Finis terrae XXI: Ultra tumbam

Bruno Latour hat im Augenblick viel Aufmerksamkeit. Sein neuestes Buch verdient diese Wahrnehmung auch, weil es eine Art Kippfigur zur Geschichte der Zukunft darstellt, wie sie Harari versucht. Die beiden nehmen sich nicht viel weg, aber ergänzen sich.

Darüber konnte man sich schlau machen:

Lesart | Beitrag vom 26.07.2018 von Andrea Rödig (DLF Kultur)

Die Menschheit hat den Boden unter den Füßen verloren

Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Berlin, Suhrkamp Verlag 2018

Mich interessiert dabei ein besonderer Aspekt: wie geht die Welt „lokal“ unter. Dass das Ende der menschlichen Zivilisation nicht das Ende der Welt, sondern unserer Welt ist – geschenkt. Dass sich dies lokal überall zeigen wird – wahrscheinlich. Dass der Klimawandel keine „letzten Ufer“ und Reservate aussparen wird – sicher. Was also hat der Widerstandsbegriff des Lokalen gegen die alternativlose Globalisierung zu bedeuten? Nun hat Latour in den letzten Jahren viel Kritik für seine unpräzisen, „redseligen“ Alternativen eingefangen, und so finde ich es eher anregend, dass er weniger deutlich, als ich selbst schon war, vieles anspricht. Dass sich die Herrschenden von der Wirklichkeit verabschiedet haben, ist da ein noch recht deutlicher Gedanke, denn das Gefühl – kein empirisches Faktum – des Zurückgelassenseins lockert viele moralischen Bindungen und politisch Fahrpläne.

Nichts an dem ist neu. Nichts an dem bedarf der Archäologie. So hatte ich mein Finis terrae begonnen, und so geht es weiter, aber immer in dem Bewusstsein, dass wir die „Time of useful consciousness“ nutzen können, dass es keinen Imperativ der Hinnahme gibt, weil man eh nichts ändern kann. Wenn man erwartbar belohnt wird, wie der strampelnde Forsch in der rahmigen Milch, dann ist Aktivität keine  Kunst.

*

Es ist nicht ungefährlich, das heiße Sommerwetter dem Klimawandel allein zuzuschreiben, obwohl es richtig ist. Sofort kommen die Leugner und machen sich darüber lustig, dass auch kluge Menschen Wetter und Klima verwechseln. Es gibt ein allzu bereites Einknicken vor scheinbar unabänderlichen Fakten der Umgebung, und dabei schwingt die heimliche Hoffnung mit, dass wir – unser Organismus, unsere lebenserhaltenden Gewohnheiten usw. – und schon IRGENDWIE arrangieren werden. Das ist natürlich Unsinn. Gerade wenn die Evolution sich so gewaltsam schnell eingebremst hat und sich überholen lässt von vielem, das sie offenkundig nicht einholen kann – finis terrae – dann wäre ja die Adaption an das Ende eine Art globaler Sepulchralkultur (Begräbnisrituale der Lemminge). Dann blieben noch immer zwei Klassen: diejenigen, die sich verabschiedet haben von der tätigen Gestaltung einer gerade noch möglichen Zukunft, und hingegeben an die Ausgestaltung der Aufbahrungshalle; und wir, die Mehrheit, denen die Zeit bis zum Verlust des Bewusstseins zu kurz wird, soviel haben wir noch zu erledigen –  aber in dieser hektischen Betriebsamkeit verliert sich der Begriff des Überlebens. Wir lernen ein wenig die verlorene Welt auswendig, so wie wir unsern Enkeln erzählen, dass wir noch Massen von Schmetterlingen gesehen hatten und jetzt gibt es nur mehr vage Erinnerungen. Die verlorene Welt, das ist auch die Welt, die in der Kunst sich etwas aus der Chronologie ausgeklinkt hatte, der wir immer schneller unterworfen sind. Die Nostalgiker haben es da leichter, die meinen zu wissen, wem und was sie da nachtrauern, aber trauern ist keine gute Grundnahrung für das Stadium des Absturzes.

Weil ich ja kein Philosoph bin, sondern nur am Rande davon befasst bin, wie genau und vielfältig die besseren Philosophen die globale Talfahrt analysieren und sich dabei vielleicht das Recht der letzten Kritiker erhoffen, weil ich also keiner von denen bin, frage ich mich bisweilen, ob ich nicht doch zur ersten Gruppe gehöre, nur besonders sensibel den Hedonismus des letzten Diners auf der Titanic verberge…Die Grübelei, wozu man noch länger wirksame Testamente schreibt…oder sich vorstellt, wie viele Fehler meine Enkelinnen vermeiden werden müssen… das Hinausdenken „ultra tumbam“ ist eine seltsame Übung, die wir den Jenseitsgläubigen voraus haben. Die Immanenz hat den Vorteil, dass wir in eine Zukunft Welt denken, die nicht mehr von uns beobachtet werden kann, darum kann man drauf auch nicht wetten. (Übrigens ist das Lateinische präziser, weil es schwierig ist auf Deutsch auszudrücken, wie man sich jenseits des Grabes die Zustände ausdenkt, die man dort erfahren würde, aber das ist die poetische Spielerei, ohne die selbst ein Blog fade würde).

*

Wenn die Flüchtlinge es geschafft haben, das Mittelmeer zu überwinden, wenn sie endlich bei uns angelandet sind, dann haben sie so ein „ultra tumbam“-Erlebnis. Nein, sie sind nicht an der Folter gestorben, sie sind nicht verhungert, sie sind nicht wahnsinnig geworden, weil sie die Menschen neben sich ertrinken gesehen haben. Dass sie von BAMF und Seehofer und Hermann verhört werden, was solls? Dass sie nicht weiterleben sollen, sondern zurück in die Hölle ihrer Herkunft, das ist eine Drohung, die sich wie ein Kabarett eines umgekehrten Orpheus-Mythos ausnimmt: in die Unterwelt zurückkehren, nicht um ihre Angehörigen zu retten, sondern um selbst dort zu verrecken.

Vorteil: sie erleben dann, abgeschoben und wieder am Tode, nicht mit, wie die Folgendes Klimawandels sie zur Flucht veranlasst hätten, und ewig würden sie an den Türen der gemäßigten Klimaten in den reichen Ländern stehen, und die Zeit zwischen Ankunft und Deportation vielleicht besser, oder schlechter, verbringen, der virtuelle Tod ist immer noch besser als der reale.

*

Es sind ja nicht alle so böse oder so blöde wie die Deportationsfraktion der deutschen Politik. Aber sie sollten sich einmal alle, nicht nur die deutschen Christen, auch die Gewerkschaftler, Arbeitsplatzfetischisten, Sozialneidexperten und Eigentumsfanatiker, alle sollten sie sich die Geschichte(n) der Klimaflüchtlinge anhören, ansehen. Immer wieder. Dann werden sie verstehen, dass ihre Festungspolitik bestenfalls die Umrandung des ausgehobenen Grabes ist, lokal und ganz konkret.

 

Schutz für/vor Polizei

DLF Das Feature Täter in Uniform 24.07.2018 BITTE LEST DAS ZUERST: https://www.deutschlandfunk.de/polizeigewalt-in-deutschland-taeter-in-uniform.1247.de.html?dram:article_id=420459

„Polizeigewalt in Deutschland Täter in Uniform Von Marie von Kuck Wenn Polizisten in Deutschland Straftaten begehen, werden sie nur sehr selten zur Verantwortung gezogen – begünstigt durch ein System, in dem Gewalt von Polizisten nicht unabhängig untersucht wird. Dafür landen nicht selten die Opfer auf der Anklagebank“.

 

*

 

Wenn man dieses Feature hört, wird man aufgerüttelt, weil es ja nichts neues ist, das man erfährt, aber konsequent, gut recherchiert und vor allem: institutionell. Das sind nicht einfach Ausreißer, die schwarzen Schafe und der Bodensatz, den alle Sicherheitsorgane der Welt haben. Wir sind eines der wenigen Länder, in denen Straftaten der Polizei von der Polizei untersucht werden. Und diese Straftaten haben System, sie sind gegen Ausländer, gegen Aliens und Strangers und Foreigners gerichtet, und sie werden nicht nur von den eigenen Kameraden gedeckt – weil die sonst selbst gemobbt und gewalttätig unterdrückt werden; sie werden von den Gerichten begünstigt, die halt einem Polizisten mehr glauben als einem Menschen.

Nein, ich pauschaliere nicht, ich schätze auch nicht, ob es fünf oder zehn oder nur zwei Prozent sind, die so aus dem Rahmen fallen. Was an dem Bericht so erschreckend ist, erinnert an NSU: da wurden zunächst auch die Opfer der grausamen Straftaten verdächtigt. Und bei Polizeigewalt ist das Routine, dass die Opfer die Polizei angegriffen haben, schwer zu bändigen waren und nur mit angemessener Gewalt diszipliniert werden konnten.

 

Man besorgt sich im Bundestag, dass die Polizisten – wie auch Rettung, Feuerwehr und Hilfsdienste – immer häufiger angegriffen werden, dass man die alle schützen müsse. Richtig:

Alle die Genannten müssen geschützt werden; aber die Polizei ist ja Element des Gewaltmonopols des Staates, die muss man anders schützen, auch vor sich selbst.

Wir hab’n den Tierschutzverein, wir hab’n den Kinderschutz,
wir hab’n den Rentnerschutzverein, und der ist gar nichts nutz.
Wir haben außerdem den Mutterfreudenschutzverband
und einen Schutzverband fürs teure Vaterland.
Wir hab’n den Denkmalschutz, wir haben auch den Jugendschutz,
und einen Schutzverband, der schützen soll vor Schund und Schmutz.
Doch es gibt etwas, was man überhaupt nicht schützt.
Ich möchte hoffen, daß man mich da unterstützt:
Schützen wir die Polizei
vor Verdruß und Schererei!
Wenn ein Räuber überrascht wird und das Weglaufen vergißt,
ja, wer schützt den Polizist? Ja, wer schützt den Polizist?
Oder sag’n wir: Ein Student
geht spaziern vorm Parlament.
Ja, was denkt sich der dabei?
Schützen wir die Polizei!…Schützen wir die Polizei!
Sie wär längst schon an der Reih‘.
Manchmal läßt sie sich bestechen, und ich weiß ja, das ist trist,
doch wer schützt den Polizist? Ja, wer schützt den Polizist?
Und wer schützt ihn vor dem Schmerz,
wenn er pfeift und keiner hört’s?
Oh, wir schützen jedes Tier, schützen Steuerhinterzieh’r,
schützen Volksdemokratien, schützen Schützenkompanien.
Jeden Tag sind wir beim Schützen frisch dabei,
schützet auch die Polizei!

(Georg Kreisler, https://www.golyr.de/georg-kreisler/songtext-schuetzen-wir-1783538.html)[1].

Das klang damals noch harmlos, und war natürlich nicht so gemeint.

Der Rechtsstaat – zur Zeit vom Innenminister, der AfD, der CSU und anderen verunglimpft, lebt auch vom Respekt vor der legitimen Autorität. Wie soll man vor den Polizeirowdys im Vorfeld von G20 Respekt haben, wie vor einem Gericht, das einer Kameradschaft der Polizei alles, einem zu Unrecht Beschuldigten nichts glaubt? Wir brauchen Standhaftigkeit und eine gewisse Zivilcourage, denn wenn sie einen einmal in der Mangel haben, kann man sich schlecht wehren, und wer sich wehrt, dem kann Übles geschehen, … Mit Polizisten sprechen lernen, wäre ein Erziehungsziel, das aber auch eine anständige Ausbildung der Polizisten voraussetzt. Schon viele Polizistinnen haben es schwer, und die können noch weniger drüber sprechen als viele ihrer anständigen männlichen Kollegen.

Und wie machen wir das, aus Respekt vor dem Rechtsstaat keinen vorausgesetzten Respekt vor der Polizei und den „Diensten“ zu haben? Alles auch eine Frage der Öffentlichkeit und keineswegs eine des blinden, symmetrischen Zurückschlagens, nur weil einem ein Polizist schräg kommt. Wenn man einen Polizisten anzeigt, wegen Körperverletzung, Beleidigung oder anderen Straftaten, wird man leicht selbst Beschuldigter, wegen Verunglimpfung der Polizei, gar ihres sozialen Umfelds und ihrer Familien (!). Darauf kann jeder gefasst sein, der einem Polizisten Widerworte gibt oder gar Recht hat in einer Auseinandersetzung. Mehr Rückgrat ist da den Gerichten zu wünschen und mehr Schutz für die Whistleblower. Die so genannte Kameradschaft, mit der sich die Straftäter in der Polizei selbst schützen, kann aufgebrochen werden – mit genau den Mitteln, die wir von der Polizei erwarten.

[1] Kreisler hören lohnt sich: Diskographie und Werkverzeichnis: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Kreisler (26.7.2018). Als ich ihn zuletzt in Salzburg gehört habe, wurde mir etwas anders: in den 60er und 70er Jahren gehörte er zu meinen wichtigsten Anregern, und jetzt war er bald 90, und bissig wie eh und je.

Staatsbürger

Chance vertan. AfD und alle Türkenfeinde und alle Gesinnungsethiker und alle 82 Millionen Nationaltrainer triumphieren. Politisch, d.h. auch geistig beschränkte Sportfunktionäre geben ein widerliches Bild von Nichtbegreifen ab. Nein, mir geht es nicht um Herrn Özil, politisch unverantwortlicher Millionär, niemals ein Vorbild für Integration, perfekte Zielscheibe für nationalistische Kurzbeschimpfungen.

Erster Rat, nach den unsäglichen Idiotismen der letzten Tage: hört euch mehrfach das Gespräch mit Ahmed Mansour aus dem DLF von heute Morgen (24.7.2018) an.

Zweiter Rat, wer sich äußert, was ja erlaubt ist – hier in Deutschland, nicht in der Türkei oder Russland oder … – soll dazu sagen, warum er oder sie sich meint äußern zu müssen.

Ich befolge meinen zweiten Rat.

*

Ich bin seit Jahrzehnten Doppelstaatsbürger. Deutscher und Österreicher. Was bedeutet das? Innerhalb der EU wenig; man kann sich immer über eines seiner Länder mehr aufregen als über ein anderes. Ich hätte noch andere Staatsbürgerschaften haben können, was aber mit Problemen verbunden gewesen wäre, also davon nichts. Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft angestrebt, weil ich hauptsächlich hier arbeite und die meiste Zeit seit 1974 in diesem Land, und nicht mehr in Österreich lebe. Damit habe ich mir auch die Tür für bestimmte politische Ämter geöffnet, die ich dann nicht wirklich angestrebt und nie erhalten hatte. In meiner Familie habe ich alle möglichen Mischungen der D/Ö Staatsbürgerschaft, bislang niemals mit komplexen Folgen.

Staatsbürgerschaft war einmal enorm wichtig.   Wenn man die Geschichte des #Nansenpasses 1922, der von der #UN Konvention 1953 abgelöst wurde, verfolgt, wird deutlich: Staatsbürgerschaft wird als Rechtsgut, als Schutz verstanden. Das hat weniger mit dem alten Begriff der #Nationalität zu tun, auch nur vermittelt mit der Nation, denen der Staat eine rechtliche Hülle gibt, sondern ist eine formalisierte Antwort auf die Frage: wohin gehörst du? „Belonging to“ ist ein Kennwort der heutigen Diskurse, auch der Grenzdiskurse. Da kommt man mit der beschworenen Heimat als Herkunft nicht weit (übrigens auch nicht mit dem familiaren Kitsch von der Mama, den Özil verbreitet).

Mit Geld hat das auch zu tun, abgesehen vom Handel mit Staatsbürgerschaften, weil ein wohlhabender Staatsbürger weniger Integrationsdruck erleidet als ein normaler.

Welche Folgen hat Staatsbürgerschaft? U.a. die Pflicht sich dem Rechtssystem des Landes, dessen Bürger*in man ist zu unterwerfen. Auch wenn man das nicht gerne tut. Da gibt es aber eine Ausnahme: wenn man Staatsbürger eines Landes ist, das nicht immer schon eine Diktatur war, sondern eine geworden ist, dann muss man das nicht, ganz und gar nicht.

Frau Gersdorf, die oberste Richterin Polens, gibt ja auch nicht ihre Staatsbürgerschaft ab, wenn sie sich ihrer Absetzung widersetzt, widerständig bleibt. Man darf auch türkischer Staatsbürger sein und den Diktator Erdögan und seine Unterwerfung des türkischen Volkes ablehnen, kritisieren oder gar gegen sie agieren. Und man darf deutscher Staatsbürger sein und Deportationsminister Seehofer und seine Politik ablehnen und kritisieren. Unterschied: hier ist  ein zu verteidigender Rechtsstaat, in der Türkei ist das „Amt des Präsidenten“ gerade geschaffen worden, um den Rechtsstaat zu verhindern.

DAS ALLES HAT MIT INTEGRATION NICHTS ZU TUN.

Aber mit der Türkenfeindlichkeit der deutschen Rechten, nicht nur der AfD; aber mit der Unsicherheit, wo die Toleranz weitergeht und wo die Kritik sein muss. Özil hat ausgesorgt. Millionen Türken in Deutschland, Doppel- oder Einfachstaatsbürger nicht. Und dieser DFB gehört entsorgt, am besten in die Kreisliga mit Bewährungsaufstieg.

*

Mein Thema ist aber die Staatsbürgerschaft angesichts der überholten nationalstaatlichen Rückfälle in Politik und Kultur. Die Österreicher, an deren Regierung Nazis in wichtigen Positionen beteiligt sind, wollen für Südtiroler*innen eine Doppelstaatsbürgerschaft erzwingen, was im faschistisch regierten Italien nicht auf Freude stößt. Man kann nur hoffen, dass dieser Blödsinn vor den europäischen Gerichten und in Brüssel gar nicht erst ernst genommen wird. Aber wenn, dann hängt Staatsbürgerschaft an einer historisch-ethnischen Konstruktion „österreichischer Tiroler“, die vielleicht noch eher Tiroler sind als die Nazis, deren Herkunftsnamen Gottseidank in wenigen Fällen deutsche Herkunft verraten, sondern an die Multinationalität alter politischer Gebilde erinnern, in denen es von Herkünften sprachlicher und kultureller Vielfalt nur so wimmelte. Und was bringt das Dokument? Identität – dass ich nicht lache. Selbst der Landeshauptmann hieß einmal Magnano, wenigsten Silvius und nicht Silvio. (Auch Wiki weiß das besser:

Das Geburtshaus Silvius Magnagos in der Galileo-Galilei-Straße 50 in Meran.

Gedenktafel für Silvius Magnago an seinem Geburtshaus.

Magnago entstammte einer zweisprachigen Familie. Sein Vater Silvius Magnago sen., k.k. Oberlandesgerichtsrat in Meran, war ethnischer Italiener aus Trient, seine Mutter Helene, geborene Redler (sie war Schwester des Landeshauptmanns Ferdinand Redler[1]), stammte aus Vorarlberg.[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Silvius_Magnago

Die lupenreine rassenreine Politik der Wiener Marionettenregierung (Handpuppen der schwarzbraunen Vergangenheit, aber noch nicht so entwickelt), wäre komisch. Was also soll das, Identität schaffen? Das Beispiel zeigt ganz gut, dass Identität ein Begriff ist, der in die Psychologie passt, aber in der politischen und soziologischen Wissenschaft vor allem im Singular ganz gefährlich ist.

Oder wird hier ein Österreichertum geschmiedet? Das wäre angesichts der Geschichte des Landes seit 1918 besonders komisch. Dann passen wir vielleicht besser nach Vishegrad als nach Brüssel, nur gibt’s halt in Wien und anderen zivilisierten Orten noch Opposition.

Kultur: fragt kürzlich eine amerikanische Professorin: welche Sprache spricht man in Austria? Keine Ironie, Wissbegierde. Leiber Leser*innen:  welche Sprachen spricht man in Wien und in Bozen? Ironie, keine Wissbegierde.

Misstrauen und Verrat: Hochbegabung

  1. Die Hochbegabten

Zunehmend treffen wir auf Eltern, nicht nur Helikoptereltern, die einem ihrer Kinder Hochbegabung plus Asperger zusprechen, zugleich die Nachteile eines beherrschbaren Autismus freimütig bekennen und damit auch die seltsamen Lern- und Kommunikationskurven des Nachwuchses erklären. Asperger war ein katholischer Eugeniker und Nazi-affiner Arzt in Wien, der fälschlich dem Widerstand zugezählt wurde, wie viele Wiener Nazis, und einer Form des Autismus seinen Namen gegeben hatte, die erst heute in einem weitergefassten Syndrom aufgehoben und erklärt wird. Asperger aber ist im Volksmund der Halbgebildeten weithin bekannt. (Vgl. Lisa Appignanesi: Dr. Death, NYRB 91.7.2018).

Man kann sich nun medizinisch, psychologisch und psychiatrisch über Autismus unterhalten, und das ist nicht nur ernst, sondern verträgt auch wenig Ironie, wenn man die Betroffenen erlebt, aber es verträgt auch keine Dramatisierung: die haben ja auch die Chance gelingender Lebensläufe. Man kann sich auch die Ausbeutung der Syndrome anschauen, etwa bei Geheimdienstoperationen und Decodierungen bestimmter Militärgruppen. Ich habe mich an den Hochbegabten abgearbeitet (in meinem Paläozoikum hatte ich ja Pädagogik studiert, vergeblich und leider nicht umsonst, und aus meiner langen Bildungspolitik-Phase ist mi-r die Hochbegabung so widerwärtig geworden wie die These, dass alle gleich gescheit, fähig und deshalb auch überall einsetzbar sind, man muss sie nur fördern – beide Extreme sind bei Kafka, im Bericht für eine Akademie bestens vereint.

Ich habe Asperger als Ansatzpunkt gewählt, weil uns die Vergangenheit nicht loslässt, und wäre sie vollständig transparent, würden wir noch immer Mythen um sie stricken, um uns den einen oder die andere herauszupicken und zur Leitperson zu erklären. Das müssen nicht immer die Nazis sein, sie sind es aber in unserer deutsch-österreichischen Geschichte häufiger als ehemalige Peronisten oder Fidelisten und Maoisten. Abgesehen, dass mir Asperger als Ordensspange für Hochbegabte auf die Nerven geht, wird er politisch korrekt ohnedies bald aus der Sprache verschwinden, aber nicht aus dem Begriffssystem selbst.

Was heißt hochbegabt? Dass es Minderbegabte gibt. Und durchschnittlich Begabte. Wozu begabt? Evolution sagt: zum Leben, zum Überleben vielleicht. Begabung kann sich auf bestimmte Fertigkeiten, Kenntnisse, Lernverfahren, Kompetenzen beziehen – ein weites Feld, das gesellschaftlich aber verengt wird auf die beiden Pole Aufstieg/Anerkennung oder Leistung. Das Ärgerliche ist nicht, dass es hier Segmente gibt, in denen solches zu trifft, sondern dass damit etwas impliziert wird, was man so niemals zugeben wird, was aber im Subtext gemeint ist: höher begabt = lebenswerter. Hier wird ein Urteil gefällt, wonach die Hochbegabten besser in das Zielschema Leben passen. Und die andern sind halt weniger wert. Sagt niemand, aber mitgedacht ist es, vor allem, wenn gewarnt wird, dass Hochbegabte zu wenig gefördert würden…

  1. Göttliches Paradox

Je höher begabt, desto näher an Gott. Ihr werdet sein wie Gott…mit einer besonderen Gabe: „5…sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (Gen. 3, 1-24). Hochbegabt ist, wer gut und böse besser oder schneller erkennen kann; und warum ist so ein Mensch näher an Gott? Nicht weil es in der Bibel steht, sondern dort steht es, weil ja die Gabe der Götter (und später eines Gottes ist), gut und böse bei anderen zu definieren, zu richten, zu sanktionieren. Lebenswert ist es so zu leben, dass man die Verheißung der Schlange einlöst, und die Erkenntnis durchlebt, der Gott des Buchs nimmt sie ja nicht zurück. Dieses „Lebenswert“ verfolgt uns, auch nicht erst seit Asperger. Weniger lebenswert ist wer weniger begabt zu leben ist. Vielleicht haben Autisten gerade besondere Fähigkeiten, in ihrem Ordnungssystem das am besten zu bewältigen, was zum Überleben in einem gegebenen Augenblick nötig ist. Aber wenn hier jemand urteilt, ein Mensch, ein Kind, sollte nicht leben, weil es nicht leben kann, dann kommt dieses Wort „lebensunwert“ ganz schnell an die Oberfläche, und nicht nur damals war die Eugenik damit schnell bei der Hand. Heute aber plant man die genetische Programmierung von Hochbegabung. Und nicht nur die Früherkennung von genetischen Defekten wird dazu benutzt.

Der schon mehrfach zitierte Yuval Noah Harari („Homo Deus“) hat sich hier sehr glaubenskritisch und religionsskeptisch geäußert, in der Menschheitsgeschichte gut beschlagen und mit der wichtigen These, dass wir immer stärker darauf dringen, wie Gott zu werden (wobei die Religionswissenschaftler zwischen (einem) Gott/einer Gottheit und dem Einen (Gott der Herr) unterscheiden, hier aber egal: wir können gut und böse unterscheiden, also sind wir Gott. Nicht gleich Verrat!  schreien, oder Blasphemie! Oder Blödsinn. In einem Punkt hat er einen starken Auftritt (Harari, nicht Gott): weil wir alles an Natur und Welt uns untertan gemacht haben, bleibt uns ja gar nichts andres übrig. Nur. Weil wir nur mehr untereinander kommunizieren, können wir auch nur mehr uns am besseren oder schlechteren Leben führen, unterdrücken, Gewalt anwenden oder mehr Glück produzieren. Wenn wir das an die gentechnisch programmierte Hochbegabung binden und die weniger Begabten gleich nicht auf die Welt kommen lassen, dann sind wir endlich bei meinem Namen: Mi Ka El. (Mi kamocha elohim bedeutet „wer“ (mi) „ist wie du“ (ka(mocha)), „Gott“ (El(ohim)). Wir alle – begabt zum guten Leben.

(Entschuldigt den höheren Ton der letzten Zeilen, der muss einfach bei diesem Kontext sein. Ich meine schon, dass wir aufpassen müssen, uns nicht nur über die Ungleichheit der Begabungsideologien aufzuregen, sondern auch darüber, wie selbstverständlich die andere Seite der Hochbegabung immer mitgenommen wird). Misstrauen ist angebracht, wenn das Hochbegabte so strahlt, und Verrat wittern wir, wenn es gar keine Minderbegabten gibt, weil man dann die Konstruktion durchschaut.

Jüdischer Einspruch III: (k)ein jüdischer Staat?

Israel ist kein JÜDISCHER STAAT. Das mag verwundern, denn wer sich zu Recht gegen die alte Vision vom JUDENSTAAT gewehrt hat, konnte mit dem „jüdisch“ gut leben, weil es ja den kulturellen Charakter wiedergibt und so zusagen eine Mehrheitskultur wiedergibt. Nun hat aber die Knesseth ein Nationalgesetz verabschiedet, knapp mit 62:55, mit dem die Araber und andere Israelis, die sich selbst nicht als jüdisch begreifen, klar diskriminiert werden (wenigstens 20% der Bevölkerung).

Wer die Mehrheit im Parlament kennt, weiß, dass da säkulare Siedler, ultra-orthodoxe Religiöse, nationalistische Parteien koalieren – man tut ihnen kein Unrecht, wenn man sie insgesamt als sehr weit rechts und knapp an der Grenze dessen, was „faschistisch“ im politikwissenschaftlichen Sinn bedeutet, bezeichnet.

Nun gibt es hinreichend Opposition in Israel, nicht nur bei den Parteien, auch und vor allem im intellektuellen, gebildeten und auch im religiösen Bereich – außer den Ultra-Orthodoxen und dem rechten Rand der Orthodoxen sind die religiösen Gruppen eher vielfältig. Es gibt auch viele, die aufgrund ethnischer Bestimmungen – jüdische oder angeblich jüdische Mutter – einwandern durften, aber überhaupt nicht religiös, sondern ethnisch nationalistisch sind. (Ich halte die jüdische Mutterlehre für blasphemisch und verzichte nur wegen der hochgehenden völkischen Debatte darauf, die Herkunft der jeweiligen Herkunftsländer zu dekonstruieren).

Im neuen Gesetz steht u.a. (lt. Spiegel Online Übersetzung):

  • Kommunen zu erlauben, „ihren exklusiven Charakter beizubehalten“, wenn in diesen mehrheitlich „Menschen desselben Glaubens und derselben Nationalität“ leben (Punkt 7 b).
  • Zudem soll Hebräisch die alleinige Amtssprache in Israel werden, Arabisch hingegen nur einen „besonderen Status“ erhalten (Punkt 4 a-b).

Das ist ethno-pluralistisch und war in der ursprünglichen Fassung sogar noch härter. (Dass diese erste Fassung unter internationalem Druck auch von jüdischer Seite etwas gemildert wurde, ist gut; dass Staatspräsident Rivlin, selbst Likud, auch hier gewarnt hat und weiterhin warnt, ist ebenfalls gut; dass die Opposition keineswegs nur die arabischen Israeli umfasst, ist wichtig für die Zukunft).

*

Warum rege ich mich so auf? Seit Jahren versuche ich darzustellen, dass es keine Juden gibt, sondern nur jüdische Menschen. Mein Buch dazu heißt „Der Antisemitismus macht Juden“ (Merus 2006), und die These ist gar nicht so originell: die Bezeichnung einer ethnokulturellen Gruppe ist eine Konstruktion, die sich nicht aus ihrer bloßen Existenz ergibt, sondern durch eine Auswahl selbst gewählter oder zugeschriebener Eigenschaften, Verhaltensweisen usw. hergestellt wird, die ausdrücklich nicht auf biologischen („rassischen“) o.ä. Voraussetzungen beruhen.

Ich rege mich auf, weil es zwar auch im Judentum immer derartige Bestrebungen gegeben hatte und gibt, aber die waren und sind nicht dominant. Vor allem im ideengeschichtlichen, auch ideologischen Bereich, war „jüdisch“ eben gerade nicht auf die „ethnischen“ jüdischen Menschen beschränkt, sondern hat sich in Richtung auf universale Werte, Prinzipien und Tugenden konzentriert. Mit Rückschlägen, Querschlägern und Sackgassen, gewiss. Ignaz Bubis hatte mir vor Jahren sehr imponiert, als wir über Jüdische Studien sprachen und er sagte, was sollen denn (damals gerade) 100.000 jüdische Menschen gegenüber (damals schon) mehr als 2 Millionen anderen Ausländern – wenn nicht die Menschenrechte und Solidarität universell wäre; dafür stünde das Judentum.

Das hörte man heute gerne, hört es aber selten.

Nun habe ich, auch in diesem Blog, immer den antisemitischen Zungenschlag auch der linken und oft der pro-arabischen bzw. pro-palästinensischen „Israelkritik“ scharf ins Visier genommen. Kritik an der israelischen Politik, geschichtsvergessene Interpretation der Nakba, Verleugnen der Vorgeschichte der Staatsgründung etc. nehmen oft unangenehm machtvolle Ausmaße an, auch unterstützt von einer gerne unterschätzten Wirkmächtigkeit islamischen Antisemitismus‘, der dem christlichen um nichts nachsteht. Dazu kommt, dass die Existenz Israels nicht einfach deshalb auf dem Spiel steht, weil nicht verhandelt würde, sondern weil man etwas dagegen unternehmen muss, wenn Raketen auf Sderot fallen und wenn es keinen Augenblick der Ruhe an den Außengrenzen gibt – was wiederum nicht allzuviel damit zu tun hat, dass Israel auf der Westbank und im Gaza unverhältnismäßig und falsch regiert. Schon, dass ich das erklären muss, ärgert mich.

Dass sich der israelische Nationalismus mit dem Mantel des Jüdischen umhüllt, ist mehrfach falsch. Auf Religion kann er sich nur sehr partiell berufen, weil seine Landnahmepolitik weniger von dort, als säkular und mit ausländischem Geld erfolgt. Auch ultra-orthodoxe sektiererische Auslegungen der Schrift wirken hier, aber wohl (noch) nicht so massiv, wie es der Fall sein wird, wenn sich dieser Teil der Bevölkerung weiter exponentiell vermehrt. Auf Sicherheitsinteressen kann sich der Nationalismus auch nicht gut berufen, denn die loyale Einbindung der arabischen Israelis wäre da wohl die weit bessere Option gewesen. Dass die innerisraelischen ethnischen Spannungen zwischen Asheknasen und Sepharden auch zur Politik der jetzigen Regierung beitragen, ist kompliziert, kann aber nachgewiesen werden.

Was oft übersehen wird: es gibt wirksame, kluge und v.a. nicht auf das Land beschränkte Opposition gegen die jetzige Regierung, nicht nur prominente wie Amos Oz und Zeitungen wie Ha’aretz, und insoweit funktioniert die Demokratie besser als in vielen andern Ländern. Dass andererseits die Unterstützung von Netanjahu und seiner Regierung gerade durch die Republikaner aus den USA und durch Trump so massiv ist, vermag zu verwundern, wenn man deren starken Antisemitismus kennt. Hier spielt Iran eine Rolle, und wohl auch weitere regionale Konstellationen.

*

Was hat das mit JÜDISCH zu tun? Israel ist ein JÜDISCHER STAAT. Na und? Ich versuche nicht zu retten, was die Knesseth ruiniert hat, aber was auch wahr sein muss, bleibt wahr. Im Angesicht der Geschichte der letzten Jahrhunderte ist Israel der jüdische Staat, der dieser Geschichte eine entscheidende Wendung und Drehung verpasst. Darunter versteht man am besten den Staat, der Opfern erlaubt keine Opfer mehr zu sein. Denn ein Staat kann sehr wohl Täter hervorbringen – davon kennen wir genug – aber nicht aus Opfern entstehen und bestehen. „Jüdisch“ heißt hier, dass die seit Jahrtausenden, aber seit der Shoah vor allem, angehäuften Opfer sich zu einem demokratischen Staat mutieren können – unter ungünstigsten Anfangsbedingungen, wenn man sich diese Grenzziehung anschaut, unter dauerndem Beschuss von allen Seiten und keineswegs nur aus edlen Motiven von Außen gestützt. Das, was jüdisch war und weltweit ist, bekommt mit dem Staat ein Zentrum.

Aber was war denn 1948 jüdisch, was ist heute jüdisch?

Dass es nicht einfach ist, das als eine Gegenposition zu der Ablehnung zu formulieren, wonach eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe oder ein Bevölkerungssegment „jüdisch“ sein kann, ein Staat aber nicht, ist klar. Ich habe im zweiten Teil des Blogs ja gerade behauptet, Israel sei doch ein jüdischer Staat, statt doch kann ich auch sagen. Wenn meine These stimmt, dass Judentum heute eher eine Frage der Intention als der Genealogie ist, dann lautet der Kernsatz: ich will jüdisch leben, wir wollen jüdisch leben, und nicht: ich bin als Jude geboren und lebe deshalb mehr oder weniger jüdisch. Dass diese Intention natürlich auch historische Wurzeln hat und für viele religiöse Wurzeln dazu, versteht sich. Und dass man diese Worzeln nicht abschneiden kann noch soll, versteht sich auch.

Wenn nun ein Staat sich ethno-kulturell versteht, verbietet sich das aus ethischen und politischen Gründen. Israel ist nicht „Judäa“. Es wurde unter anderem angestrebt und gegründet, damit jüdische Menschen nicht mehr Opfer zu sein brauchen und sich selbstbewusst als „Volk“ konstituieren können, was dann entweder zu einem Staat führt oder nicht (Das „Oder nicht“ ist gut bei Kaniuk und Oz erörtert, es gibt Alternativen zum ethnischen Staat, und der Volksstaat kann nationalistisch sein, was nicht gut wäre, aber er wäre deshalb noch kein völkischer Staat, was unmöglich richtig sein kann). Deshalb der erste Absatz dieses Blogs und die Behauptung, dass Jüdisch-Sein keine israelische Staatsräson sein kann und darf.

Aber wenn die jüdische Idee, in einem Staat oder ein soziopolitische Gesellschaft, wie die Zionisten das mehrheitlich schon vor der Shoah gewollt hatten, zu siedeln, weil man eben ohne eigens Territorium nicht meint leben zu können und zu wollen, dann ist Israel ein jüdischer Staat, der sich nicht aus der Opferrolle aufgeschwungen hat, sondern nicht wegen der Opfer weiter besteht. (Im übrigen leben heute viele Israelis in einem Staat, dessen Bezugnahme auf die Shoah und das „Niewiederopfermotiv“ sie selbst historisch weder kennen noch in Anspruch nehmen). Das wäre also nicht mein Motiv, Israel zu mögen und immer wieder hinzufahren. Ein anderes ist allerdings, dass mir der Antisemitismus hier und in Österreich manchmal schon arg auf die Nerven geht, und da geht’s einem in Israel gut. Und wichtig ist mir, dass die politische und kulturelle Ablehnung der nichtjüdischen Israelis anti-israelisch, aber meist nicht anti-semitisch ist. (Was bei den muslimischen Arabern und Palästinensern in Deutschland so klar nicht ist, Tabu!).

*

Deshalb bleibt das neue Gesetz Mist, gern hätte ich es auch zerrissen. Es wird die Fronten verhärten, auch die Isolierung Israels in der Welt vergrößern. Das die jüdische Isolierung sich verringere, um dessentwillen ist Israel aber auch gegründet worden.

So, wie der Antisemitismus zum Konstrukt „Jude“ gehört; so wie jeder nationalistische Ethnopluralismus die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft angreift und auch zerstören kann; so wie der jüdische Staat seine demokratischen Grundlagen auch zerstören kann, so schön wäre es, wenn die jüdische Weltsicht den Staat Israel wieder verändern könnte. Dazu muss man nicht glauben, sondern handeln.

Update und P.S.:

wenn gestern israelische Soldaten syrische Flüchtlinge und Hilfsorganisationen über die Grenze retten, zeigt das die universalistische Seite des jüdischen „Staates“. Wenn sie von Abschiebungen nach Afrika absehen, weil die anderen Staaten protestieren und viele jüdische Organisationen dazu, desgleichen. Aber das Diktat des Nationalen gegenüber dem Universellen ist gerade bei den jüdischen Bürger*innen in Israel so kontrafaktisch wie kaum irgendwo anders.

2. Update und weitere P.S., wichtiger:

erstens bitte lesen:

  • Shimon Stein und Moshe Zimmermann: Mehr Kritik wagen. ZEIT 9.5.2018

zweitens: wie schon früher, aber jetzt mit dem neuen Gesetz konkret: Israel wird das gesamte Gebiet der Palästinenser okkupieren, und es wird kaum Widerstand von Außen geben, weil es sich nicht um Palästinenser, sondern um „Terroristen“ bzw. die Hamas handelt. Diese Teilwahrheit  wird ausreichen, um einen jüdischen Staat mit einer diskriminierten Minderheit zu schaffen, eine EINSTAATENLÖSUNG ohne durchgehende Demokratie und ohne das Republikanische Erbe, auf dem 1947/48 Israel gegründet wurde. Die meisten Palästinenser werden das mit machen, weil sie sozial und vielleicht sogar kulturell besser abgesichert sein werden als unter Hamas oder Fatah. Demokratisch werden sie das nicht sein, wählen werden sie dann wahrscheinlich auch nicht dürfen. Und die Geschichte dreht wieder das Rad, das die Menschen dort so gut kennen.

  • Man kann auch lesen: Sandy Tolan: The Lemon Tree. Wieder eine Docufiction, mit sehr viel Quellen und Literatur.

Und immer daran denken, was Stei und Zimmermann sagen „Letztlich wäre eine Zwei-Staatenlösung im deutschen wie israelischen Interesse, um den „jüdischen und demokratischen Staat“ vor der Selbstzerstörung zu bewharen. Für den demokratischen Einheitsstaat scheint es zu spät, für seine undemokratische Variante haben Netanjahu und Bennet alles getan…

Sex mit Geistern

 

Vor einer Woche schrieb ich anlässlich einer kritischen Lektüre von Hararis „Homo Deus“ (Vintage 2017, London) in mein Tagebuch:

„Wenn die Intelligenz das Bewusstsein überholt und das Glück in den Sensationen liegt: dann bin ich unglücklich, wenn ich beim sexuellen Vorspiel entdecke, dass ich mit einer dea ex machina herummache, aber nach dem Orgasmus könnte mir dies gleichgültig sein, bis das Begehren wieder einsetzt, und damit das Bewusstsein. Oder aber, es ist mir schon vorher egal, weil ja die Biophysispsyche das Bewusstsein dominiert“.

Bei dieser Notiz ging es darum, dass Harari in seinem sehr ambivalenten Zukunftsszenario eben als eine These prüfen lässt, ob das Bewußtsein von der Intelligenz überholt werden kann; auch denkt er, dass biophysische Existenzen sehr viel „menschlicher“ werden können und homo sapiens hinter lassen (um dann Homo Deus zu werden – oder auch nicht). Nicht so wichtig wie diese eine Vorstellung, mit der ich spiele, nachdem ich seine Ausführungen dazu lese.

Vor drei Tagen kam die neue Nummer von NYRB (New York Review of Books, 19.7.2018). Und da lese zu meinem Erstaunen (und Frust) eine blendende Kurzgeschichte des ohnedies hochgeschätzten Ian McEwan: „Düssel…“, in der an der entscheidenden Stelle, beim Vorspiel, der Mann fragt „Jenny…forgive me, I love you and always will…but please tell me the truth. Are you real?“. Nun, sie ist es nicht, und wieweit die Liebe tragen wird, das zu überbrücken, wenn man es einmal weiß, ist unklar. Am Ende heisst es: „But if we were to live together, I would have to acknowledge that it would be tricky for me to win an argument or counter any decision she made…Believe me, if you had never apologized to a machine for posing the indelicate question, then you have no concept of the historical distance that I and my generation have traveled”.

 

Zweimal “if”, vergessen wir das nicht.

 

Zur Harari-Rezension ist es noch zu früh, sie wird nicht nur freundlich ausfallen, aber kluges sagt er immerhin und seine starke Betonung, dass nichts, gar nichts, ohne unsere körperlichen Sensations geht, ist natürlich sympathisch. Aber er ist klug genug, einen englischen Ausdruck zu verwenden, der bedeuten kann: Gefühl, Empfindung, Wahrnehmung oder – Sensation. Erstes und letzteres wahrscheinlich nicht gemeint, aber schillernd bleibt es, und was gemeint ist, wissen wir bei meinem Beispiel sofort. Oder? Wenn der den Sapiens überholende Mensch um so viel klüger ist, um so viel „menschlicher“ als wir, warum uns dann nicht getrost dem Spiel der Algorithmen überlassen?

 

Abseits dieser wissenschaftlichen, die Geschichtswissenschaft fordernden Science Fiction: Wenn wir wissen wollen, wer und in diesem Falle auch: was ein anderer Mensch ist, warum? Trauen wir unseren Empfindungen nicht? Haben wir vielleicht gelernt, ihnen zu misstrauen?

Wer den Film „ex machina“[1] gesehen hat, weiß, dass die nicht auf mich gewartet haben, um diese Überlegungen zu popularisieren[2]. Wer Harari liest, weiß, dass man ältere und neuere Erkenntnisse kombinieren kann um wieder einmal Zukunftsszenarien zu entwerfen, die wenig originell sind, wenn man sie dekonstruiert. Aber haben wir das beim Aufkommen der digitalen Welt, beim www. oder bei den ersten autonomen Waffensystemen auch gesagt? Also Vorsicht mit unserem Wunschdenken, die Frage nicht stellen zu müssen: Are you real?

 

[1] Film von Alex Garland 2015 mit Alicia Vikander. Was in den Rezensionen dazu weitgehend fehlt, ist die Übertragung von „Sensations“ auf Wesen mit super-humaner Intelligenz und/oder Empfindungsfähigkeit. SF hat hier schon viel vorgearbeitet, nicht nur Philipp K. Dick und William Gibson. Für mich ist Variante viel früher schon Lem, bei dem das Bewusstsein, „Mensch zu sein“ mit dem vollständigen Austauisch seiner Körperbestandteile nicht verlorengeht.  Romantik pur? Dann müsste man fragen, wie diese Romantik in die KI einfließt.

[2] Wer sich damit noch gar nicht beschäftigt hat, findet einen ersten Zugang bei https://de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test (15.7.2018).

Vom Glück der Artisten

In finsteren Zeiten gehen wir gerne ins Kino oder zum Festival oder – in den Zirkus. In irgendeiner Weise müssen wir uns vom Druck ernster und wichtiger – das ist nicht dasselbe – Handlungen und Ereignisse kurzfristig befreien, weil wir darin auch die Freiheit sehen, die wir erstreben.  Natürlich ist sie es nicht, aber sie bringt uns ihr näher.

(Wenn sich in den Schützengräben die Soldaten gegenseitig sich am nächsten Tag wieder abschlachten, ist das eine Variante der illusionären Befreiung).

Zirkus. Passt heute mehrfach in die Diskussion. Für mich, als Kind an der Schwelle zur Adoleszenz der Ort, wegzukommen. Die Nomaden mit ihren Verheißungen, mit den Mädchen, die bei der Vorstellung in Badeanzug mit einem Nummernstern den nächsten Programmpunkt anzeigten und am Nachmittag zwischen den Wohnwagen sichtbar einem anderen Lebensrhythmus folgten als ich. Von daher ein lang wirkendes Schönheitsideal. Sie zogen weiter und würden in einem Jahr oder etwas früher wiederkommen, jeweils der größere Zirkus („Staatszirkus“ Rebernigg, oder kleinere), immer wieder die Hoffnung auf das Fort-von-hier bringend und mit sich nehmend.

Mein Bruder Georg hatte vor mehr als 15 Jahren begonnen, ein Zirkusfestival in Salzburg als veriatble Gegenveranstaltung zu den Salzburger Festspielen aufzubauen, als „Winterfest“ von November bis Januar zieht dieses Ereignis jährlich über 30.000 Menschen an, – wie sagt man: eine Institution. Von weither kommen die Artistinnen und Clowns, berühmte Namen dabei wie Victoria Chaplin, Tiger Lillies, Trottola, Seven Fingers …schaut selbst nach www.winterfest.at

Als mein Bruder 2014 plötzlich verstarb, hatte das Winterfest überlebt, es ist anders geworden, ohne seinen spiritus rector, aber meine Schwägerin hat eine Entwicklung daraus abgezweigt und hinzugefügt: eine Zirkusschule. (Alles für Österreich einzigartig und einmalig, und gut und wichtig; aber mir geht’s hier um etwas anderes: der Zirkus verheißt eine Freiheit, an deren Zugang, anderen Befreiung man selbst teilnehmen muss, um sie zu erahnen).

*

Die Zigeuner[1] kommen – gehen wieder fort; die Jongleure und Jahrmarktartisten kommen und ziehen den Schaustellern nach; seit der Antike und immer wieder, und sie hinterlassen nicht nur üble Nachrede, gebrochene Herzen und eine seltsame Mischung aus Sehnsucht (mit ihnen wegziehen) und Widerstand (besser, wir bleiben). Die Romantik der Unsteten, die dann doch nie wirklich zuhause sind, ist dünnschalig und verdeckt, was sich eigentlich von selbst anbietet: Ungleichheit, Ortlosigkeit, eine andere Form von Heimat als die der Heimeligen, und wer weiß, nach welchen Orten sich der Zirkus sehnt, wenn er, nach schlechtem Besuch, sein Zelt packen muss?

Voll beschäftigt mit meiner Arbeit über die afghanische Diaspora, über Flüchtlinge und ihre Peiniger und über Heimkehrer aus den letzten Interventionen, nutzte ich einen Besuch im CTC Salzburg, um eine Zirkusschule in Aktion zu sehen.

 

 

 

Nun brummt das Centrum[2] und ist rund um die Uhr belegt: mit Kindern, Profis und allem, was sich dazwischen bewegt. Aktuelles erfährt man hier. https://circusschule.jimdo.com/kontakt/ . Natürlich ist das auch Werbung, aber mir geht’s um etwas anderes:

Menschen müssen nicht immer der scheinbar selbstverständlichen Verbindung folgen: ein Körper an einem Ort. Anders als Kriegsflüchtlinge oder Armutsmigranten suchen die Artisten immer aufs Neue ein Publikum, und wissen, dass man nicht auf Dauer an einem Ort bleiben kann, wenn man nicht hofft, dass Besucher auf Dauer da zusammenströmen, wo man durch die Luft fliegt, auf dem Seil herumläuft oder über sein eigenes Lachen stolpert. Die Normalität der Ortlosigkeit hat viel mit der Freiheit der Migranten zu tun, von der der Philosoph Villem Flusser schreibt: man lässt ja nicht nur etwas hinter sich – Heimat oder Folter oder Hunger – man erwirbt ja auch etwas neues, – – vielleicht Heimat, vielleicht neue Gefahr und Beschränkung. Und das kann bedeuten, dass man bleiben will, oder weiterziehen muss, wenn man kann.

Zirkus ist ein Sinnbild eben dieser Ambiguität. Die Freiheit der Künstler, also auch der Zirkusmenschen, ist nicht einfach ein routiniertes Kommen und Gehen, je enger sie an einem Ort mit dem Gastgeber, dem Veranstalter, dem Publikum kommunizieren, desto schwieriger der Abschied, aber auch die Hoffnung, etwas mitzunehmen, was die Vorstellung am neuen Ort noch lebendiger macht: die Erinnerung ist immer präsent. Die Ortlosigkeit ist immer dabei, selbst im „Winterquartier“ bei Einigen, und was dauerhaft ist, das Training, die ständige Bereitschaft zur Kunst, kommt an jedem Ort anders und neu an.

Und so stehe ich in der Trainingshalle und sehe, dass und wie hier Menschen üben, wiederholen, ihre Muskeln und Sehnen strecken und zugleich in ihren Gesichtern die Figuren spiegeln lassen, die dann oben am Trapez oder zwischen zwei Stangen uns fesseln bis zur Atemlosigkeit. Immer schöner als Sport, auch wenn manches so ähnlich daherkommt. Damit will ich niemanden kränken.

Zum Zirkus gehört das Abheben vom Boden des Gewohnten, so wie dieser Boden die Nationalflagge der Sportler ist. Artisten haben keine Flagge, sie kommen woher, gewiss, und ziehen wohin, gewiss, aber die Beziehung ihrer Entfernung von „Heimat“ zwingt uns geradezu, sie selbst zu sehen, ohne den Kontext von Heimatland und Ort. Es ist nicht wichtig, woher sie kommen und wohin sie gehen. Aber alle Erfahrung ihrer Herkunft ist in ihren Bewegungen und ihrem Ausdruck eingeschrieben, und all ihr Erfolg kann sich nur auf uns übertragen, wenn wir davon abstrahieren, ob es sich um französische, russische oder kanadische Künstler handelt: wir müssen den Körper und die Bewegung eines Menschen oder einer Gruppe im besten Sinn des Wortes würdigen.  Und dazu ihre Erfahrung miterfahren. (Und so lernen wir die fremden, fernen Heimaten kennen, deren politische Geschichte wir ohne den syrischen, behinderten, sprachlosen Artisten vielleicht nie so hautnah begriffen).

Es gibt eine Erotik des Gelingens: wenn ein Artist einmal daneben springt, versucht er es aufs Neue, solange, bis es gelingt, auch in der Vorstellung und nicht nur im Training. Wir werden Zeugen dieser Selbstverwirklichung, die uns, im übertragenen Sinn, mehr menschlich macht als die Hoffnung auf den Sieg des einen oder andern Sportlers im Wettkampf. Beim Zirkus fiebern wir mit um die Freiheit des Körpers in seiner menschlichen Bewegung.

So stand ich im Trainingszelt und hab mir vorgestellt, wie die, die da üben, in den nächsten Tagen und Wochen auftreten, oder einfach sich verwirklichen, ohne jemals die Öffentlichkeit zu suchen.

 

 

[1] Bitte keine Belehrung: Roma, Ashkali, Sinti, fahrende Völker – da kenn ich mich ein wenig aus. Henri Sicluna, der Beauftragte des Europarats, hat mir einmal den Rat gegeben, weiter beim Zigeuner zu bleiben, wenn man nicht ganz sicher ist, zu welcher Abteilung der Fahrenden einer oder eine Gruppe gehört.

[2] Die Gründungsprobleme gehören auch dazu: so etwas geschieht nie im luftleeren Raum: Die Kontroversen um die Gründung kann man hier nachlesen: https://www.sn.at/wiki/Cirkus-TrainingsCentrum_Salzburg. Ich selbst betreibe mit anderen den Verein der Freunde des zeitgenössischen Circus e.V., damit sich Menschen auch für diese gleichberechtigte Kunstform interessieren. Informationen dazu gibt’s bei mir, aber keine Webseite: da reicht das CTC.

Vor Gericht – der wirkliche Traum

Im Gerichtssaal hängt ein Kreuz. Der Christus darauf trägt einen blau-weissen Lendenschurz und eine Wittelsbacherkrone. Der Staatsanwalt hat eine Anklageschrift verfasst, die sich weitgehend auf öffentlich zugängliche Aussagen, vor allem meine Blogs bezieht; dann aber auch auf Briefe und mitgehörte Gespräche, die natürlich rechtswidrig gespeichert wurden, aber das stört mich angesichts der allgemeinen Überwachungspraxis wenig; schließlich zeigte dieser Vertreter der Anklage, dass er von Ironie und Pathos nichts, von Diskurs und Wirklichkeit nichts versteht, was ihn zu einem prädestinierten Vertreter der Wörtlichkeit geraten ließ. Dies rückte ihn in die Nähe von orthodoxen Monotheisten, denen die Auslegung des einen, einzigen Textes ganz nah am Wortlaut Lebenselixir und Aufgabe ist.

Da stand ich also, und nach Verlesung der Anklage sagte ich, so knapp es ging und alles Weitere dem weiteren Verfahren überlassend:

Herr Richter,

dass sich ein Beschuldigter nach Verlesung der Anklage nicht schuldig bekennen darf und dann in eigener Sache aussagen kann, ist erfreulich. Natürlich bin ich der mir vorgeworfenen Taten nicht schuldig – weder juristisch, noch, was viel wichtiger in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht. Ob ich nun Herrn Seehofers Ehre gekränkt, das Ansehen der CSU Führung geschmäht, die Inlandsgeheimdienste, v.a. den Verfassungsschutz unsachlich herabgesetzt habe, – nichts davon hält stand gegenüber dem Recht eines Wissenschaftlers und politischen Bürgers im Besitz seiner Grundrechte und seiner verfassungsmäßig garantierten Freiheit des Sagens seiner Meinung, darüber hinaus des Sagens von Wahrheit. Deshalb erfolgt so gut wie keine Einlassung auf die Konstruktionen der Anklage, aus dem Strafrecht abzuleiten, was mir zur Last gelegt wird.

Ich habe meine verbalen Attacken auf den Innenminister, die CSU Führung, den bayrischen Ministerpräsidenten und – etwas pauschal – ihre Gefolgschaft zum einen darauf gestützt, dass diese Herrn den Rechtsstaat zu beseitigen im Begriffe sind, bzw. danach streben.

Dass sich Herr Seehofer beleidigt fühlt, nehme ich gerne billigend in Kauf, dass er beleidigt ist, geht auf eine verkümmerte Selbstwahrnehmung zurück. Dass seine Ehre angegriffen wurde, leugne ich hingegen. Ehre ist ein soziales Konstrukt, das niemals objektiv verwendet wird, sondern durch je bestehende Macht oder aber eine Gesetzgebung aus Herrschaftsinteresse pro tempore definiert wird. Hier wie später gestatten Sie mir, Herr Richter, auf die wissenschaftlichen Belege meiner Aussage weitgehend zu verzichten, aber die Nachfrage wird mich hoffentlich als kompetenten Antwortenden herausstellen.

Im Einzelnen werfen Sie, Herr Staatsanwalt, mir vor,

  • dass ich Herrn Seehofer einen Fremdgänger genannt habe. Dass sich dieser Begriff keineswegs nur auf körperliche Tätigkeiten außerhalb der Institution Ehe bezieht, kommt der Anklage nicht in den Sinn. Seehofer und Söder gehen, wie andere CSU/CDU Politiker auch, z.B. in Bezug auf Christentum fremd und schaffen staatlich vermittelte Interpretationen einer gewaltsamen unmenschlichen Religion. Sie sind auch Fremdgänger, was ihren Verfassungspatriotismus betrifft. Bayern first ist eine Politik, die zwar Trump vergleichbar, aber ohnmächtig niedrig ist.
  • dass ich ihn mit dem amerikanischen Präsidenten Trump verglichen habe, nicht mit dessen Machtfülle, aber mit dem Zustand pathologischer Unzurechnungsfähigkeit im Stadium der Angstblüte; das ist heikel, weil es ja die Verantwortlichkeit des pathologisch Abgeirrten in Frage stellte. Aber ich denke, dass Schuldfähigkeit eingeschränkt, aber nicht ausgeschaltet wird, wenn eine mentale Beschädigung mutwillig nicht behandelt wird;
  • dass ich die CSU Führung pauschal mit der NSDAP vor 1933 verglichen habe, oder aber mit rivalisierenden DNVP. Sie werden bei mir niemals einen Vergleich der CSU mit den Nazis nach der Machtergreifung finden, das ist ein wichtiger Aspekt meiner Argumente; die Wissenschaft ist sich nicht einig darüber, ob die Grausamkeiten der Nazis Schritt für Schritt erfolgten oder die Endlösung bereits Programm war. Eine analoge Überlegung in Bezug auf die AfD oder CSU verbietet sich, aber das Hinausschieben der Grenze des Sagbaren zu immer verstiegeneren Argumenten – siehe die 69 Afghanen – legt die erste Interpretation nahe;
  • dass ich die prahlerische Aussage Seehofers, an seinem 69. Geburtstag habe er 69 Afghanen abschieben lassen, so verstehe, dass wir darauf dürfen, er werde seinen 70. Geburtstag nicht mehr erleben. Übrigens hat sich einer der jüngst Abgeschobenen nach seiner Ankunft das Leben genommen; als ein anderer, gut integrierter Schüler aus einer bayrischen Schule herausgezerrt wurde, skandierten die Mitschüler „Mörder“. Niedrige Beweggründe, Vorbedacht und besondere Grausamkeit kann man den CSU-Behörden schon vorwerfen, aber es muss nicht immer mit unmittelbarer Todesfolge verbunden sein, was sie tun. Juristisch sind das zunächst keine Mörder, sondern Schreibtischtäter.

 

69 Menschen wurden vergangene Woche nach Afghanistan abgeschoben. Einer von ihnen ist mittlerweile tot. Die Abgeschobenen werden vor Ort betreut – unter schwierigen Bedingungen.

Von Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi

Acht Jahre lang hatte der junge Mann in Deutschland gelebt, zuletzt in Hamburg. Vergangene Woche war der mehrfach verurteilte Straftäter nach Kabul abgeschoben worden. Dort ist er nun in einem Hotel tot aufgefunden worden. Er habe sich erhängt, sagt Hafiz Miakhil vom Flüchtlingsministerium in Kabul. Mit 68 anderen Abgeschobenen sei der 23-Jährige am 4. Juli in Kabul angekommen, bestätigt Laurence Hart. Er ist der Leiter der Internationalen Organisation für Migration in Kabul.

Seehofer dazu (ARD 11.7.2018):

Ein Afghane wird aus Deutschland abgeschoben und nimmt sich daraufhin das Leben. Innenminister Seehofer wies Forderungen nach seinem Rücktritt zurück. Er war zuvor mit einer Äußerung in die Kritik geraten.

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat Rücktrittsforderungen von Linken und FDP nach dem Suizid eines nach Afghanistan abgeschobenen Flüchtlings zurückgewiesen. Er verstehe diese Forderungen überhaupt nicht, sagte er vor Journalisten. Der Bund sei bei der Auswahl der Flüchtlinge für den Abschiebeflug nicht zuständig. „Der Flüchtling wurde uns von der Hansestadt Hamburg gemeldet“, so Seehofer.

Seehofer hatte am Dienstag verkündet, am 4. Juli – dem Tag seines 69. Geburtstages – seien 69 Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben worden. „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden“, sagte der CSU-Chef. „Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“

„Rücktritt überfällig“

Einer der 69 Flüchtlinge nahm sich in Kabul das Leben. Wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte, wurde der Mann leblos in einer Zwischenunterkunft in Kabul aufgefunden.

Seehofer sagte dazu: „Das ist zutiefst bedauerlich und wir sollten damit auch sachlich und rücksichtsvoll umgehen.“ Seine Wortwahl bedauerte er jedoch auch nach dem Tod des Afghanen nicht: „Das wusste ich gestern nicht. Das ist heute in der Früh bekannt geworden“, sagte er. „Wie das Leben oft so spielt. Hab sogar noch dazu gesagt: Nicht organisiert. Und dann wird da etwas draus gemacht.“

(Das Gericht hat diese Passage nicht angenommen, weil meine Kritik an Seehofer ja vor dieser 69er Panne geschrieben wurde:)

In der Liste der Anklagepunkte sind meine unterstellten Tötungsabsichten der Innenpolitiker und Sicherheitsorgane natürlich prominent.

 

  • dass ich Seehofer, schon wie vor ihm de Maizière und mit ihm etliche andere Amtsträger unmenschlicher Verdinglichung von Flüchtlingen, Asylsuchenden, Verfolgten geziehen habe, die billigend den Tod dieser Menschen in Kauf nehmen, um ihre Vorstellung von Recht und Ordnung durchzusetzen. Diese Vorstellung widerspricht schlicht der Verfassung einer demokratischen Republik; nicht nur der Bundespräsident hat auf die Verrohung der Sprache hingewiesen, am Beispiel des Asyltourismus (Herr Dobrindt, Frau Klöckner) wird eine erschreckende Unmenschlichkeit zur Maxime staatlichen Handelns;
  • dass ich, in anderem Kontext, den Verfassungsschutz teilweise als Vorfeld nationalsozialistischer Bewegungen im Lande bezeichnet habe, wobei ich auf das teilweise größten Wert lege. Jedenfalls kann man hier die Erkenntnisse des NSU Prozesses zu einem nachgetragenen Beleg angeben (vgl. dazu Prof. Funke, FU Berlin, DLF 11.7.2018 und Hintergrund, gleiches Datum 19.20); die Sicherheitsorgane haben die Opfer verdächtigt und mit den Tätern gemeinsame Sache gemacht. Das geht im Prozess zum NSU weitgehend unter; warten wir den Wortlaut des Urteils ab;
  • Dass ich den Kreuzerlass des Bayrischen Ministerpräsidenten Söder für blasphemisch halte. Das ist mir so wichtig, weil mein Respekt vor dem Glauben und der Glaubensfreiheit keineswegs den Religionen und der Religionsausübung gleichermaßen gilt. Die Aneignung des Christentums als private Verfügungsmasse eines Wahlkampfes ist jedenfalls, wie von mir behauptet, im Sinne des Christentums blasphemisch – mir kann es egal sein, welche Sekte sich wie verhält;

Ob diese Aussagen strafwürdig sind, interessiert mich nur am Rande. Widerstand gegen diese Politik und damit einen der Mitverantwortlichen mit den Mitteln des Rechtsstaats ist allemal angesagt. Dass dieser Widerstand hoffentlich gewaltfrei erfolgen kann, hoffe ich sehr. Wenn aber der Innenminister und seine Gefolgschaft versuchen, den legitimen Widerstand gegen die Abschaffung dieses Rechtsstaats selbst zu kriminalisieren oder gewaltsam zu ersticken, bleibt die Wahl der Mittel offen.

Dass Seehofer für sein ministerielles Privatpapier (sein Masterplan ist KEIN Regierungspapier) Beifall von der AfD findet, verwundert nicht. Dass er auf eigene Faust Außenpolitik macht (am 11.7. in Innsbruck u.a. wegen Flüchtlingsrücknahme und gegenüber London zur Verteidigungspolitik, gestatten ihm die Kabinettsmitglieder nur wegen seiner bereits offenkundigen Unzurechnungsfähigkeit…man distanziert sich eben nur milde von einem Angstblütler). Solche Eskapaden beunruhigen nicht, wenn und solange die Demokratie gefestigt ist, selbst wenn ihre Gegner sie einschränken oder gefährden wollen. (Aber es ist Anlass, sich für sein Land so ganz allgemein zu schämen).

Wie auch immer Sie befinden, ich werde es mir ruhig und respektvoll anhören. Allerdings werde ich darauf bestehen, faktische und dokumentarische Unterlagen zu all meinen Aussagen beizubringen sowie das, was meiner wissenschaftlichen Überzeugung bzw. Recherche entspringt, nicht verbal in dem Sinne zu mäßigen, der in einem politischen Prozess vor Jahrzehnten von Richter Groschupf am Oberverwaltungsgericht Lüneburg (Disziplinarkammer) geäußert wurde: mehrfach wird das Verständnis gelenkt auf die „Sicht eines unbefangenen sorgfältigen Durchschnittslesers“ (Prozess gegen Peter Brückner nach der Mescalero-Affäre 1977). Was dieser Leser wiederum versteht, interpretiert das Gericht. Und das konstruiert die Verfassungsfeindlichkeit u.a. aus einem Verstoß gegen die Mäßigungspflicht. Wissenschaft sollte weder auftrumpfen noch sich mäßigen. Und den unbefangenen sorgfältigen Durchschnittsleser gibt es nachweislich nicht. So wenig, wie es den illegalen Flüchtling gibt.

Ich bitte um kein mildes Urteil und um kein gerechtes Urteil, sondern darum, dass es keines gibt.

Der Richter schaut nach oben, zum bayrischen Kreuz.

Der Staatsanwalt wetzt unruhig auf seinem Stuhl.

Ich spüre meine Fußfesseln und Handschellen.

*

Ich erwache aus einem sarkastischen Albtraum und freue mich darüber, dass die bundesdeutsche, aber niemals die bayrische Justiz für mich zuständig sein wird. Aber dann, so richtig wach, stelle ich fest, der Albtraum geht weiter. Was als Schlaf begonnen hatte, setzt sich als Wachtraum fort. Man fasst es nicht, ich fasse es nicht.

In der Psychoanalyse lernt man, dass jeder Traum auch mindestens einen Wunsch beinhaltet.  Nicht so schwierig in diesem Fall? Doch. Weil der Übergang zum Tagtraum, zum Schlafwandeln im politischen Raum lässt Wünsche ja sinnlos äußern, ohne Hoffnung, Ernst genommen zu werden. Nochmals erwachen, das wäre es. Weiter wach sein. Aber dann wird die Konfrontation unvermeidlich. Ist sie ja schon.

 

Finis terrae XX. Ich bin nicht allein

 

Ich bin nicht allein: in der Auflistung der Verbrecher in einer Linie – Trump, Erdögan, Duterte, Putin etc. tönt Charles Maier so ähnlich und analytisch klar wie nur ein Historiker sein kann (und ich kenne ihn noch aus den 80er und 90er Jahren, wo er die europäische Entwicklung schon schärfer und besser beobachtet hatte als viele andere. Harvard bot damals wie heute vielen Kontroversen Raum). (SZ 10.7.2018). Was bei ihm so wichtig ist: die USA waren nie nur der Ort idolisierter Wertedominanz über Interessen, sondern auch die Unbekümmertheit der Unangreifbarkeit. Das ist jetzt vorbei, nur Trump benimmt sich so, als bestünde das alte Spannungsverhältnis und wir hätten Einfluss darauf, welche Werte es denn sind, die uns zusammenbinden. Nobel, wie er ist, schlägt er nicht dumpf auf den Sieg der Ökonomie über die Politik, aber man die Kritik der politischen Ökonomie aus seinem Vortrag gut herauslesen.

Das lese ich heute.

Ich bin nicht allein, und rede deshalb von mir, weil viele mir entweder unsachgemäßen Pessimismus vorwerfen und auf alte Selbstheilungskräfte oder auch das Bestehen von Opposition verweisen, während andere genau die Grenzüberschreitung in Denkformen und -mustern kritisieren, die mich endlich von der akademischen Engführung fachgebundener Scheuklappen hat emanzipieren lassen.

In den letzten Wochen habe ich eine Vielzahl gedruckter Verbündeter gefunden, fast wie ein Netz- und Wurzelwerk von untergründigen Oppositionen, die nicht mit der alten Taktik der Verschwörung arbeiten. Widerstand entzieht sich den klassifizierenden Koordinaten („links“- „rechts“, „Elite“ – „Massen“  etc., weil die ja auch und zuvörderst Instrumente der Ordnung durch die Machtausübenden sind. Deshalb kann man trotzdem links oder rechts sein, sich zur Elite zählen oder das Establishment angreifen. Aber man kann sich nicht auf anerkannte Positionen zurückziehen, deren Bedeutung allgemein geteilt wird. Die Basis der allgemeinen Deutung von Welt und Gesellschaft ist schmaler geworden, bei uns noch weniger als in den USA oder Russland, aber auch in Europa deutlich schmaler.

Das wird deutlich an scheinbar zweitrangigen, heftigen Kontroversen:

  • da kann ein hochrangiges Wesen unbestraft über Asyltourismus schwatzen, eine nicht so kluge Ministerin übernimmt das, und wenn die beiden und ihre Gefolgschaft vom Bundespräsidenten getadelt werden, schaut man trotzig in die Luft.
  • Da gibt es notwendig Streit darüber, ob die Medien den 14 in der Höhle eingeschlossenen Fußballern mehr Aufmerksamkeit schenken dürfen als den hunderten oder tausenden Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken, nur weil die Politiker, Seehofer und seine Bande an der Spitze, hoffen, dass je mehr Menschen dort krepieren, umso weniger neue Flüchtlinge sich auf den Weg machen.
  • Da buckeln und demütigen sich die Millionäre aus den Vorstandsetagen vor den Trump-Sanktionen gegen den Iran, anstatt Gegenstrategien zu entwerfen, wie sie der Wertediskussion angemessen wären.
  • Umgekehrt unterstützt man indirekt die Hardliner im Iran, nur um nicht mit Trump zu heulen. Es ist eben nicht alles Wirtschaft, auch nicht mit China oder England oder Indien oder…

Warum scheinbar zweitrangig? Weil das alles Symptome sind, keine wirklichen Ursachen – bestenfalls gewaltige und gewalttätige Anlässe. Die Möglichkeiten der Selbstprüfung erfordern eine furchtlose, aber nicht blinde Öffentlichkeit, in der die Begründungen verhandelt werden, unter der unsere Freiheit verteidigt wird (Habermas: Freiheit ist Handeln aus Gründen).  Die illiberale Demokratie der Orbans und Erdögans etc. verteidigt die Unfreiheit um des ökonomischen und sozialen Überlebens der Zwangsherrschaft willen. Und IHR „Volk“ macht mit…dazu hab ich schon soviel gesagt, mag ich nicht wiederholen.  Das unterworfene willfährige Volk – Nazisprech: die Gefolgschaft – hat sich mit der Unfreiheit abgefunden, weil man im privaten Überleben Freiheiten nicht zu brauchen scheint, wenn‘s sonst nur gut geht. Brot&Spiele wie in Russland (Sagt nie WM ohne FIFA, das ist Vertraglich, lang lebe die Mafia!), ausländischer Segen für Erdögans Inthronisation  (Schröder darf den nackten Kaiser zu seiner Garderobe gratulieren) und Trumps Siegeszug mithilfe der Ungebildeten und Glücksritter nicht nur drüben, auch bei uns.

Die Lichtblicke, die van der Bellens, Sanchez, jawohl: auch Merkels, durchdringen den schatten kaum, sie müssen aufpassen, dass sie nicht übers Geländer gedrängt werden. Dabei wäre eine Renovierung der globalen demokratischen Politik gerade jetzt durchaus möglich, denn noch regieren die Tyrannen mit dünnen Mehrheiten. Jeder Tag macht sie stärker. Jeder Tag, an dem wir leise und zurückhaltend darauf warten, dass sich der Rettende, das Rettende naht. Messias kommt nie.

 

 

Großer Abstand zu diesem Satz: aber hoffen kann ja jede(r) auf Messias. Und wenn der Klimawandel jeder gute Politik überholt, dann hoffen wir halt nicht mehr.

 

 

 

Europas „starkes Herz“

Aus der österreichischen Bundeshymne:

Heiß umfehdet, wild umstritten,

liegst dem Erdteil du inmitten

Einem starken Herzen gleich

Hast seit frühen Ahnentagen

Hoher Sendung Last getragen

Viel geprüftes Österreich

(Paula von Preradovic)

Das mit den Sendungen ist so eine Sache in Österreich: die Post arbeitet ab Freitag Mittag nicht und stellt auch am Samstag nicht zu. Und was das starke Herz betrifft, so ist die Blutzufuhr immer dann recht gut dem Land bekommen, wenn sie aus den umliegenden Gesellschaften kam, unendlicher Reichtum der nichtdeutschen Geschichte. Bis auf den Schreiber dieses Blogs ist kaum ein bedeutender Österreicher in Wien geboren, und derselbe ist ja auch nur durch Migration nach Deutschland bedeutend, also eigensinnig und unerheblich geworden.

Ich war ein paar Tage im Dreikaiserbad Gastein. Berufliches und Privates vermischend, wie sich das gehört, auch Erinnerungen an einen sehr schönen Winterurlaub 1974 erinnernd, damals in Dorfgastein, ist dieser Ort der Nostalgie doch kaum zugänglich. Nicht wie Davos (da, wo’s teuer ist), nicht billig, teils verfallen, teils modisch restauriert, kaum ein hotel-unabhängiges Gasthaus mit lokaler Küche. Dafür PPB Pizza Pasta Burger, Pub; das (ein) Bordell vermietet Zimmer von 13 bis 21 Uhr, die Bar dort hat von 20 – 05 Uhr offen, wie das geht, habe ich nicht herausbekommen, weil nicht dort;  vielleicht geht man in der Zwischenzeit Bergsteigen. Was ich denn an zwei Nachmittagen auch tat, teure, aber intakte Seilbahnen bzw. Lifte, ganz auf Winter eingestellt. Panorama ist so ein Sache, dazu müsste die Fernsicht gut sein, war sie an diesen Tagen nicht: eine Front mit Starkregen schob sich am ersten Bergtag beachtlich von Westen heran und ließ mich den Abstieg zu Fuß dem Frieren auf dem Lift vorziehen: war richtig schön, weil ja im Sommer wenige Menschen hier sind. Auch hier, im Berggasthof bei der Mittelstation, werden wir auf Englisch angesprochen, wie fast überall in Geschäften und an Theken. Nicht, weil wir ausschauen wir Amis, Engländer oder jedenfalls fremd, sondern weil das Personal fast ausschließlich aus den osteuropäischen Ländern mit Englisch als erster Fremdsprache kommt und erst saisonal einen Monat hier ist. Wogegen die Touristen, tatsächlich von überall, in ihren hautengen Trachtenlederhosen (w/m) Anlass zu politischer Disziplinierung geben, da weiß man wirklich nicht ob und wohin man schauen soll.

Gutes vermelde ich aus dem damals berühmten Felsenbad, betonierte Art brut direkt in den Stein hineingebaut und seit damals attraktiv funktional und die kleinen Fliesen so passend wie damals. Erinnere ich falsch, dass damals noch eine Warnung war, nicht länger als 20 Minuten im Wasser zu bleiben, wegen Radioaktivität? Egal,, das ist ganz schön und die Bautätigkeit hält sich in Grenzen.

So, werdet ihr denken, jetzt wird er wieder Lokalpatriot. Nein, der Wiener und Oberösterreicher und Salzburger in mir, also bereits hier mehrfach programmiert, beginnt den Tag mieselsüchtig, weil ich die Zeitungen, die mein Freund hat nachkommen lassen, so gräuliches berichten. Presse, Standard und Salzburger Nachrichten, linksliberal, liberal, konservativ liberal: alle schreiben einhellig über das atemberaubende Tempo, mit dem die schwarzbraune Regierung nicht nur die Posten besetzt, sondern das Land umfärbt. (da sich die Kurz-Partei türkis umdefiniert, protestieren eher liberale Tiroler damit, dass sie weiter schwarz sein wollen und mit den Grünen koalieren). Die FPÖ bleibt braun, obwohl sie sich blau ausgesucht hat. Das ist den Journalisten unheimlich, auch den vielen intellektuellen Kritikern dieser Politik, aber die Mittel für den Widerstand sind nicht nicht gefunden. Manche hoffen insgeheim darauf, dass sich teilweise wirklich dumme Politik selbst erledigt. Glaube ich nicht, denn die Nazis haben schon bewiesen, dass sie es punkte Sozialpolitik mit den Linken aufnehmen konnten (wenn sie die Mittel andern geraubt hatten, das ist der Unterschied), und zur Wohlstandszeit ist das nicht das Hauptproblem der Österreicher. Außenpolitisch tanzt das Land immer mehr in Richtung illiberale Festung Europa, Kurz schwafelt und die Braunen regieren durch (Bundesherr, Polizei, Verfassungsschutz, Verwaltung). Nur, sowas sagt man anders, undeutlicher, weil es zwar strukturelle Zensurankündigungen gibt, u.a. beim Rundfunkt, aber man die kulturelle Szene noch ziemlich in Ruhe lässt. Was hinterhältig und klug ist, denn auch das hat ja die österreichische Vergangenheit – Zwischenkriegszeit, Austrofaschismus, Nazizeit weniger, Nachkriegszeit – gezeigt: repressive Toleranz in der Kultur zahlt sich mittelfristig aus (das hat der Diktator Erdögan weniger verstanden als Putin). Man sagt, dies sei eine neoliberale nationalistische Politik. Immerhin, das kritisieren die Zeitungen einhellig. Aber es ist nur klar, was sie meinen, nicht was das bedeutet. Neoliberal kann man leicht tönen, wenn das Land wirtschaftlich so erfolgreich ist. Die Krise, wenn sie kommt, wird die Strukturen ganz schnell zum erodieren bringen, aber sie ist ja nicht da. Und diese Wohlstandsphase beruht eben nicht nur auf dem Tourismus, auch auf Industrie und Spezialbranchen. Und nationalistisch? Sicher, die FPÖ ist eine Nazipartei, aber eine mit der Ambiguität, dass, was deutsch ist und was österreichisch ist, inkompatible Verwandte sind. Und diese Partei hat eine kulturelle Komponente, die nicht über bedeutsame und wichgtige Namen sich transportiert, sondern über die Heimat der Zurückgebliebenen und Ortlosen, also dem Paradox der ortlos Sesshaften. (Die ÖVP hat zur Zeit so wenig Kulturpolitik wie andere Parteien, Widerstand sortiert sich heir stark individuell personalisiert, was auch wieder Mut macht).

Aus der Migrationsstatistik:

Nach deiner UNO-Definition war der Prozentsatz der Immigranten in ausgewählten Mitgliedstaaten Europas 2014

Land

Anteil

Am meisten vertretene Herkunftsländer

Luxemburg Luxemburg

45,28 %

Portugal, Frankreich, Italien

Spanien Spanien

10,06 %

Rumänien, Marokko, Ecuador

Österreich Österreich

12,42 %

Deutschland, Serbien, Türkei

Belgien Belgien

11,29 %

Italien, Frankreich, Niederlande

Deutschland Deutschland

8,68 %

Türkei, Italien, Polen

Vereinigtes Königreich Vereinigtes Königreich

7,77 %

Irland, Indien, Pakistan

Italien Italien

8,1 %

Rumänien, Albanien, Marokko

Schweden Schweden

7,12 %

Finnland, Irak, Polen

Frankreich Frankreich

6,31 %

Algerien, Marokko, Portugal

Niederlande Niederlande

4,37 %

Türkei, Marokko, Indonesien

 (Quelle. Helmut Schramke, Wien).

Es gibt unheimlich viele Deutsche in Österreich, aber nur heimlich viele Österreicher in Deutschland. Wer ist der Fremde? Sprache verbindet, sie trennt auch. Wie ich immer sage: deutsch ist nicht österreichisch. Das wissen auch die Verlage und Rundfunkanstalten usw. Aber Verständigung kann auch geschehen:

Ein Deutscher hielt eine sehr gute Rede zur Eröffnung der Klagenfurter Literaturtage: Feridun Zaimoglu. „Es gibt keine redlichen rechten Intellektuellen“. Er nimmt die Hassobjekte der Rechten ins Visier, die Frauen, die Armen, die Fremden. Dabei gibt es viele Frauen, viele Arme, viele Fremde auch in Österreich, die sich dem reaktionären Diskurs der Heimattreuen anschließen, und damit die demokratische Heimat – für die wir seit vielen Jahren streiten, die wir nie gehabt haben – gleich miterleben. (Vollständiger Redetext: derStandard.at/Kultur 5.7.2018). Man verleiht Preise an ausländische Österreicher*innen, an fremdsprachige Kärntner Slowenen, man thematisiert all das, was den heraufziehenden Nazismus so gefährlich und sichtbar macht. Wie kann man anngesichts dieser Meinungsfreiheit etwas tun? Die Meinungen sind wichtig und müssen gebildet sein/werden, aber sie sind (noch) nicht Politik. Auf kulturellem Gebiet halte ich die Konfliktdiskurse in Österreich weiter entwickelt als in Deutschland, weil es eben nicht um die deutsche Kultur geht. Da  ist noch eine Menge Multikultur in Österreich, die die Nazis und ihre Verbündeten in der Bevölkerung gerne gleichschalten wollen. Auf dem Weg zum Hotel gehe ich zweimal täglich am Geburtshaus von Waggerl, dem Nationalsozialisten, Volksschriftsteller, zweifelhaften Fotografen und Publikumsmagneten vorbei. Der hat die Nachkriegszeit in gewisser weise „geeint“, weil sie entpolitisiert zum nationalen Kitsch einer nicht existierenden ethnischen Nation machte (dass er Hamsun imitiert hatte, dass er die christliche Weihnacht vereinnahmt hatte ist dabei wenig wichtig; wichtig ist, dass auch ich noch als Pfadfinder im Großen Salzburger Festspielhaus seine Charade sehen musste, kontrafaktisch,  ich war damals gerade erstmals aktiv adoleszent aufgewacht; dass ich damals mit meinem geäußerten Unbehagen keine Resonanz fand, das drückt noch heute).

Mit der Zwischenkriegszeit müssen wir uns wieder und unter anderen Gesichtspunkten beschäftigen. In Österreich ging da seit den Festspielen nach dem I. Weltkrieg eine andere Entwicklung als die der deutschen Nazis. Über die Dissonanz zwischen Austrofaschisten und Nazis habe ich schon mehrfach geschrieben, aber wo waren unsere geschichtsbewussten und kritischen Intellektuellen in meiner Kindheit, sagen wir bis 1957…? Die damals begonnen hatten, diese Jahre nach 1918 aufzuarbeiten, damit wir in den 60er Jahren das Material gehabt hätten. Es gab sie, sie sind etwas vergessen. In meine Schulbildung haben sie bis auf zwei außenseiterliche Lehrer nicht hineingewirkt – denen im Nachhinein eine Verbeugung.

Zu Gastein, ein letztes Mal. Hätte ich Rheuma, ich machte hier eine Kur im Radonstollen. Führe ich noch Ski, käme ich nicht mehr hierher. Beim Abstieg vom Berg gingen wir neben Waldwegen auch teilweise Skiabfahrten hinunter, mittlerweile gepflegt begrünt. Begleitet wurden wir von dunkel verhüllten schwarzbraunen Rittern, die die Schneekanonen verdeckten, die Skifahren überhaupt möglich machen. Das starke Herz Österreichs in der Mitte Europas verkriecht sich vor den Rittern des Klimawandels.