antisemitic discourse and action are showing their faces. This is not a phenomenon restricted to a few social and cultural groups. The German army and police have their right-wing extremism as well as political parties, prominent clusters, – and an invisible layer through all classes and segments of the society. Estimates say that some 25 – 30% of Germans are anti-Semitic, that is about the percentage the neo-Nazi party AfD holds in some parts of the country, but generally, the anti-Semitic segments are not congruent with clusters that belong only to the political right. I am not going to analyse these facts now, but I shall point at another aspect: whenever an anti-Semitic or anti-Jewish or anti-Israeli slogan or action appears, the Holocaust is likely to be cited immediately. With or without a direct connection, and very often without a rational explanation of the link. When this happens, opposition or even criticism in the context are considered either politically incorrect or a confirmation of the suspicion that the Shoah is not valued adequately. This might be the case, but as an attitude, it is exactly this kind of superficial judgment and rhetoric that makes it rather difficult to seriously argue against both: anti-Semitism and the denial of the Holocaust.

And there are many young persons, not only “Germans”, but also persons with a migration background, with a different religious or political background, with a different economic framing…and their convictions and prejudice must come from somewhere: from their families, their friends, their religious embedding, and their cultural background, – and their opposition to the system, based on exactly these prejudices and ideologies. Of course, this is not typical German. In the US, look at the evangelicals or the followers of Trump and the racist bottom of society; in many European countries, anti-Semitism is still penetrating the tiniest pores of society, BUT the Shoah is seldom the reference point of their anti-Jewish resentment. I said ‘seldom’. (If they would refer to the Holocaust, the involvement of their country, their nation etc. might become obvious; for them, it is better to leave these facts in the subtexts, and derive their anti-Semitism from other, more historical or religious sources). Or, the Shoah is deliberately compared to other atrocities, from civil wars to dictatorships to legal orders referring to the Corona pandemic.

Antisemitism has become part of the identity for many persons. The present debates have created a dilemma: if there is only one identity to be aimed at, then what will it be, in competition with other values? Anti-colonial, gender-related, religion-related, colour-of-skin-related, political conviction etc. identities compete, quite clearly, and as long as there are not several identities with one person or one group as a legitimate construct, there will be conflict and exclusion.

If this true, then the Shoah will be one particle or element of a complex Jewish identity, which consists of many identities. Very often, non-Jews ascribe only one identity to Jewish persons, and then, conflicts are unavoidable, if this ascription is based mainly on the Holocaust. Today’s Jews would then be the survivors of the survivors, and what happened before, beside and after the Shoah is reduced. Being survivors also means in the eyes of the non-Jewish majority that they should behave better and more ethical and more sociable than the indigenous environment. They should be, in the subtext, grateful that they living as the survivors. For many Jewish societies whose ancestors have never been in contact with the events of the Shoah, this is a strange situation vis-à-vis their experience and their traditions and narratives. Because then, they must adopt a central element of identity which is not originally theirs.

The paradox in my argument is that it has less to do with the intra-Jewish discourse than with the discourses of the society around.

The solution, you may call it liberation, may be not so difficult. On the one hand, you help fighting antisemitism, this will require political commitment, cultural pluralism, and a farewell to all kinds of superior anthropology. On the other hand, it needs an education for the coming generation, where the Shoah is one element in a multitude of elements in a Jewish history. History means also social, cultural, economic context, and not just formulated by an elite for an elite.

The last point is important. May I give you an example from my research. There are numerous good books and features based on the investigation of the Jewry in the city of Berlin. Most of them concentrate on immigrated people from the East; they were concentrated in a relatively small section of the city. Research on another segment of the Jewish people in Berlin has been relatively slim, and some traditions, not based on recent immigration, i.e., the last 120 years, is less structured and productive[7].

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This is, where we can reach another generation, both Jewish and non-Jewish. Based on the principle of equality, I can imagine how interested Jews would be in the history of Muslim in Germany and vice versa. And of course, the same is true for Christians, and apart from religion, for persons of any kind of religion, or secular persons. This idea does not simply aim at an educational reform. It should break up the national and cultural self-narrowing by the narratives of identity by origin.

The Shoah has never been the origin of Jewish generations after its ending. Even looking at 6 million Jews killed in the Holocaust, the survivors have not been the survivors of the deluge, coming from Noah’s boat and building a new people. The disaster of the Holocaust has been a global one, and its companions have never relativized the Shoah. But, please remember that you can, you must compare. In order to being able to do so, you must know something about the Shoah, and not only from those who instrumentalize it. This is not easy; it is hard work, and it never ends. If you will, Jewry begins with the transition from the Hebrews…if you will, after the separation from the Christians in the 3rd century…if you will in the Middle Ages…start discussing the right moment. If you really think that Jewry restarts with the Shoah, then you may ask which traditional laws and dogmas, Halacha and others, would be still intact. The Shoah has demonstrated that the answer to the question Who is a Jew? cannot be given, if we let it prevail as if nothing had happened. But for that it is necessary to know what the Jewish reality in the centuries before the Holocaust has been. My answer is: Jewish.

References:

These are numerous or no books directly related to the Shoah. They deal with a less pretentious approach. If you want more and more detailed Holocaust references, please contact me: In my blog http://www.michaeldaxner.commichaeldaxner.com, there are occasional entries under “Jüdischer Einspruch”, or Jewish Intervention.

Daxner, M. (2007). Der Antisemitismus macht Juden. Hamburg, Merus.

Fölling, W. (1995). Zwischen deutscher und Jüdischer Identität. Opladen, Leske+Budrich.

Geisel, E., Ed. (1981). Im Scheunenviertel. Berlin, Severin und Siedler.

Horvilleur, D. (2020). Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin, Hanser.

Knott, M.-L., Ed. (2000). Hannah Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. München, Piper.

Levi, P. (1986). Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Hanser.

Sarid, Y. (2019). Monster. Zürich, Kein&Aber.

Winger, A. (2020). Unorthodox. (A film):

Busemann, H., M. Daxner and W. Fölling (1992). Insel der Geborgenheit: die Private Waldschule Kaliski, Berlin 1932 bis 1939. Stuttgart ; Weimar, Metzler.

Horvilleur, D. (2020). Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin, Hanser.

This presentation was given in the context of a seminar: A very diverse and interested group of educators from Poland, Greece, and Germany joined the training „Entangled History as a perspective for non-formal education“. In discussions, they quickly realised how little they knew about the history, histography, and perspective of the respective countries. This resulted in long and intense conversations.

The first part of the training was held in the IYMC Krzyżowa, the second in the IYMC Oświęcim. What the participants will particularly remember is the visit to the Memorial and Museum Auschwitz-Birkenau. Some of them said they would never forget it. The majority of the participants is active in civic and social fields and some of them are planning their own projects and visits to the memorial site with young people. For this purpose, trainers presented and applied relevant methods.

The training course was co-funded by the Erasmus+ Programme of the European Union and Rotary International.

Michael Daxner

michaeldaxner@yahoo.com

+49-01741805837


[1] This essay was read during an online session of the seminar and later amended for a readable version. Thanks to Tim Kucharzewski and Silvia Nicola for valuable support.

[2] Cf. Sarid, Y. (2019). Monster. Zürich, Kein&Aber.

[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Night_and_Fog_(1956_film)

[4] https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Holocaust_films –  incomplete list: that is also important, what is NOT included in such lists.

[5] Cf. https://de.wikipedia.org/wiki/Aron_Ronald_Bodenheimer . Aron was a close friend and we worked together on many such themes as the Shoah. His view was often controversial, e.g., against the “official” philosemitic answers to the Shoah or a merely religious interpretation of the fate of the Jews.

[6] The term looks nice, but it means that each ethnicity should have their rights only in their domain or country…(Cf. https://en.wikipedia.org/wiki/Ethnopluralism#References); cf. also: Frank Teichmann: Der Ethnopluralismus, oder wohin die völkische Vielfalt führt. In: Henning Eichberg: Nationalrevolutionäre Perspektiven in der Sportwissenschaft. Reihe: Europäische Hochschulschriften, 211. Peter Lang, Bern 1991, Kapitel B.4, S. 157–199.

[7] It is about a school in the Western parts of Berlin, Jewish, reform-oriented, focussed on escape from Germany: Busemann, H., M. Daxner and W. Fölling (1992). Insel der Geborgenheit: die Private Waldschule Kaliski, Berlin 1932 bis 1939. Stuttgart ; Weimar, Metzler.

Singularer Pluralismus

„Wenn es eine Antwort gibt auf die Frage, warum Menschen Karrieren knicken, um Antiquare zu werden, dann heißt sie: Aus Liebe.“

ZEIT Magazin #43, 21.10.2021, S.37

Die Menschen, Plural; Liebe, Singular.

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Selten hat eine bedeutende Autorin in so knappen Worten den Singular in unserer Sprache, in den Sprachen allgemein, dekonstruiert, wie Marlene Streeruwitz. Da ich sie kenne und schätze, muss ich versuchen, nicht einfach ihr Recht zu geben, wo der Weg zu diesem Recht klippig und schwierig ist. Geschlecht. Zahl. Fall. So heißt das neue Buch mit den Poetikvorlesungen zur Joseph-Breitbach-Dozentur 2021, S. Fischer Verlag.

Auf knappen zwei Seiten einer hochverdichteten Vorlesungsreihe wird die HERRschaft des Singular unaufgeregt präzise beschrieben, erläutert, kritisiert und attackiert, wie meines Wissens kein einschlägiges Fachwerk es so präzise könnte. Ich zitiere erst einmal die mir wichtigen Sätze: Was Liebe ist, diktiert sich aus den kulturellen Zusammenhängen im Verhältnis zu der eigenen, gelebten Erfahrung. Aber. Die jeweilige Bedeutungsfüllung eines solchen Worts. Sie ist einerseits notwendig, das Zeichen überhaupt erkennen zu können. Dass es Liebe gibt und dass wir wissen, was dieses Bezeichnete ist, das ermöglicht Kommunikation. Aber. Der Ausschluss aller anderen möglichen Bedeutungen und die Einengung der enthaltenen Bedeutung auf den Singular der jeweiligen Kultur macht andererseits ein Gebot aus dem Wort. So und nicht anders ist Liebe zu verstehen. Jedenfalls bei uns. Dieses in aller Informalität alles bestimmende „So“. (S. 14) Und ähnlich knapp, vermittels ihrer Erfahrung als katholisch sozialisierter Frau, beschreibt sie den Weg von der Liebe zu Jesus zur Liebe zu einem Mann. „Die Vorschrift romantischen Liebens, „Er atmet. Sie atmet in ihm.“, war im Singular der Liebe eingeschlossen. Diese so früh vermittelte Gebotsstruktur hat lebenslängliche Wirkung…Die Verwendung des Singulars verhindert ja schon die Sicht auf den Widerspruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Es geht um diese eine, gültige Deutung von Liebe.“  Das Ideal aus dem Singular finden wir nicht, aber „Diese Wahrheit gegen die Einmaligkeit der Bedeutungsanhäufung des Singulars gehalten, wird als Verlust erlebt. Das Aufgeben des Singulars wird als kaum verschmerzbare Amputation gelebt“. (S. 15).

Kaum denkt jemand, na und?, da kommt die Ungeheuerlichkeit dieser Wahrheit zum Vorschein, wenn es nämlich zum Plural käme, wie anders vieles werden würde und müsste. Wir müssen nicht bei der Liebe stehen bleiben, was sie hier auftut, kann man auch übertragen auf andere Abstrakta, auf Glück, Not, Angst, Tod…und wieder, Drehung und Wendung: Volk, Zukunft, Ehre, Land. Natürlich ahnt ihr, worauf das hinausläuft. Aber ihr wisst auch, wie viele Seiten und Nebenwege die verschiedenen Wissenschaften und Poetologien wohl gehen, um das zu erträglich zu machen, was hinter dem Singular steht. Es ist für mich kein Zufall, dass die Vorlesung mit der Liebe beginnt, und später politisch und sehr gegenwärtig sich ausdifferenziert, aber bei der Liebe bricht der Subtext ja wohl bei jedem und jeder Erinnerung hervor.

Denn, was hat nicht alles das Wort „Liebe“ hervorgebracht und bewirkt? Weil sein Plural unkorrekt war, schon lange bevor das politisch gedeutet wurde. Dass und wie die Religionen, die christliche zumal, den Singular zum Dogma gemacht haben, wird nicht dadurch geheilt, dass viele Menschen ihren je eigenen Singular dem Dogma entgegenstellen, aber selten ihre Lieben leben, ohne dass diese nur Vor-Lieben wären…Geht einmal ins Internet und schaut nach, was da steht unter „Liebe bei Paulus“, nur ein Beispiel für den Singular. Nein, die Streeruwitz hält sich nicht bei dieser Rahmung von singulärer Unfreiheit auf. Das Entscheidende ist doch, dass jedes Verlassen dieses Singulars mit schlechtem Gewissen, Strafe, Ausgrenzung – oder Marginalisierung verbunden ist, man muss sich rechtfertigen für den Plural, der ja so nicht vorkommt…ich weiß schon, die Lieben, das sind Liebesbeziehungen, aber nicht der Plural von Liebe; ich weiß schon, wie das etwas weicher gespült werden kann, nur damit nicht die Macht, und die Herrschaft sozusagen vor der Klammer zivilisatorischer Entwicklung festgelegt wird.

Dazu handelt Marlene Streeruwitz den Zusammenhang politisch, kompromisslos weiter ab, und leitet auf die Facetten über, die aus der Maxime kommen, alle: „Immer aber geht es um die vorgeschriebene Eindeutigkeit als Ziel“ (17). Lest das weiter, mit mehr als Gewinn: es aktiviert, und nicht nur das Gewissen.

  • Ich bleibe beim Singular der Liebe.

Der hat mich immer beschäftigt, etwa wenn von der Liebe Gottes die Rede ist, oder der eindeutigen Zweideutigkeit der amor patriae: die Liebe des Vaterlands und die Liebe zum Vaterland verschmelzen im Helden, im Veteranen, im Toten. Und ein Satz verfolgt mich über Jahrzehnte: Ödön von Horvath am Ende der Geschichten aus dem Wienerwald: Du wirst meiner Liebe nicht entgehen. Eine Drohung, die den Begriff zerstört, in dem „man“ „eigentlich“ das Maximum an Menschlichkeit vermuten müsste, eindeutig aus der Liebe Gottes abgeleitet und im Menschen gottähnlich verwirklichbar – aber das muss, kann nicht anders, als zur lebenslangen Amputation führen.

Dass sich die Weltliteratur bis ins kleinste Dorf („Welt“) immer um Liebe und/oder Macht dreht, ist so wenig originell wie trivial, ohne die beiden Singulare wäre die Kultur anders; und, darauf weist Marlene Streeruwitz hin, man muss auch fragen, welche „Identitäten zulässig“ ,   welche Identität behaupten darf – bei uns, diesem seltsamen Uns, das in die Eindeutigkeit gezwungen wird, von der Herrschaft.

(Ein Einschub: in einem früheren Blog habe ich auf Delphine Horvilleur hingewiesen, die eine der Wurzeln des Antisemitismus schon sehr früh darin gesehen hat, dass das Judentum nie fertig ist, nie eindeutig ist, und die anderen Ethnien in ihrer Eindeutigkeit die größten Perspektiven sehen (Horvilleur 2020). Man muss hier nicht die ganze Dialektik der Aufklärung und andere Kritiken der Eindeutigkeit aufrufen, wenn es um Begriffe geht (gerade die Abstrakta sind es ja, die Streeruwitz als Hebel der verengenden Herrschaft erkennt).)

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Die „Weise von Liebe und Tod“ (1899) von Rilke kennen viele, gleich zwei Singulare, gleich die adelige Selbsterhöhung, nicht nur Kitsch, sondern zeitgemäße Selbsterhöhung. Später dann verschwindet diese „Liebe“ weitgehend aus dem Vokabular des Dichters, und die Anklage gegen die männliche Herrschaft wird in den „Späten Gedichten“ in der Nonnen-Klage überdeutlich.

HERR Jesus, – geh vergleiche

dich irgendeinem Mann.

Nun bist du doch der Reiche,

nun hast du Gottes weiche

Herrlichkeiten an.

Lest das weiter, diese vergebliche Nachklage einer nicht erfüllten Liebe, weil sie in der Vorstellung eben keine Liebhaber gehabt hatte, aber nun fragt: „Nun da ich bei keinem schlief / sag: hab ich nichts begangen?“. Da ist dieses „Anti-„ schon drin; bei Streeruwitz kurz angeleuchtet „Im Antirassismus. Im Antifaschismus“ – damit berührt sie den heiklen Punkt, dass bloße Negation noch kein Widerstand ist. Erich Fried:

Ein Faschist, der nichts ist, als

ein Faschist, ist

ein Faschist. 


Aber ein Antifaschist, der

nichts ist, als ein Antifaschist, ist

kein Antifaschist.

Die Vorlesungen von Marlene Streeruwitz zu bedenken und zu besprechen, heißt zunächst sie ganz und gar zu lesen, fast nachzusprechen. Und dann etwas herauszunehmen, was ja schon bedeuten kann, sich etwas herauszunehmen, das sanktioniert wird.

Warum mir das so viel bedeutet, neben der Liebe an einem ganz anderen Beispiel: „Keine neue Herrschaft hat den Singular von Freiheit abgeschafft“ (18) – Beweis: die entkolonialisierte Diktatur, der Normalfall in den meisten Ländern.

*

Das alles sind keine Angriffe auf den Universalismus, der in der Würde steckt, die durch den falschen, ja gewalttätigen Singular der Ehre verdeckt wird. Es sind Angriffe auf das Verdecken, das uns möglich wäre, wo die Wirklichkeit, sowie sie ist, uns unterdrückt, bedrückt. Nur der Partikularismus der Herrschaft erlaubt es, die Beherrschten abzuwerten. Die Umkehrung dieses Satzes stimmt auch dann nicht, wenn sie zur Begründung von Revolution genommen wird.

*

Aber Dankbarkeit ist eine Kategorie, die weder Singular noch Plural kennt. Wer weiß, wem er/sie wofür Dank entgegenbringt, und warum er/sie dankbar bedacht wird, ist den Schritt weiter, zu dem die Poetikvorlesung von Marlene Streeruwitz ermutigt.

Retten können, trotz Wut und Resignation

Man möchte gerne den noch amtierenden Innenminister und seine Prätorianer abführen, im Büßergewand der Aussätzigen an die polnisch-weißrussische Grenze führen, dort anketten und frieren lassen. Man, d.h. nicht alle, aber ich auch. Man tut es nicht, ich beteilige mich auch nicht, weil Menschenrechtsverletzungen und Zynismus, beide, keine Revanche dulden; man würde sich auf das Niveau des Untam[1] begeben, und damit mitschuldig werden.

Der Konflikt zwischen der EU und Polen, aber auch zwischen der EU und Ungarn, Slowenien, und anderen Mitgliedsländern ist so viel größer als Seehofers Angebot an die Flüchtlingsschinder, und doch ist seine Sicht der Dinge „realistisch“ – das Schinden, bis hin zur Tötung, geschieht wirklich, und ob und wie Putin und Lukashenko schuld sind, oder Putin an Lukashenko, oder wer die Menschen schlechter behandelt, ist wie ein Vergleich von KZ und Gulag – auf der Ebene der Wortklauberei sinnlos und vor allem Zeitvergeudung.

*

Als BürgerInnen dieses Staates sind wir allerdings auch an diesem Minister schuldig, und an seinen Untaten. Wir haften, ohne dass wir direkt Verantwortung dafür tragen, was an der deutsch-polnischen und polnisch-belarussischen Grenze geschieht, und an den anderen Außengrenzen der EU, und und und.

Mich regt das doppelt auf. Zum einen, weil es die Schwächen und Versäumnisse, aber auch Fahrlässigkeiten von EU-Verfassung, Kommission und den Mechanismen zeigt – schlimm genug, aber reparierbar. Selbst in der Flüchtlingsfrage, gekoppelt an die Menschenrechte, KANN man etwas machen. Dazu eine Rückerinnerung: als die ehemaligen Sowjetuntertanen aus dem Griff des Poststalinismus befreit wurden, haben wir uns alle gefreut, vor allem, dass und wie sie in die EU gedrängt hatten. Solange Geld floss, und der Kapitalismus neoliberaler Art keine zu schnellen Wunden schlug, hat man alles mit Geld zugedeckt. Es war aber vorherzusehen, dass Befreiung nicht automatisch Demokratie und Republik bedeutet, befreit kann man leichter sein als frei. Ich wurde damals von Liberalen eher verspottet, als ich voraussagte, dass mit der Aufnahme dieser postsowjetischen Länder nicht automatisch ein Zuwachs an Demokratie und guter Politik erfolgen würde, sondern dass eher der Anteil der schlechten Politik des Westens auf die neuen Mitglieder übertragen würde – wenigstens für den Übergang (den ich viel zu kurz prognostiziert hatte, mein Fehler). Die Angst vor Selbstbestimmung und Aufklärung ist in weiten Teilen der Regierungen und einem Teil – keineswegs immer der Mehrheit – der Bevölkerung geradezu mit Händen zu greifen, in Polen kleriko-faschistisch, in Ungarn direkt faschistisch, in vielen anderen Ländern der EU populistisch bis hin zur korrupten Buberlpolitik in Österreich.

Das hindert an wirklicher Politik, ob Klima, ob Flüchtlingsrettung, ob Armutsbekämpfung…

*

Der Trigger dieser leicht aggressiven Betrachtung von Seehofers Politik ist ein anderer, nämlich die Frage, wenn wir noch aus Afghanistan retten können, und wenn wir Deutschland heißt, wie koordinieren wir eine langfristige Hilfspolitik der angekommenen Asyl- und Bleibeberechtigten und ggf. ihrer Familien hier im Land und nicht im Stacheldraht unserer Außengrenzen. Das sind ein paar Hundert, noch nicht Tausende, aber es werden sicher mehr. Und hilft das wohlfeile Gehtze gegen Ausländer und Migration nicht, wir brauchen die sowieso und sie ausbilden, sie integrieren – das werden wir doch noch hinkriegen? Oder? Mit den AfghanInnen – ob über Griechenland oder Belarus oder Polen oder. – zeichnet sich der gestrigen Besprechung der Taliban ein ähnliches Dilemma wie mit Polen ab:

https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-10-21/page_2.496974/article_1.5444711/article.html („Punktsieg für Russland“ von Thomas Avenarius). Die Russen verhandeln mit den Taliban und bringen die gleichen Forderungen wie der Westen vor: Schutz von Frauen und Minderheiten, Bekämpfung von Hunger und Armut. Der Westen hat einen Krieg verloren und ist daher in der schlechten Position gegenüber den Siegern. Demokratie und nachhaltige Politik bleiben dabei auf der Strecke…macht doch dem Kreml nichts, aber uns und den AfghanInnen.

Und was machen wir? Keine rhetorische Frage, und jetzt, bevor wir den Seehofers den Zapfenstreich blasen, kann man noch darauf drängen, dass die neue Regierung das deutsche Gewicht in der EU nutzt, um eben das zu ändern, was uns jetzt blockiert. Wenigstens eine Korrektur von Dublinabkommen, Aufnahme- und Asylbedingungen und Verteilung von ankommenden Geflüchteten MUSS im Programm stehen und verwirklicht werden.


[1] In keinem der etymologischen Wörterbücher mehr verzeichnet: Untam ist nicht die Ableitung aus „untamed“=wild, ungezähmt, sondern meint einen, der kein Tam ist (der wäre ein Guter, Kluger etc.), aber den Tam gibt es nicht, und der Untam, unvergesslich aus der Wiener Kindheit, ist ein Naffel oder sonstwie aus der Reihe der Respektierten tanzender – so wurde ich auch bisweilen beschimpft. Später nicht mehr, da war der Begriff verschwunden.

Herrgott noch mal

Welcher Teufel reitet mich, Gottseibeiuns zu rufen und diesen Teufel gleich zu bitten, die folgenden Gedanken zum Herrn Gott nicht in seine Spitzfindigkeiten aufzunehmen.

Mich nervt das Bemühen v.a. der christlichen Kirchen, auch vieler Muslime und jüdischer Stimmen, Gott in Beziehung zum Covid-Chaos zu setzen. Zwischen den Zeilen kommen wieder diese alten Ideen von der Kollektivstrafe für liederlichen Lebenswandel und der letztmaligen Mahnung zur Umkehr zum Vorschein (gebt euch nicht die Hand, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt…ist noch eine harmlose Variante des Berührungsverbots, das ja auch seine religiösen Wurzeln hat).

Am meisten nervt mich, dass es sich noch um den Herrgott handelt, den Herrn, der sich allem entzieht: #meToo, der Missbrauchsdebatte, der Coronaheuchelei (womit ich die Grundrechte für die Impfverweigerer und Verschwörungsfuzzis meine), den Feldkuraten der Bundeswehr und den normalen Menschen.

Ich bin da nicht allein und verfolge, wie der Chor der KritikerInnen anschwillt, aber aus Angst, in der Blasphemie-Ecke isoliert oder gar ausgegrenzt zu werden, den Klartext vermeidet.

Ich mache einen Umweg: Der bekannte Gottesbiograph Jack Miles unterscheidet zwischen Gott und Gott, dem Herrn, um einen bestimmten Gott historisch zu fassen, im Gegensatz zu einem volatilen, wandelbaren Gottesbegriff. Die theologische und geschichtliche Struktur des Buches ist mir an dieser Stille nicht so wichtig wie die Festlegung auf den Herrn. (Jack Miles: God. A Biography. Knopf (NY)1995; deutsch: WBG Hanser 1996). Das Buch ist so stark oder fehlerhaft wie viele Gottesbiographien, aber die Festlegung auf den Herrn wirkt irgendwie anachronistisch? Dass sie theologisch und anthropologisch inkorrekt ist, tut ja leider im Alltag nichts zur Sache. Aber in einer aufgeregten, fast hysterischen Diskussion um Korrektheit und widerstreitende Identitäten – was schon zeigt, wie prekär die Diskurse sind – wirkt der Herr so provokativ wie nur.

Nicht, dass ich mich jetzt an LGBTY heranwanze. Mich nervt im oben beschriebenen Sinn, dass eine obere Instanz „Herr“ uns sozusagen noch mehr belastet und ärgert als wir es uns selber antun.

*

Das kommt nicht von ungefähr. Viele erhoffen sich vom Herrn auch Linderung ihrer Ängste oder Pandemie-Verstörungen, weil es in der Tat nicht einfach ist, für sich selbst und andere verantwortungsvoll sich auf neue Umstände einzustellen (und das nutzen der Rundfunkprediger in ihren Morgenandachten hingebungsvoll aus). Diese neuen Umstände haben mit Covid wenig zu tun, das Virus wirkt höchstens als ein Brandbeschleuniger. Die neuen Umstände haben einen Namen: wir müssen uns alle auf diverse Konsumverzichte einstellen, und damit ist die soziale Gerechtigkeit, d.h. also konkret die Unterstützung der ärmeren Schichten in unserer Bevölkerung – wir müssen Steuern erhöhen, wir müssen Konsumgüter und Infrastrukturen nachhaltiger gestalten, und zwar – Brücke zur Herrschaft des „Herrn“ Herrn – alternativlos, wenn wir das Leben auf dieser Erde überhaupt noch längerfristig erhalten wollen. Wir, nicht der Herr. Das alles würde nicht besser, wenn wir bloß ergänzten: Herr & Frau Gott/Göttin, das Neutrum des göttlichen Wesens ist zu wenig anthropomorph und leider gibt es keinen Weg zurück zu den Nymphen und Satyrn und höheren Göttlichkeiten.

Die vielfältigen Lektüren sind durchaus geeignet, das „höhere Wesen, das wir verehren“ (Heinrich Böll) wieder ins Gespräch zu bringen. Ich habe damit in meinem Alltag wenig zu tun, finde aber zu wenig Welt- und Realitätsnähe der Argumente jenseits der faktischen 1,5° und der CO2 Reduktion. Das klingt so abstrakt, nicht wahr? Das hebelt die so genannte Schöpfung aus, die der Herr ja angeblich nach unserem Ebenbild geformt hat. Das Elend des Konstruktivismus….

*

Die Unterwerfung unter den Herrn bedeutet auch eine Abwehr und Unwilligkeit gegen Politik (nämlich politisch zu handeln, nicht darüber zu reden). Wenn jetzt jemand dies als eine abermalige Kritik an der Religion liest, mag er oder sie bedenken: Religion als soziale Organisation braucht man gar nicht zu kritisieren, solche Organisationen befinden sich in der ständigen Konkurrenz mit anderen sozialen Gruppen und Institutionen. Mich ärgert die Bevorzugung der Religion vor anderen Institutionen, als hätte der Herr das angeordnet. Da wünscht man sich eine Aphrodite oder Pallas Athene oder die Nymphe Echo als Alternative. Herrgott noch einmal…

A:E:I:O:U zum Zweiten

Vor längerer Zeit hatte ich einen Blog AEIOU, Austria erit in orbe ultimo, und einige Sottisen. Heute fällt mir dazu nur der Kalauer ein „allen Ernstes ist Österreich unerträglich“, was auch blödsinnig ist.

Als Doppelstaatsbürger hab ichs leicht: sind die Österreicher blöder, dann freu ich mich, Deutscher zu sein, sinds die Deutschen, dann umgekehrt: ich bin ja Österreicher, gar Wiener. Man kann ganze Heimatdiskurse mit so einer Doppelmühle zerstören.

Aber ganz so einfach ist es nicht. Bis auf gewisse sprachliche Nähe (85% des relevanten Vokabulars, aber 15% der wichtigen Dinge: Essen, Sex, Flüche sind eben doch verschieden) sind die beiden Ethnien (abgesehen davon, dass Österreich keine Ethnie ist wie die Deutschen, und der Migrationsanteil bei beiden zwar groß, aber unterschiedlich integrierbar ist) – von Völkern kann man ja bei beiden nicht so unbefangen reden – doch recht unterschiedlich. Eine Analogie z.B. zwischen den Monstren Seehofer, Maas, Scheuer….und den Monstren Kurz, Nehammer, Blümel…ist gar nicht so leicht herzustellen, weil die Monstrositäten durchaus schwer zu vergleichen sind. Das liegt an der objektiven relativen Bedeutungslosigkeit Österreichs in der globalen Politik, verglichen mit der selbstverschuldeten Bedeutungslosigkeit der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt. Das liegt auch daran, dass unsere Kulturen, unsere Sozialsysteme, unsere Landschaften, nicht zuletzt die Medien, schwer zu vergleichen sind…darüber wird ja jetzt jeden Tag berichtet. Übrigens ist die Süddeutsche das Brückenmedium zu Österreich, wen es wirklich interessiert.

In den letzten Tagen sticht Kurz mit seinen Finten die Hampelei der CDU und das Sondierungstheater aus. Niemand erwartet, dass Schallenberg die politische Richtung seiner Partei und eines Teils der Regierung auch nur einen Millimeter weit liberaler oder humanitärer macht. Aber er überschreitet auch die Grenze sowohl des Strafrechts als auch des Parteienpragmatismus nicht, da können die Grünen nur hoffen. Trotzdem geschieht in Wien, was Europa mindestens so schadet wie die deutsche Führungslosigkeit und der klerikofaschistische Angriff auf Europa durch PIS und der faschistische durch Orban und Bulgariens Weigerung gegen eine EU Erweiterung … Warum? So unwichtig ist Österreich nicht, wegen seines Reichtums, wegen seiner Lage zwischen den Blöcken. Machen wir uns nichts vor, die Blöcke gibt’s ja, und was der ehemalige kommunistische Block war, hat bis heute ein ganz anderes Europa im Sinn als der ehemalige Westen und der Süden. (Nur wird das in edler Sprache und sensibel abgehandelt, nicht so ranzig, wie ichs grad mache…es regt mich ja doch auf).

Österreich ist anders, aber anders als wer oder was? (Ich erspare euch meine nur scheinbar überhebliche Bemerkung, was Kultur, Sozialpolitik und die Bundesbahnen betrifft…). Österreich hat eine ganz andere Erinnerungskultur, meist eine Unkultur, und eine viel stärkere Trennung von Politik und subjektiven Selbstverortungen – das hat geholfen, manchmal gegen die Nazis von der FPÖ, manchmal gegen Übergriffe der Rechte, oft aber auch nicht geholfen, wenn alle hereingeholt (Kreisky/Peters, Waldheim, Kurz/Strache etc.) wurden, in ein Boot, das statt auf einem Weltmeer auf einer Bühne gerudert wird).

Was es gegen und zu Kurz zu sagen gibt, hat Heribert Prantl von der SZ Zusammengefasst. https://www.sueddeutsche.de/meinung/prantls-blick-kurz-oesterreich-1.5435597?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE (10.10.21). Ich sag dazu nichts, auch nichts aus der tiefgestaffelten Personalverklumpung aller drei großen Parteien. Lass mal die Grünen und die NEOs draussen…

Mir geht es um ganz was anderes: mein Mühlespiel – einmal sind die Deutschen korrupter, unfähiger etc., dann wieder die Österreicher, ist ja nur oberflächlich. In diesen Tagen bewegt mich der unendliche Stillstand in einer scheinbaren Krise, die keine ist, und für die Lampedusas Satz gilt, dass man die Dinge ändern müsse, damit sie die gleichen bleiben. Noch nicht einmal der Austausch von Personen bedeutet innerhalb eines „Systems“ etwas Grundlegendes, wie der neue Kanzler bei seiner Angelobung schon verkündete…

Mir geht es an die Nieren, mein Herkunftsland, das ja so wenig Heimat sein kann wie Deutschland, so beschreiben zu müssen, dass es in deutschen Ohren oft wie Verteidigung klingt, wenn fast das Gegenteil gemeint ist – dann müsste ich die deutsche Vergleichsvariante hervorholen, die Duldung von Mafia und Finanzkriminalität, die Mitschuld am Kriegsgeschehen in Afghanistan und die Opferung tausender Ortskräfte, die schräge Rolle im EU Einigungsprozess z.B. gegen Macron, usw. Das aber wäre Aufrechnen unter Vergleichbaren, und dann steht Deutschland schlechter da, weil mächtiger, und mein Österreich wäre eine wohlhabende Bananenrepublik. Ist es aber nicht, es ist die Herrschaft einer gesellschaftlichen Zerklüftung, die bis auf die Gründung der kaum überlebensfähigen Republik 1918 zurückgeht.

Mein Leitwerk war seit mehr als 5 Jahrzehnten Karl Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“ (1926), aus dem ich bis heute Analogien und fortdauernde Verhaltensweisen ableiten kann…und jetzt einmal nicht zitiere. Was er an der österreichischen Gesellschaft beschreibt, ist das Gegenteil des Strebens nach Eindeutigkeit – kulturell, sozial, religiös, diskursiv. Man hat das Gefühl, es gäbe keine „Politik“ in Österreich. Das stimmt real natürlich nicht, hat auch nie so gestimmt, aber es wird bis heute oft so empfunden, weil das Politische zerlegt wird in die Mosaiksteine der Gruppen, die eben nicht sich an einer Ethnie, einer Ideologie ausrichten. Bis auf die jeweils echten Faschisten haben fast alle politischen Personen ihre schizophrenen Mehrfach-Zugehörigkeiten, die natürlich von der Kritik erkannt werden, oft ausgeschlachtet, oft aber hingenommen. Die Kritik ist übrigens seltsam intakt, in vielen Medien, in Kunst und Literatur (ich empfinde sie schärfer und tiefergehend als in Deutschland, aber oft ohne unmittelbare Wirkung – jetzt sind wir in der Gegenwart). Was da an Kurz kritisiert wird, ist arg, aber natürlich keine Staatskrise. Die gibt es schon längst woanders, etwa in der österreichischen Führungsrolle der EU-Feinde in Visegrad-Gruppe und in der Flüchtlingspolitik. Nein, die Kritik arbeitet sich oft auch ab an der nichtkritisierbaren Vielfalt des Objekts, in der Betäubungspolitik gegenüber den vielen, mittlerweile hingenommenen Vergangenheiten. Vieles an dieser Vielfalt war und ist ja vielleicht besser als anderswo, von der Wiener Wohnbaupolitik bis hin zu Vermittlerrollen in internationalen Konflikten und mehr Freiheit für die Kunst als in den meisten europäischen Ländern. Aber es bleibt beim Pluralismus der Mosaiksteinchen des zerbrochenen Spiegels.

Die Grünen sind in der Tat ein Keil in diesem Gewölle. Sie haben sich sozusagen Reforminseln erarbeitet, da geht es voran, aber es sind Inseln. (Dass sie das können, liegt an der Parteienautonomie eines Regierungssystems, wo die einen dies, die andern etwas anderes tun können, ja „dürfen“, solange sie sich gegenseitig nicht dreinreden…). Über den Unterschied wird in den Vergleichen kaum geredet.

Was mich jetzt umtreibt, ist auch ein Frust, dass ich mich nicht „richtig“ dem äußern kann, was ich wie in einer Kristallkugel sehr genau sehe und meine zu verstehen. Mich bewegt, als ein Beispiel, die nicht aufgearbeitete Folge zweier antagonistischer Faschismen (1933-1938, 1938-1945), die hingenommenen und wirksamen Reformen gegen die Folgen, und das ganz und gar nach Innen gerichtete Symptom der Selbstbeschäftigung. Meine These kennt ihr, dass Österreich ja seine Kolonien nie Übersee, sondern an den Bahnlinien hatte und deshalb sich ein Überschuss an Überbau in die Literatur, die Psychoanalyse, die Kunst hat eindrängen lassen – DA ist wirklich ein Unterschied – und eine „andere“ Form mitteleuropäischer Verarbeitung, d.i. Gegenwartsbewältigung, hervorgebracht hat. Zum Beispiel einmal den großartigen Bruno Kreisky, zum Beispiel Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek, zum Beispiel einen Bundespräsidenten van der Bellen, der deshalb zum Land passt, weil er überhaupt nicht in diesem beschriebenen Gewölle von Uneindeutigkeiten verfangen ist, und deshalb einen weiteren, diesmal guten Splitter darstellt (wir hatten auch einen antisemitischen sozialistischen Bundespräsidenten (https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Renner) , der natürlich auch noch denkmalig erinnert wird.

Wenn ich in mein wirklich geliebtes Wien komme, bin ich immer „freier“ als anderswo, aber ich kann nicht genau beschreiben, was diese Insel, neben anderen im Land – siehe oben – so am Leben erhält, dass ich mir von Herzen ein Ende der Ära Kurz mit allen Anhängseln wünsche, nicht ahnend, was dann kommt. Vielleicht kanns ich erlesen und erschauen und erhören…

Ernst Jandl „Wir wurschteln, wir wurschteln immer weida…“ (Requiem).

Erinnerung ist nicht Gedächtnis

Aber sie hängt davon ab, wer sich woran wie erinnert. Das Gedächtnis ist kein Begräbnisort der Vergangenheit, den man aufsucht wie ein Museum oder eine Gedenkstätte.

So komplex die bio-psycho-physiologische Erklärung von Gedächtnis ist, Erinnern und Vergessen werden dauernd gebraucht und aufgerufen. Das Jahrwort ist ja nicht Sondierung, sondern Erinnerungskultur. Jetzt gerade ist Babin Yar an der Reihe, zu Recht, und das Gastarbeiterabkommen mit der Türkei, und die dauernd aufgerufene Erinnerung an die Shoah, die ein Anrennen gegen die Mauer des Vergessens ist. Niemand erinnert sich an die Shoah. Das heißt, fast niemand: der hundertjährige Lageraufseher von Sachsenhausen vor Gericht erinnert sich vielleicht, er sagt nichts, aber er erinnert uns, mich, an das Versagen der deutschen Justiz, fast 80 Jahre nichts gegen die Nazis im eigenen Nachkriegsland getan zu haben, gerade weil sie nichts vergessen haben, von den Globkes bis heute. Die Shoah wird oft aufgerufen, ja herbeizitiert, um das Vergessen zu bemänteln. Sie wird zur taktischen Konstruktion. Das muss beunruhigen, dann damit wird der Holocaust aus der Geschichte in eine randlose unbestimmte, manipulierbare Sphäre gerückt. Die ersten beiden Generationen voll „Survivor’s Guilt“ traten auch ab, die dritte hat es da schon schwerer. Was aber alles vergessen wurde, damit die Erinnerungen an die Shoah einen Platz in der eigenen Kultur (national, lokal, persönlich etc.) bekommen können, wird zu selten und oft ungenau aufgerufen, obwohl anscheinend immer mehr AkteurInnen mit der Erinnerungskultur beschäftigt sind.

Ich habe Aron Bodenheimers Satz schon mehrfach hier zitiert: Nur wer vergessen will, darf sich erinnern. Das bedeutet, dass man wissen muss, was man vergessen will, und dann kann man auch das erinnern, was sich sonst dem Unbewussten wie dem Bewusstsein sperrt und verweigert.

*

Die Auswahl dessen, was vergessen wird – das ist ja ein Prozess – ist nicht zufällig. Was geschehen ist dringt auf vielen Wegen ins Subjektive, ins Gedächtnis ein, und der Löschvorgang bzw. das Wegsperren der Wahrheit haben sehr viele kulturelle und soziale Wurzeln. Mich interessiert dieser Vorgang weniger als die Probleme, die entstehen, wenn man dem Vergessen Wahrheiten entreißt, die noch gar nicht erinnert werden, wenigstens nicht vollständig und wahrhaftig.

Anlass zu dieser Überlegung ist unter anderem der Umgang mit dem Krieg in Afghanistan. Da setzt eine unbedarfte und unwissende Ministerin eine Konferenz an und umgibt sich doch nur mit Diskutanten, deren Interpretation mit am Vergessen beteiligt sind (teilweise von Anfang an. Das kann man in der Literatur gut verfolgen: z.B. ganz neu (O’Toole 2021) oder bei AAN; aber auch im eigenen Erleben. Was hat meine Arbeit über 20 Jahre mit Afghanistan gemacht, und was hat Afghanistan seit 2003 mit mir gemacht? Zwei ungleichgewichtige Fragen, die sich doch einige, viele? stellen können. Das Gedächtnis aktivieren, um erinnern und werten zu können. Erinnerungspolitik ist immer Legitimationspolitik, auch die Rechtfertigung, das kollektive Gedächtnis nur in bestimmten Bruchstücken der Wirklichkeit zu rechtfertigen – als ob sich vergessen ließe, was wir vergessen wollen.

*

Hier liegt die Analogie, und auch die Begründung dafür, was ich heute schreibe. Beides, Erinnern und Vergessen, gehört zu jeder Kultur. Und was wir vergessen wollen, damit es sich nicht wieder ereigne, muss erst einmal erinnert werden, darf nicht verdrängt werden. Der inflationäre Umgang mit dem Erinnern (E-Kultur) ist so fatal wie das Zudecken des Erinnerbaren durch politisch motiviertes Vergessen (siehe oben: deutsche Justiz, siehe später: Afghanistan – über der „Aufarbeitung“ werden die todbringenden Ortskräftepolitiken der deutschen Regierung einfach verdrängt).

O’Toole, F. (2021). „The Lie of Nation Building.“ NYRB: 16-19.

Sondierungen ins Ungefähre – Nowhere/Now here

(Seit William Morris häufiges Wortspiel, aber nicht unsinnig).

Mit einer Panne hat auch die CDU zu kämpfen. Ein Sondierungs-Leak bei der Union ärgert die FDP. Aus einer vertraulichen Runde wurden Informationen öffentlich gemacht, berichtet mein Kollege Georg Ismar. Ob es heute besser läuft? Erstmals treffen sich Union und Grüne zu einem Sondierungsgespräch. (Tagesspiegel online 5.10.21).

Ich bin nicht die Sprachpolizei. Aber ich störe mich an der zeitweisen Heiligung von Begriffen, unter denen man eher Diffuses als konkret Profiliertes versteht. Darum verwenden die Beteiligten viel Aufwand, um dem Publikum zu erklären, was sie unter „Sondierung“ verstehen und worum es „eigentlich“ geht.

Die Verhandlung als Vorbedingung vor Verhandlungen als Bedingung von Koalitionsgesprächen ist selbstverständlich, weshalb ihre Betonung misstrauisch macht. Es wird ein Terrain erkundet, auf dem Widersprüche und Konflikte in einem vorher begrenzten Rahmen bearbeitet werden können, auch das ist normal. Wo es Übereinstimmungen gibt, müssen die Sondierungen inzestuöse oder ganz und gar personalisierte Konflikte ausschließen, damit nicht das Ziel durch personalisierte Machtkämpfe reduziert wird.

Ich bin misstrauisch, weil ich annehme, dass die Sondierung so eine Art Vorspiel auf dem Theater ist, die den erhofften und erwarteten Vertrauensbonus mitkochen oder mitservieren soll.

Im Faust wird das demonstriert:

DIREKTOR: Ich wünschte sehr der Menge zu behagen. (V.37) – ALLE BETEILIGTEN

LUSTIGE PERSON: Laßt Phantasie mit allen ihren Chören, / Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft, / Doch merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören (V.86-89). – PARTEIMITGLIEDER, DIE NICHT DEM SONDIERUNGSTEAM ANGEHÖREN, AUCH VERLIERER IM INNERPARTEILICHEN MACHTKAMPF

DICHTER: Oft, wenn es erst durch Jahre durchgedrungen, / Erscheint es in vollendeter Gestalt. / Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, / Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren. (V.71-74) MERKEL oder SCHOLZ‘ HOFFNUNG AUF WIEDERWAHL

DICHTER: Gib meine Jugend mir zurück! (V.197) CDU/CSU, CSU,

DIREKTOR: So schreitet in dem engen Bretterhaus  / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, / Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle/ Vom Himmel durch die Welt zur Hölle (V.240-244). LINDNER, LINKE; LASCHET:::LLL

Die Passagen aus dem Faust sind eine Sondierung mit dem eigenen Unterfangen (ich habs aus einem Didaktikblog genommen, einfach so: https://bobblume.de/2019/03/14/unterricht-faust-i-vorspiel-auf-dem-theater-v-33-242/

+

Zu sondieren, ob man überhaupt mit verhandeln kann und wenn ja, worüber, ist alltäglich und selbstverständlich. Aber das WIE? Bestimmt schon den Hintergrund. Nur nicht Kellner werden, immer mitkochen … das ist ja gut so. Der Menge allerdings behagt es, auch einmal mehr als die Vorspeise serviert zu bekommen.

Kurt Kister in der SZ (Deutscher Alltag, 5.10.21) macht das noch viel deutlicher. Und die Abendergebnisse der Gründschwarzen Erstsondierung dann noch mehr. Man braucht eine Magensonde. (aber nicht wegen dessen, was besprochen wurde, sondern dessen, was BILD durchgestochen erhält und was daraus in der Glaskugel gemacht wird).

*

In diesen Tagen überbauen das föderale Herumgehampel mit Corona und die Pandora-Vermutungen die wichtigen Aspekte der Politik. Niemand regt sich wirklich darüber auf, dass in Afghanistan hunderte, vielleicht tausende Ortskräfte von der Bundesregierung in Lebensgefahr geschickt wurden und noch immer bürokratisch bedroht werden – das Thema wird mit der blöden Ansetzung der so genannten Afghanistan Evaluierung durch AKK noch nicht einmal öffentlich verknüpft. Eine abtretende Regierung verwischt die Spuren ihrer welt- und innenpolitischen Schwachstellen und tut so, als wäre Deutschland in jeder beliebigen Konstellation ein mächtiger Spieler in der ersten globalen Reihe. Die ehemaligen Volksparteien haben bundesweit nicht mehr Prozente als die Nazis von der AfD in manchen Bundesländern, aber keine Spur von Überdenken der eigenen Position als Altparteien der Älteren. Die Jungen sind wo anders und werden von anderen (FDP, Grüne) abgeholt – aber nicht, um nur zu Kellnern.

Im Sondieren wird man, so ist zu hoffen, auch die eine oder andere Wahrheit jenseits der Statistik entdecken. Dann wäre am besten Schluss mit der Vertraulichkeit, dann muss die Menge daran teilhaben.

*

Die Grünen haben Recht. ALLES, ausnahmslos ALLES muss sich unter dem Fokus der Klimapolitik anordnen, auch wenn es die unterschiedlichsten Bereiche der Politik sind. Die Zusammenhänge herzustellen, kann bei den Sondierungen schon besprochen werden, das Aushandeln wird schwierig, aber – um Merkel zu zitieren, es ist alternativlos.

Anlass und Ergebnis: Paris

Ein Reisebericht

Paris: 60 Stunden, Anlass und Ergebnis

1.

Der deutsche ICE beschleunigt nach dem Grenzübertritt auf 320 km/h, was man sich im eigenen Land nicht zutraut. (Auf der Rückfahrt ist die Verlangsamung kurz vor Saarbrücken besonders auffällig). Ansonsten habe ich an der Fahrt im vollbesetzten Zug fast nichts auszusetzen, was meinen Freund Tom verwundert, weil ich Pofalla für den Schreckens des deutschen Verkehrs halte…

La douce France, kaum Dörfer, endlose Landwirtschaft, kaum Wälder. Man kann auch von hier die EU-Agrarpolitik bereden. Irgendwann beginnen die Vorstädte von Paris, es ist der Eintritt in eine andere Welt. Keine Phrase, denn: schlagartig sind die Erinnerungen an die 1970er, 80er Jahre wieder da, als ich oft, meist beruflich in Paris war, aber auch das Umland kennengelernt hatte, und die schattigeren Seiten dieser Stadt. Davon jetzt nichts, nur wenig ist sichtbar.

II.

Warum jetzt nach Paris? Wie viele andere wollten wir den verhüllten Arc de Triomphe sehen. Und wir wollten die Sammlung Morozow sehen, die im Museum der Stiftung Louis Vuitton gezeigt wird. Vorab: das zweite Erlebnis übertrifft für mich den ersten Anlass bei weitem, das war nicht zu erwarten gewesen, aber gut so.

Wir kommen kurz nach 18 Uhr an der Gare de l’Est an, es ist noch hell, wir gehen ein paar Kilometer zu unserem Quartier, man durchquert einige soziale Zonen im weißeren Teil von Paris, aber auch hier unvergleichlich mehr Nichtweiße und eine uns weniger bekannte Normalität. Für mich ein sehr gutes Gefühl des raschen Wiedererkennens bestimmter urbaner Perspektiven, die nicht benannt werden müssen, um zu wirken. Das Gelände steigt zur Place Pigalle an, von dort keine hundert Meter steil den Montmartre hinauf in der rue Houdon zu unserem Hotel. „Luxelthe“, Billig, sehr sauber, sehr einfach, mehr braucht man ja nicht, ruhig, vom Treiben auf der „sündigen“ Meile ist so wenig zu hören wie vom Balkon zu sehen. Nicht nur Covid hat das früher hektische Viertel beruhigt, wie wir spät abends merken, als wir von der ersten Inspektion des verhüllt Arc de Triomphe zurückkehren. Dahin fahren wir gleich nach Ankunft mit der U Bahn (2), nicht sehr weit, und schauen uns die Verhüllung bei Nacht an. Seltsam klein kommt einem das Monument am Rand der Schüssel – links gehen die Champs Elysées bergab, rechts geht’s runter zur Defense, steht schon gut in der Perspektive, aber eben, verglichen mit dem verpackten Reichstag, klein…Wir werden kontrolliert, wie überhaupt die Covidkontrollen recht dicht und die Menschen diszipliniert sind, fast überall…Ja, also Christo hat das gut gemacht, aber es dringt nicht ein. Dann wandern wir erst die Champs hinunter, so richtig exklusiv wird’s erst in den Nebenstraßen, die wir allmählich in unsere Richtung gehen, es dauert schon eine Stunde, rue de Rome, St Lazare, bvd. Clichy. Rund um die Place Pigalle hat kurz vor Mitternacht schon vieles geschlossen, Auch die zweite Vorstellung des Moulin Rouge ist vorbei. Aber man kann gut draußen sitzen und die Buntheit genießen.

III.

Die Stadt erwacht zwar früh, aber unsere Schicht gehört schon zur zweiten Schicht. Das klar definierte Frühstück, erstmal Sonne, und bergab geht’s in die teuren Viertel, ziemlich gerade zur Concorde und zur Oper. Mich freut es immer, wenn es kleine Geschäft in große Zahl gibt, erinnert eher an Wien als an Berlin, und mich wundert die rasante Fahrt der vielen e-Bikes, Vorsicht. Wir müssen im Louvre kaum anstehen, Wir konzentrieren uns auf die griechischen Skulpturen, v.a. die Nike von Samothrake, und die italienische Malerei, weiter Bogen um die Mona Lisa, da staut es sich. Caravaggio, Cellini. Der Endlosigkeit dieses Schlosses und seiner Sammlungen muss man sich entgegenstellen, nach zwei Stunden wieder raus, man geht da durch eine integrierte Einkaufspassage zur Pyramide zurück. Jetzt den Arc de Triomphe bei Tageslicht, gefällt mir besser, verführt aber nicht zu weiteren Interpretationen. Wir bekommen mehrere Quadrate des Verpackungsstoffes geschenkt, sehr massives Plastikgewebe. Weiter Richtung Defense, an der rue d’Orleans essen wir einen Snack und im anströmenden Regen geht es zum Bois de Boulogne, zur Avenue Ghandi, wo die Stiftung Louis Vuitton ihr neues Museum hat. Man kommt an einer Art Wurstelprater für Kinder vorbei und geht am Rand des Bois einen guten Kilometer. Die Karten sind bestellt, man steht eingeteilt in der Schlange und wird mit einem Schirm bedacht (die meisten Pariser haben ihren dabei), es schüttet. Pünktlich kommen wir hinein…Bevor ich das großartige Gebäude von Frank Gehry beschreibe, eine ideale Hülle für die Ausstellung, zu den „Icones de l’art moderne“, wie die Collection Morozow betitelt ist. https://www.fondationlouisvuitton.fr/en/programme : 8, Avenue du Mahatma Gandhi Bois de Boulogne, 75116 Paris,

Wenn man nach mehreren Stunden rausgeht, muss man wohl den 4 kg schweren Katalog mitnehmen…Die meisten der Bilder hat man nie gesehen, oder nur in Kunstbüchern. Es ist die Sammlung der beiden Brüder Ivan und Michael Morozow, (beide geboren 1870 bzw. 1871 und gestorben 1903 bzw. 1921); wirklich gesammelt und in ihren privaten Häusern präsentiert, die Revolution überstanden, heute verteilt auf die Museen Tretjakov, Eremitage und Puschkin. Bestens beschildert und kommentiert. So, das ist der Rahmen. Es war nicht überüberfüllt, man konnte alles in Ruhe anschauen. Und sollte es.

Was heißt schon „Impressionisten“. Einen besonderen Platz hat Pierre Bonnard, der auch einzelnen Räume gestaltet hatte. Monet, Sisley, Cezanne, ein paar Picassos, Matisse, Corot, Pissaro, Degas, Renoir … was so außergewöhnlich ist: die fast durchgängig besondere Qualität, man kann auch über der den Geschmack der beiden reichen Brüder nachdenken, die durchaus mit der Sammlung auch der Zeit etwas vorausgeeilt waren. Und ihre französischen Bilder und Skulpturen mit den zeitgenössischen russischen konfrontiert haben, die meistens nicht so gut waren, bis auf Ausnahmen, aber auch interessant im Kontrast. So, hier keine Kunstgeschichte, ich weiß nur als ersten Eindruck, dass mich die Bilder den ganzen Abend und die halbe Nacht nicht verlassen haben. Und – was ich nicht immer mache – den Katalog werde ich genauer studieren. Da kann man sich auch auseinandersetzen, was „sammeln“ und präsentieren bedeutet, und wie Stalin und die frühe SU damit umgegangen ist (Die „westliche“ Kunst…) und wie sich das alles erhalten hat:

Bei Gallimard, ISBN9782072904585, englisch oder französisch.

Das Gebäude der Stiftung hat durchaus rechteckige und quadratische Räume in einem sechsstöckigen Innenraum, der aber von einem Gespinst aus filigranen Stahl- und Holzkonstruktionen überbaut wurde, mit Gewicht und Gegengewicht, ein breiter stufenförmiger Wasserfall führt ins Gebäude hinein und man steigt von der Ausstellung im Souterrain systematisch nach oben, bis man im Freien steht und in die Konstruktion und die Umgebung schauen kann, selbst bei Regen schön.

https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Frank+Gehry+Louis+Vuitton , https://www.bauwelt.de/themen/bauten/Die-Konstruktion-der-Foundation-Louis-Vuitton-Frank-Gehry-Paris-2445253.html

Es lohnt, sich die Details und auch die Kritik des 2006 geplanten Gebäudes anzuschauen. Also, das war schon einmal ein guter Tag. Und die Tour ist durchaus weiter zu empfehlen, Bis zum Januar ist die Ausstellung zu besichtigen.

Naja, jedenfalls war das eine verdiente Müdigkeit, und der Regen hat auch aufgehört.

Das war die Reise mehrfach Wert. Regennass um die Ecke eingekehrt (Auffallend, wie stark das Bier den Wein zu Tisch verdrängt hat…), gutes Essen, aber ein wenig marginal unter der Wirkung der Ausstellung.

IV.

Am nächsten Tag steigen wir direkt von unserem Hotel den Berg hinauf, mit jedem Schritt mehr ins überlieferte Touristenmilieu von Montmartre und Sacré Coeur, man kann dem leicht entkommen. Es gibt eingesprengte kleine Parks, die Kirche St. Jean ist 1904 ein Unikat – das an die Kirche am Hohenzollerndamm in Berlin erinnert und nicht wegen der Schönheit, sondern wegen der Undefinierbarkeit interessiert. Natürlich teuerste Geschäfte, Gentrifizierung und Widerstand nebeneinander, viele Menschen schlafen auch hier auf der Straße und an den Stiegen, ein Zelt mit herumgeordneten Ausstellungsstücken gemahnt an Vernon Subutex (Und ich kenne von früheren Besuchen die Hinterseite nach Norden mit allen sozialen Problemen). Der Ausblick ist bestens, in die Kirche geht man besser nicht, und die vielen Hinweisschilder auf die öffentliche Toilette sind ein Irrtum: das schöne Häuschen ist geschlossen. Kaum ist man den Hauptwegen entkommen, noch immer sehr schön. Wir wandern weiter nasch Süden, die rue des Pyramides hat soviele gute Schokolade- und Käsegeschäfte, soviele Fleischereien, man möchte den ganzen Tag hier einkaufen, und wäre. Wir laufen den ganzen Weg, teilweise die rue Lafayette entlang, und vor dem Bahnhof genießen wir ein Kunstrasengärtlein – der ICE rast aus der Stadt, als hätte er eilig uns zuhause zu deponieren.