Ein schöner Herbst – Reisebericht Ahrntal 2020.
Gerade als ich das Reiseblatt fertig geschrieben hatte, las ich: Ed Vulliamy: Will Covid Change Italy? New York Review of Books 24.9.2020, 82-85. Man versteht sehr viel mehr von Italien nach diesem kurzen Artikel – und damit auch, auch!, von Südtirol.
Das ist nicht einfach ein Tagebuch, dazu wäre ein solches zu privat. Auch bin ich kein Influencer, der doch zu Recht das Ahrntal und den Bühelwirt in Sankt Jakob anderen empfiehlt; unter anderem, weil man sich um Besucher dort keine Sorgen machen muss.
Ambiger Beginn, sehr mehrspältiges wird hier neben einem Reisebericht aufgeschrieben, der ein letzter sein könnte, was Ahrntal betrifft, was nicht zuletzt vom Hund abhängt. Wir haben wirklich nicht gewusst, wie unser Hund Fia auf das neuartige Ambiente der hohen Berge, der Kühe und anderer Tiere (Gemsen, Hühner, Ziegen) reagiert. Der Hund unserer Freunde kennt sie ja…nun, das ist sehr gut gegangen.
Vorspiel: Zwei Tage in Innsbruck, im Stadtteil Mühlau: die Reichen haben hier mehrgeschossige, wohl teure Domizile in den Berg gebaut, zu hoch hinaus, meist aber nicht so schlimm wie im verhüttelten Tal. Ich begehe das neue Hangbiotop, Fuchsloch (Ischgl!) https://www.natopia.at/muehlauer-fuchsloch/, mit vier Libellenarten, vier Amphibienarten, einer Ringelnatter, Fröschen und sonst ganz schön. Auf dem Rückweg an einem modernen Links-Parteiwürdigen Garagenkonzept mit 30 Garagen für mehrere wohl Zweitwohnsitze in mehreren Häusern vorbei, mit großer Solaranlage und von unten nicht zu sehen – gut oder schlecht? Insgesamt immer mein Problem: wir argumentieren innerhalb unserer privilegierten Zone. Und da lebt es sich hier besser als in Deutschland, schöner, gesünder und vor allem mit Ausblick (theoretisch könnte ich die Brenner-Tunneleinfahrt von hier sehen, so bleibts es bei der Bergiselschanze von Zaha Hadid, und einer kleinen Kuh- und Schafweide direkt vor dem Haus, mitten in der Stadt).
Noch eine Stunde, ich werde die eremitische Zwischenetappe überwunden haben, wir treffen alle am Innsbrucker Hbf zusammen, um zu erproben ob Südtirol sechs Menschen und zwei Hunde in Quarantäne nimmt.
Das Ahrntal.
Einen Reisebericht schreiben, der nicht nur der eigenen Erinnerung dienen soll, ist nicht einfach, weil man gerade das weglassen muss, was einen sonst im Gedächtnisland bewegt und festhält: Gipfel, Markierungen, Meereshöhen, Ratschläge fürs nächste Mal. Wir kommen in diesem Jahr bestens zu sechst an, der Bühelwirt ist unverändert, die Wirte arbeiten sich freundlich & krumm, Schulbeginn für drei Kinder und eine Erstkommunion. Dazwischen noch der ganze lange Geburtstag, das alte Zimmer, der Hund hat wenig Gewöhnungsschwierigkeiten, macht aber für uns alles anders. Rücksicht auf Fia und Thematisierung des Hundes sind gleich zwei Komponenten, die den Urlaub verändern. Natürlich auch für die Freunde, die erstmals hier sind und sich mit dem alten Quartett über unterschiedliche Themen auch gut verstehen. Der Rahmen passt also. In den Rahmen gefüllt werden muss zunächst das Bühelwirtsessen, vorzüglich wie stets, aber auch besonders, zB. mit Mozzarella gefüllte Tomaten auf grünem Basilikumbrot, oder herrlichstes Rindfleisch. Und Käse. Und…Hausgemachte Torellonie mit Wildfüllung, Rosmarintaglierini, Wildkräutersuppe, Schlutzkrapfen, Kalbswangerl…
Am Montag steigen wir bei bestem Wetter zur Bärentalalm hoch, einmal taucht Mopsa, der andere Hund, aus dem Wald auf, weil die Forstsstraße nahe ist, Fia läuft sich ein. Die muss viel trinken, und manchmal ruhen, dann ist alles in Ordnung. Sie ignoriert die Lamas, bellt ein wenig bei einer Kuh, sonst nicht aufregend. Leider zu spät um weiter zu gehen, wir laufen den steilen Wasserfallweg hinunter. Die ersten von vielen Saunen, hygienisch und abständig. Vier Stunden Gehzeit ist die untere Norm.
Der nächste Tag bringt neues. Vom Bergwerk in Prettau den Knappenweg hoch, dann zur Brugger Alm, steil und schön durch den Wald, und oben dann ziemlich eben und sehr lang zur Stegeralm, dazwischen eine Kuhpanik von Birgit, filmreif wegen Fia, ich halte mich einfach zurück. Die Alm wäre nett, gäbe es nicht eine gemischt einheimisch-touristische Party rund um einen entsetzlichen Zitherspieler. Dessen Schlageradaptionen sind nur überzuckert, aber seine Heimatlieder gehören zu dem Tirol, das weiter unten noch einmal aufgerufen wird. Wir hätten ein paar Schritte weiterlaufen sollen, dann hätte es einen steilen geraden Abstiegsweg zur Stegerbrücke gegeben, so trotten wir lange eine ganz schöne Forststraße ins Tal, das letzte Stück Im Tuol über vorbildlich gemähte Wiesen.
Der Geburtstag beginnt mit der Torte, geschenkt und getrunken und geblümt wird am Abend, sie freut sich schon, alles besser als befürchtet. Wir steigen schnell und entschlossen zum Hühnerspiel hoch, würden ja vielleicht noch zum Mooskopf wollen, aber langsam zieht es sich zu. Im Rekordtempo in 40 Minuten (!) ins Tal, dann verzögert sich der Regen doch bis zum Abend, dazwischen können wir noch einkaufen (endlich ein neuer Anorak für mich, die Freunde kaufen montanofile Schuhe, so geht’s).
Am 17. Laufen wir den Sonnenweg talaus. Falken, kleine Wolken, es ist kühler geworden. Der Windbruch wird gequert, dann ins Keilbachtal. Der Hund verlangsamt den Fortschritt, man schaut genauer. Pionierpflanzengewirr, der Abrutsch über dem Bach, unersteigbare Sandwand. Die Voppichler-Kapelle überladen mit Gold, weil er unerwartet aus dem Zillertal zurückgekommen war (hier sollten die Übergänge schwierig sein, weiter hinten im Tal sind sie einfacher…). Drei trockene, verfallende alte Mühlen, schade. Ungern schaut man ins Tal, wo alles zugebaut wird, eine Schachtel neben der andern. Eigentlich wollte ich zum Keilbachmoos, aber Birgit stürmte schon entschlossen einen Weg zum (kleinen) Kellerkopf (=Köpfle), der durchaus schön und teilweise sehr steil war und kurz vor dem Anstiegssattel im Bruchwald endete. Den gleichen Weg zurück.
Die Konversationen sind anders, viel dreht sich um die DDR (Merkels Geschichte, bereichert durch die Erfahrungen der Freunde (Journalistenzeit und Erlebnisse in Wissenschaft und Politik); Afghanische Bekanntschaften; es dreht sich viel um Essen und um Einkaufen. Ich halte mich (nicht auffallend) zurück und schalte meine Paralleldenke ein – man kommt gar nicht dazu, alles zu verarbeiten, was man in dieser Abgeschiedenheit noch nicht versteht: Israel (die nichtdemokratischen Araber verbünden sich protrumpisch gegen die depperten Palästinenser, als ob sie sie damit vom Hals bekämen. There will be blood). Corona, die Zahlen steigen, steigen wie von weit, als reiften in den Zellen ferne Viren (schlecht). Hauptsächlich aber Vergangenheiten.
Leider heute Gruppenausflug zur Wollbachalm, ich würde diesen schönsten aller Tage gerne für etwas Hohes und Neues genutzt haben. Aber dann ist es doch ganz gut. Den üblichen Weg hochgelaufen, die Hunde sind fröhlich und wenn man so langsam geht, wie das die Gruppe kann, sieht man viele Details. Die Alm ist unverändert schön, leider wird im Tal nach oben der Bach begradigt, Baustellen. Schön wird das nicht, ein Stück Weideland dazu gewonnen. Zwei Paraglider segeln hoch, es ist warm. Schön frühherbstlich.
Tag für Tag. Berichtenswert für euch LeserInnen sind die Eintragungen in mein Tourenbuch nicht, für mich ein Anhaltspunkt über viele Sommer seit fast 70 Jahren. Im Tourenbuch keine subjektivierten Schmonzes, und besser realistische anstatt idealer Zeit- und Aufstiegsangaben.
25.9. Finale
Letzter Tag am Bühel, die Freunde sind abgefahren, gottlob mit unserem Gepäck, wir sind erleichtert: nur der Hund und zwei kleine Rucksäcke bleiben. Der angekündigte Regen kam pünktlich gestern Abend, nachdem wir noch in Weissenbach teilweise auf der Gögealm waren, ich nach einem Sturz am Vortrag auch auf der Almstraße, eher langsam mich in die zeitweise Behinderung einfindend. Der Sturz war am Asphalt und nicht im Felsen geschehen, lächerlich also und nicht heroisch, immerhin habe ich mich noch 4 km bis Steinhaus geschleppt, bevor wir heimgeholt wurden und ich mich eisgekühlt regenerierte. Nein, der Hund war nicht schuld, obwohl ihr Gezerre hin zu den Hühnern Anlass der Verrenkung war. Vor ein paar Tagen hätte es uns mit Fia viel schlechter gehen können, als der Hund einer vor uns aufspringenden und zu Tal eilenden Gams nachspringen wollte und nur ein scharfer Haltbefehl den Hund ab- und uns am Weg hielt. Das hat schon Nachwirkungen. Unmittelbar war die Erleichterung groß, auch die Vorsicht, die uns eine seilversicherte Stelle mit den Hunden nicht ratsam erscheinen ließ, sodass wir erst zu Tal nach Prettau und von dort, ein paar Meter weiter pomali auf die Stegeralm doch wieder aufstiegen, um die vor ein paar Tagen bemerkten Gamswürste zu kaufen. Der Wirtsvater (war der der Zitherspieler?) der ruhetäglichen Hütte war da und Birgit bewerkstelligte Hollersaft und Wurstkauf. Diesmal keine Kuhbegegnung mit dem Hund, hätten wir jetzt nicht brauchen können.
Am Dienstag hatten die Frauen die neuen Freunde nach Bruneck zur Heimfahrt gebracht und wahrlich schönes und schmackhaftes eingekauft, was anderswo durch ein weniger schönes Ambiente nicht so wertvoll erschienen wäre. In der Zeit sind Tom und ich mit den Hunden von Kasern über unzählige Serpentinen aufgestiegen, und von der Starklalm zum Biotop „Wieser Werfa“ und dann langwierig, aber nicht langweilig die Almstraße nach Prettau hinunter. Warum heißt das Biotop so? Es steht ganz viel im Internet, nur nicht, was Werfa heisst…(ausser, dass es mit „Werfer“ zusammenhängt, Wieser ist ein Familienname). Aber das Biotop ist wirklich schön, auch jetzt, wo die meisten Lurche schon abgetaucht sind und nur mehr wenige Blumen im Moos/Moor blühen. Man könnte jetzt zum Waldnersee gehen, eher durch eine Steinwüste, die auch schön ist, aber da wir immer so spät loskommen, war es jetzt zu spät. Macht nichts, der Preis des Gruppenrhythmus und vor allem der zeitraubenden Hunde hat vieles verändert: z.B. wo hinaus man besser nicht mit ihnen geht, aber auch, was zu betrachten man jetzt sehr viel mehr Muße hat. An diesen letzten sonnigen Tagen zähle ich sieben Schmetterlingsarten, fast alle bei uns im Norden nicht (mehr) sichtbar, und es gibt auch einiges sonstige Getier. Dichte Heidelbeermatten, nur mehr hier oben wirklich blauträchtig, ein Murmeltier pfeift. Was mich daran erinnert, dass wir abendelang Diskussionen über Existenz und Wesen des Pfeifhasen hatten (https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Pfeifhasen) hatten.
Dreizehn Tage wandern, das Wort Bergsteigen ist dieses Mal nicht wirklich angemessen, aber andere Qualitäten gewinnen an Gewicht. Die Ironie der Altersgerechtigkeit ist selbst Thema, aber nicht nur ironisch: wo wir überall schon oben waren, wenigstens ein Teil von uns, kann uns ja niemand nehmen, und es ergibt sich eine andere Frage: wenn wir jedes wieder kommen, ist der Riss zwischen dem, was wir schon kennen, und dem „Neuen“, das wir kennen lernen wollen, breiter: das Neue verlangt nach Wiederkommen, wir haben schon für nächsten September gebucht, die Geburtstagsfeier wird wieder in diese Zeit fallen und wahrscheinlich wird das Wetter ähnlich gut sein.
Nur ob und wie die Corona-Verhaltensregeln bleiben, sich ändern oder vergessen werden, ist ungewiss. Das allerdings ist ein ständiger Basso continuo bei fast allen Gesprächen. Auch hier in Südtirol können wir, Ort für Ort, die Zahl der Neuinfizierten wie die der Genesenen verfolgen, uns über Reisewarnungen echauffieren, die Franzosen bedauern, uns über reisende Verwandte Sorgen machen und die Covidiotenparties zugleich beschimpfen und beschütteln. Ganz ablenken kann man sich hier nicht, und die Disziplin im Bus und an der Rezeption ist vorbildlich. Der Abend teilt sich aber in zwei ganz andere Hälften: die kulinarisch schwer zu übertreffende beim Bühelwirt, so ausgezeichnet und vielfältig, aber auch ideenreich, dass das allein schon eine Ratgeberspalte füllen müsste (die Selbstverständlichkeit eines erstklassigen Hotels hat mehr als die Küche zu bieten, aber hier zeigt sich eine Routine des Herausgehobenen, die sich deutlich von einzelnen Ereignissen abhebt, also keine Eventkultur … Kommentare zu Speis&Trank, incl. Assoziationen mit der eigenen Kulinarik bzw. unserer Erfahrung damit in anderen Ländern, das ist die eine Hälfte. (Die Weinempfehlung gilt nur für uns: ein weißer Cuvée, Contessa, von Manticor, und ein Vernatsch von Girlan, nicht am oberen Ende der Preisskala…). Die wöchentliche Weinprobe fällt wie das Salatbuffet den strengeren Kontaktregeln zum Opfer, aber die Produkte können wir beim Geburtstag nachholen, auch das an der Erwartungskippe zum „nächsten Mal wieder“. Die tägliche Menüauswahl, am Vortag angekreuzt, hat sich ausnahmslos bestätigt, bis hin zum vegetarischen Angebot und einer ganzen Skala seltener Süßspeisen. Wie schön, dass der Alpenhauptkamm Italien und Österreich zusammenbringt, so wie Fulda und Werra in der Weser, nur grandioser. Und was die Nachtischvariationen betrifft…Sie haben aber auch einen besonderen Küchenchef hier, einen ziemlich jungen und erfindungsreichen. Ich will hier keinen Ausschnitt aus Essensmemorie geben, sondern Peter Altenberg persiflieren: Der letzte Gang war der beste…
Die andere Hälfte ist so politisch, ausgeklinkt unsystematisch, dass die anderen Themen auch noch zu ihrem Recht kommen, aber solange RI da sind, ist Afghanistan natürlich stärker belegt, und ich erstaune mich, wieviel ich weiß und nicht weiß, wen ich kenne und nicht kenne, und wie vergleichbar wir unsere Interpretationen ausbreiten. Spannend, wo das einmal nicht geschieht. Auch wenn wir täglich auf dem Laufenden gehalten werden, moma und Zeitungen und Spätnachrichten, die unglücklich zerspaltene Welt erscheint irreal und nur unsere hier „wirklich wirklich“, was aber natürlich auch an der gestundeten Zeit liegt, die morgen wieder zu Ende geht. Politisieren und seine Bildung, seine Privatkultur teilen und ausbreiten, das ist natürlich genau die Haltung der Elite, gegen die der Pöbel wettert und sie lieber zerstören möchte als ein Äquivalent zu bilden. Andererseits ist man hier so unbefangen wie zuhause nicht: das hat mit Elite nichts zu tun, sondern mit Distanz, zeitweise glücklicher.
An 11 Tagen nacheinander in Sauna gehen, ist natürlich auch ein Luxus. Wenn man vor dem Panoramafenster schwitzt, kann man die Bienen zählen, die sich an den lila Blüten der Blumenrabatte vor dem Fenster tummeln, dieses Jahr ungleich mehr als letztes. Das macht eine seltsame Form von Hoffnung. Ansonsten gibt es mehr Fliegen als Wespen, anders als letztes Jahr. Und eben zwei Hunde und nicht mehr nur einen. Ich bereue es keinen Augenblick, dass wir Fia mitgenommen haben, aber sie bestimmt ganz maßgeblich Ablauf und Art unserer Wanderungen. Es gibt eine Menge Hunde im Hotel, das hat den Vorteil, dass wir nicht im Speisesaal, sondern in der Gaststube am Eingang sitzen können, den Nachteil: dass alle eintretenden und weggehenden Hunde sofort gemustert werden. Während ich das schreibe, fängt Fia zu meinen Füßen Fliegen, sie erwischt sogar manches mal eine…
Was die Hunde bewirken, ist eine Verlangsamung der eigenen Körperbewegung, was wiederum ermöglicht, sehr viele Dinge genauer anzuschauen und zu bedenken. Ein kleiner Bach kommt von der Hollenzalm: kurz vor dem Tal stehen drei kleine Mühlen von 1840, mit intakten Einblicken in die Mechanismen, sozusagen noch betriebsbereit…Man kann sich erinnern, was Mühlen bedeuten. Carlo Ginzburg kommt einem in den Sinn (Der Käse und die Würmer, zuletzt Wagenbach 2011), und was es bedeutete Müller zu sein, oder auch die Schöne Müllerin, die das Gewerbe von den andern Handwerken so deutlich unterschied… So kann man nur assoziieren, wenn man nicht einfach schön sagt und vorbeizieht; wenn man sich mehr Zeit gibt. Oder man läuft lange genug durch die großen Wälder, um die Lärchenböden mit ihrer Vegetation zu würdigen und die Fichten noch weniger zu schätzen. Was einen zum großen Windwurf vor zwei Jahren („Vaia“) bringt, den man unter anderem durchqueren muss, wenn man oberhalb Steinhaus in die Täler einbiegen möchte (letztes Jahr konnte man noch gar nicht durch). Jetzt sieht man die Flachwurzeln herumliegen im steilen Hang, das Bruchholz ist weg, nur ein paar ganz lange Markierungsbäume stehen herum. Die Pionierpflanzen haben das Regime ergriffen, ganz Wälder von abgeblühten Königskerzen schauen aus wie Science Fiction Deckblätter.
Die Abschiedssymphonie wird durch Regenstürme und Gewitter unterbrochen, da möchte man nicht draußen sein.
Dass das Tal so besonders schön ist, für mich, wohlgemerkt, für einige andere, wirft eine drängende Frage auf, nach dem Grund dafür, jenseits aller Prospekte, Erzählungen, Clichés es gerade hier besonders zu empfinden, und nicht gleich Theorien zur Landschaftsästhetik und Vergleiche heranzuziehen. Was haben wir Ende der 70er Jahre, im „Arbeitskreis Natur“ uns nur am Rand der Antwort bewegt, meist die Naturwissenschaften aus den Angeln gehoben und Ernst Bloch als Fährmann engagiert. Nur Brigitte Wormbs hatte schon damals die Antwort gesucht, wir fanden Gefallen an ihrer Erzählung, verstanden aber nicht eigentlich die Frage (Vgl. „Andere Ansichten der Natur“ SDZ, 1978). Das ist jetzt weit weg, aber sicher sind die Verbindungen zur Gegenwart und die Überlegung der Haltbarkeit dieser Schönheit wichtiger als die widerstandsfähige Beharrlichkeit zu wissen, was schön, was nicht. Es gibt zwischen den Häusern, die meist engzusammenstehen, noch viel Grün. Für mich ärgerlich mir vorzustellen, wie in zehn, fünfzehn Jahren der Talgrund durchgängig bebaut sein wird, jetzigen Boom folgend. Aber vielleicht ist das normal, und mein Talgrundgrün ist kitschig auf dem Privileg bestehend, meine Anordnung der Zivilisation zu bewahren, so wie die hochgelegenen Bauernhäuser am Hang, die sich nicht vermehren und deren Erschließung durch gut befestigte asphaltierte Straßen man jederzeit verteidigt. Auch freuen mich die hohen und oft sehr steilen Wälder, in denen sich oft Felsen verstecken, und die weniger steilen Übergänge der Almen, bevor die massiven steinernen Kämme und Scharten und Spitzen beginnen, also die Anmutung an eine idealisierte (nicht ideale) Landschaft, die sich aus vielen Erfahrungen, Begehungen, Ansichten zusammensetzt, z.B. könnte, wollte ich da hinauf. Auch bei negativer Antwort bestimmt der Wunsch oft das Urteil über die Schönheit eines Bergs, einer Spitze. Und natürlich die Farben, die Nebelspiele, die wohl jahrhundertealte Verbindung zu einer Kultur, die viel hinterlassen hat. Direkt unter dem Bühel, nah der Straße ist ein größeres Agraranwesen, dessen altes Haupthaus, 1750 ca., durch einen Holz-Glas-Kasten bewundernswert umbaut ist, und das alte Haus bewohnt und integriert auch sehen lässt: sagt die sehr alte Bäuerin, die wohl daneben wohnt, auf die Frage, wie es ihr gefiele, nur Böses. „Es passt nicht ins Tal“. Aha. Das Argument kennen wir aus den historisierenden Diskussionen um die Potsdamer Innenstadt und Garnisonkirche. Was passt wozu? Bei uns, beim Bühelwirt, haben die Architekten Pedevilla vor fünf Jahren ein Anbau mit 20 Betten gebaut, der ähnlich umstritten war. Nicht im Stil der älteren Häuser rundherum, sondern abgesetzt: neu ist neu, und gut und heute nicht mehr wegzudenken, auch wenn man in diesem neuen Trakt wohnt, voll mit Tal&Berg im Blick vor den großen Fenstern. Wir wohnen im alten Hausteil, auch gut und unverändert zuhaus, Hunde sollen nur hier wohnen. Das führt von selbst zur Selbstbefragung, was mir passt und er öffnet eine recht eingeschränkte subjektive Perspektive, die man nicht der Theorie künftiger ländlicher Ästhetik opfern muss. Aber umgekehrt ist ja der Wert alter und auch ganz neuer Architektur in einer bestimmten Umgebung nicht nur eine Frage des subjektiven Urteils, auch nicht nur eine der Funktionalität, auch nicht allein Erwartung unterworfen, dass möglichst viele Auswärtige (Touristen…Zweitwohnsitzler…) bestimmte Ambiente besonders schätzen werden…Lacht nicht: auch ist die Landschaft schön, weil das Essen beim Bühelwirt so gut ist…und die vielen Auchs machen einen Rahmen, in dem es zum Beispiel wichtig ist, dass man sich gut erholt. ![]()
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Den Zug der tausenden Jüdinnen und Juden über den Tauernpass habe ich erwähnt, die diesen Übergang ins Zillertal anders sehen lassen als die andern Jöchels, die wir auch bestiegen haben (https://www.sn.at/wiki/Krimmler_Judenflucht). Den Gletscher an der Lenkjochhütte, der jährlich sich verkürzt, habe ich auch schon beschrieben. Dazu kommen noch mehr „gesellschaftliche“ Interventionen, die unser Bild von der Landschaft rahmen. In einem Stollen des Bergwerkshangs hinauf zur Rötalm müssen drei Generationen (!) von Knappen gegraben haben, bevor man überhaupt Erz fand. Überhaupt erscheint die Bergwerksgeschichte im hinteren Tal wie eine Einführung in den vorkapitalistischen Klassenkampf. Auch die lehnsabhängigen und fronarbeitenden Bauern erlauben keinerlei Romantisierung von Epochen, in denen „der Bauer“ eben auch ein beschränkter Herr war, und oft bis heute (ist es nicht fast obszön, empathisch beim Handmähen steilster Wiesen, großer wohlgemerkt, zuzuschauen, wenn anderswo der Roboter den flachen Zierrasen rund ums Haus beteppicht? Natürlich nicht, aber bedenken sollte man es).
Jetzt, beim ersten Schnee, freut es schon, dass die meisten Wiesen rechtzeitig gemäht und das Heu eingebracht worden ist, gutmechanisiert, auch hier der EU sei Dank, wie bei so vielen Details, wie der Milch, den Radwegen, dem Wasser- und Lawinenverbau. Beim letzteren ist eine Beobachtung wichtig: die vielen Reihen mächtiger Stahlbarrieren und Gitte an den Südhängen lassen sofort wieder die ästhetische Frage stellen, sie sind selbst nicht schön, sie stören bestimmte Ausschnitte jener Landschaft, die sie in Gänze erhalten. Wo das nicht geschieht, kann man die Geschichte des Wollbachtals mit seinen Erdrutschen studieren oder die Folgen des Sturms Vaia 2018…unter keinen Umständen „schön“.
Nicht nur der EU sei Dank, auch dem Autonomiestatut, das Bruno Kreisky mit den Italienern und der UN für Südtirol ausgehandelt hatte (http://www.provinz.bz.it/politik-recht-aussenbeziehungen/autonomie/autonomiestatut.asp). Die Nachwirkungen der Auseinandersetzungen von 1915 bis zur Befriedung des Konflikts (https://www.mediathek.at/akustische-chronik/1956-1969/suedtirolkonflikt/; https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Suedtirols) kann man heute noch nachlesen (In der einzigen deutschsprachigen Tageszeitung „Dolomiten“ war dieser Tage noch immer ein Inserat der „Heimattreuen“ zu finden, die Frieden von St. Germain schmähen und auf einer fiktiven Staatlichkeit/Volksthumbssouveräntität bestehen, die sie selbst nicht erklären können. Ich erinnere aber auch noch die Aufregung um die Bombenattentate davor, an Georg Klotz (Einigermaßen objektiv: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Klotz, nicht ganz so: https://suedtiroler-freiheit.com/team/georg-klotz/), die durchaus am Familientisch besprochen wurden. Das ist jetzt gerade zwei Generationen her…wie vorgestern. Ich denke allerdings, der unerhörte Wohlstand der Region und das Ansehen (im doppelten Sinn) haben die Souveränitätsfrage in eine fiktive Welt gesetzt. Obwohl es in Österreich politische Idioten, natürlich überwiegend bei der faschistischen Rechten, aber nicht nur, gibt, die den deutschsprachigen bzw. -stämmigen Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft als zweite geben wollen (Schon 2017: Wählerimport aus Südtirol: Der Standard 23.12.2017, S. 13; aber: https://www.derstandard.de/story/2000110222050/suedtiroler-wollen-keine-oesterreicher-werden; https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/warum-der-doppelpass-fuer-suedtiroler-vorerst-geschichte-ist-16585615.html)… Die Verbindung von Tirol mit Österreich, bis hin zur Frühgeschichte der Margarete Maultasch mit ihren „gewulsteten Lippen“ (Feuchtwanger) ist aber auch deshalb interessant, weil die Reaktionäre in Österreich mehrheitlich weit hinter den Konservativen, also auch Liberalen, in Südtirol herhinken.
Epilog
Drei Gruppen EU feindlicher Polizisten kontrollieren uns heute am Brenner und hinter Kufstein, die deutschen am genauesten, ganz ist der Schoß, aus dem das kroch, noch nicht ausgetrocknet. Ansonsten aber funktioniert die Autonomie ganz gut, und die gerade abgehaltenen Gemeindewahlen zeigen die systemische Wichtigkeit der kleinteiligen Politik…verglichen mit anderen europäischen Regionen eher nur Gutes zu vermelden.
Seit 15 Jahren fahre ich nicht mehr Ski. Davor war ich oft in Südtirol und habe bisweilen im Sommer die Zerstörungen an Natur und Lebenswelten durch diesen Sport sozusagen hinnehmend festgestellt. Speikboden und Klausberg wären die Studienobjekte im Ahrntal, an denen sich Meinungen dazu differenziert bilden ließen; aber ich verteidige zäh die „kleinen Idiotenlifte“, die wohl den Kindern noch Freude bringen, wenn der Klimawandel die FIS-Abfahrten endlich beseitigt haben wird. (Kürzlich habe ich am Semmering in Österreich, ca. 1000 m Seehöhe, ganze 48 Schneekanonen für eine Abfahrt gezählt, die mich früher 2 Minuten gekostet hatte. Die Quell- und Naturzerstörung ist natürlich hier genauso schlimm, es tut mir nur hier noch mehr leid).
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Würde ich einen traditionellen Touren- und Wanderbericht schreiben, müsste ich mit den vielen, teils besseren, teils fahrlässigen Wanderführern und Prospekten wetteifern. Ich will das nicht, aber den LeserInnen meines Blogs mitteilen, wie ich mir ohne zeitlichen Abstand, heute kehren wir nach Potsdam zurück, den Begriff der Erholung auch konstruieren kann, ohne Gesundheits- und Physioesoterik. Zu der schönen Landschaft gehört – neben dem angenehmen Leben beim Bühelwirt, neben Kulinarik und Oinophilie – die Muße und Ruhe, sich von dem Irrtum von der unberührten, ursprünglichen Natur zu verabschieden; stattdessen kann man weit in die Vergangenheit hinein seine Umgebung lernen und sich dennoch an den Schmetterlingen freuen (das ist noch politisch korrekt).
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Also ich, wir haben uns wirklich erholt in diesen 14 Tagen, und die Frage: wovon? ist so wichtig wie die Geschichte des Tals für seine Reflexion, auch die Frage wofür? gehört dazu. Man kann immer, auch im schönsten Urlaub, alle seine kritischen Überlegungen in die Umgebung und sein eigenes Befinden einbringen, aber manchmal ist es besser und richtiger, mit dem Philosophen Ernst Bloch das „Gut Gelungene“ festzustellen und es dankbar dabei zu belassen:
Im nächsten Jahr sind wir wieder am Bühel im Ahrntal und freuen uns am Wiedererkennen des schönen Tals mit seinen Bergen.