Kein Respekt

Keine Wut hochkommen lassen, keine Trauer oder Ohnmacht. Schimpfen fällt jetzt so leicht wie die Aggression gegen die, die bisher entgegen allen Einsichten und Signalen, nichts oder das Falsche gemacht haben; da ist viel Autoaggression dabei, und Selbstkritik nur auf der Ebene, wo es Institutionen trifft, also die Personen nicht direkt angreift.

Ich hatte mit dem Brexit gerechnet, seit langem. Dass er so vergleichsweise knapp gekommen ist, hat mich dann doch überrascht. Bei den Reaktionen gestern (24.6.) hat mich einiges gewundert. Viele Politiker erklärten beflissen, sie respektierten das Ergebnis. Da begann ich zornig zu werden. Wenn man gesagt hätte: wir akzeptieren, dass die Mehrheit so abgestimmt hat, dann ist das eine von jedem Wunschdenken entkleidete Kenntnisnahme. Aber Respekt…? Wen denn, was denn respektieren?

Eine klare Verhöhnung von Demokratie, über etwas abstimmen zu lassen, was so gar nicht geht. Einen Premier respektieren, der ohne Not eine Volksentscheidung aus Wahltaktik inszeniert hat und in seiner Erbärmlichkeit noch eine gute Nachrede sucht, wir sollten respektieren, dass er auf der „richtigen“ Seite gewesen sei? Eine grobe Verletzung der Gewaltenteilung respektieren? Dummheit und Verführbarkeit respektieren? Den Protest der Überreste von Arbeiterklasse – frustrierte Labour-Wähler, Kleinbürger – respektieren, weil sie gegen die Empfehlungen der Wirtschaft gestimmt haben, habituell, nicht reflektiert als Bestandteil von dem, was heute Klassenauseinandersetzung sein könnte? Respekt vor der Illusion, den Kadaver eines Empire durch ein winziges Mehr an Souveränität zu beleben – Zombie-England, noch mehr Pudel der USA, noch weniger politisch und kulturell ansprechbar? In diesem Respekt würde sich auch die Entschuldigung für unseren Beitrag zu diesem Referendum abbilden. Aber zu dieser Revision der Griechenland-Politik, der ökonomischen Schlagseite, der Unfähigkeit die Grenzenlosigkeit zu verteidigen, unsere regierungsamtlich abgesegnete Angst vor dem Terrorismus zu Lasten unserer Freiheiten, all das soll nicht zählen? Respekt füe Jugend, die Städte, die in Europa noch eine Hoffnung sehen und deshalb ja auch an der EU etwas ändern können. Aber keinen Respekt vor einem Ergebnis, das keines ist, schon gar kein demokratisches.

Nein, kein Respekt. Schon heulen die Rechtsradikalen und Nationalisten. Kaczinsky wettert gegen ein föderales Europa, er, in dessen Land kein neuer Stein ohne den Regionalfonds der EU gesetzt wird. Putin labt sich an einer selbstinduzierten Verwirrung. Gabriel kann Englisch („Damn“), wie sein Twitter belegt… Ich muss an mich halten, um nicht in ein Gegenschimpfen einzustimmen.

Analysieren wird weiter notwendig sein, aber es wurde ja schon lange vor dem 23.6. damit begonnen. Wenn wir eine so genannte Wertegemeinschaft sind, dann hat das etwas mit Europa zu tun, aber nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt mit der EU. Europa, das meint einen gesellschaftlichen Verbund, der irgendwann ein Bundesstaat, eine europäische Republik (Ulrike Guerot) werden kann, aber jedenfalls kein Staatenbund allein, ohne diese Perspektive. Vergemeinschaftete Werte, internalisierte Werte, sind nur gesellschaftsbindend, wenn sie die Kommunikation, das Aushandeln, die republikanische Option über jedem Nationalismus, ernst nehmen.

Merkel hat richtig daran erinnert, dass Europa ein Friedensprojekt war und ist, sofern die EU diesem Projekt seine politische Gestalt gibt. Frieden ist das Produkt von ständiger, nimmer ruhender Konfliktregulierung, nicht von Nichtangriffspakten und Toleranz der Mächtigen gegenüber den weniger Mächtigen. Die EU ist im besten Fall das Ergebnis einer dürren, aber nicht dürftigen politisch-ökonomischen Einsicht: Konfliktregulierung ohne wirtschaftliche Regulierung kann nicht funktionieren. Frieden kann sich nicht in Kulturfestivals und Freundschaftsbekundungen vor Fahnenstangen erschöpfen. Er muss damit beginnen, immer wieder dynamisiert, dass die Konflikte benannt und verstanden werden – und es ist immer Keim der Gewalt darin, dass man Angst respektiert, die selbst den Konflikt schürt.

Kleiner Einschub: Oft werden Werte mit Tugenden verwechselt. Ein Beispiel – Transparenz in allen öffentlichen Agenden ist ein Wert; Solidarität ist eine Tugend, die ohne die politischen Rahmenbedingungen jenseits der Individualität nicht praktizierbar ist. (Ich weiß, werte Ethik-Kolleg*innen, das ist kein philosophisch haltbares Beispiel, es entstammt der Praxis-Betrachtung eines Kommentators). Ja, wir sollen tugendhaft im politischen Feld und jenseits der Privatheit handeln, aber Werte…?

Zurück zum Brexit: Souveränität des Nationalstaats ist jedenfalls kein Wert mehr. Die Bauernfänger Farage, von Storch, Orban und wie sie alle heißen, bemühen einen Popanz, von dem es nur eine unscharfe Erinnerung im kollektiven Bewusstsein gibt, und eine idealisierte Version im kulturellen Gedächtnis. Wann je im letzten Jahrhundert der Nationalstaat supra-nationale Vereinbarung, Teilung von Souveränität dauerhaft übertroffen? (Vielleicht die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit, vielleicht kurze Zeit die Briten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs…ich muss keine Vollständigkeit herbeireden). Souveränität hat für die Exkommunisten im neuen, östlichen Teil der EU einen hohen symbolischen Wert, weil es das Gegenteil der Unterwerfung unter den Stalinismus der Sowjetunion andeutet. Dass diese gleiche Souveränität heute eine scharfe Waffe in der Hand von Nazis, Rassisten und Ethnophoben ist, fällt den identitären und völkischen Nationalisten – auch in westlichen EU-Ländern, vielleicht auf, aber sie denken gar darüber nach, dass vielleicht in der Nation mittlerweile die politische Koordinate Rechts-links gar nicht mehr zählt. Sie erfinden das Volk, um völkisch sein zu dürfen. Das aber sind gar nicht die vielen, die sich gegen ihre Repräsentanten auflehnen, frei sein wollen von der regulierten Freiheit, die ihnen die Zukunft verbaut und weitere Hoffnung nimmt, während die Börsen von Zuversicht regiert werden.

Wir aber sollten beginnen, unseren Kosmopolitismus ernst zu nehmen.

Wer ist der Souverän der Weltbürgerschaft? Hier entsteht eine Antinomie. Denn unter dem Imperativ von wirklicher Gleichheit, zumindest vor den Grundgesetzen, sind sie alle Souverän, auch die, die sich kontrafaktisch gegen eben diese Gesetze auflehnen. Die muss man ernst nehmen, nicht ihre Ängste und Befindlichkeiten. Wie geht das? Das ist uns, den Eliten, abhandengekommen. Um es deutlich zu machen, wir haben unsere Mitgliedschaft im Establishment so wenig gewählt wie unsere Zugehörigkeit zu den Eliten, die die Deutungshoheit – mitsamt ihrer Kritik – gepachtet haben; wer hat uns da hin gestellt? Da herrschen keine übermächtigen Gesetze, die uns dahin zwingen, aber im Zweifel nutzen wir guten Gewissens den Freiraum und begründen ihn mit der Möglichkeit zur Kritik der Verhältnisse, an deren anderem Ende der Souverän sich ebenso aufhält, aber den Begriff – die Souveränität, Selbstbestimmung und andere Phantasmen – auf ein Programm reduziert: wie heute Morgen ein ausnahmsweiser, sehr kluger Kommentator sagt: die sind so hoffnungslos unten, dass es ihnen scheinbar nicht schlimmer kommen kann, dann suchen sie Befreiung von der Einsicht in diesen Zustand…Da setzen sich natürlich die Spoiler drauf.

Weltbürgertum erfordert aber jene Gleichheit, die nur im ganz Kleinen oder in der gewalttätigsten Diktatur vorherrschen kann. Für diese Gleichheit taugen die gängigen Staatsmodelle nicht.

Dazu kann ich keine kurzen Anmerkungen schreiben. Aber was den Respekt und die Akzeptanz betrifft: die meisten EU Politiker weit oben üben sich in beschleunigender Akzeptanz, als würden die anstehenden Verhandlungen den Schmerz lindern; noch fühlen sie sich nicht zum Handeln gezwungen. Respekt hingegen sollten wir denen entgegenbringen, die sich in England auflehnen, die die große Petition schreiben und ihre Nicht-Unterwerfung unter eine Mehrheitsmeinung oder –stimmung praktizieren. Im Augenblick scheint es mir auf das „Ganz Kleine“ anzukommen, auf das Denken um handeln zu können.

Und keine Angst: die Engländer kommen zurück.

 

 

VETERANEN UND EINSATZRÜCKKEHRER

Seit mehreren Jahre arbeite ich an der Frage, wer die sind, die aus den Einsätzen militärischer Operationen zurückkehren, seien sie nun Veteranen der Bundeswehr oder zivile Einsatzbeteiligte. Manchmal fühle ich mich bei diesen Forschungen fast wie ein Einzelkämpfer, wobei die Terminologie keine vorab militärische Schlagseite hat. Nach vielen Anläufen haben wir es geschafft eine internationale Tagung zu organisieren:

 

Rückkehrende aus dem Einsatz. Diskurse und Lebenswelten einer emergierenden sozialen Gruppe

Internationale Tagung, 07.-09.07. 2016, Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg

 

Deployment Returnees. Discourses and Living Worlds of an Emerging Social Group

International Conference, 7th – 9th July 2016, Center for Conflict Studies, Philipps-University Marburg

Veranstaltet vom Center for Conflict Studies (CCS), Philipps-Universität Marburg, Prof. Thorsten Bonacker; Dr. Marion Näser-Lather (Philipps-Universität Marburg); Prof. Michael Daxner (FU Berlin SFB 700 und CCS Marburg). Der Tagungsort ist nicht das CCS, sondern der Deutsche Sprachatlas am Pilgrimstein 17.

TAGUNGSPROGRAMM

Thursday, 07.07.2016
16:00h-16:30h
Begrüßung und Einführung/Welcome and Introduction
16:30h-17:30h
Keynote
David Jackson (Exeter): Three days down south: a story of loss: an alternative representation of the culture of war
17:30h-18:00h
Pause/Break
18:00h-20:00h
Session 1: Returnees and their Experiences
Anja Seiffert (Potsdam): Von „heißen“ Kriegern und „kalten“ Organisationen. Zum Selbstbild von Afghanistanrückkehrern. Ergebnisse einer sozialwissenschaftlichen Langzeitstudie
Maximilian Jablonowski (Zürich): Commuter Fighters & differenzierte Stile technogener Anwesenheit: Zur Phänomenologie militärischer Drohnennutzungen
Lars Mischak (Rendsburg): Beheimatungsstrategien im Kriegseinsatz – Narrative deutscher Soldaten über ihre Zeit in Afghanistan
Ab 20:00h
Empfang/Reception
Friday, 08.07.2016
09:00h-11:00h Session 2: Disintegration/Re-Integration
Maria Vivod (Strasbourg):
A legal conundrum concerning war veterans: war veterans suing a country which was never officially at war for unpaid wages K. Neil Jenkings (Newcastle): Returning UK Reserve Forces: Experiences of Reintegration
Rachel Dekel (Tel Aviv):
Mechanisms of Transmission of PTSD Distress from Veterans to their Female Spouses
11:0h-11:30h Pause/Break
11:30h-12:30h Postersession
12:30h-14:00h Mittagspause/Lunch Break
14:00h-16:00h Session 3: Historical Perspectives
Sabine Kienitz (Hamburg):
Erinnern und Vergessen. Kriegsheimkehrer-Alltag nach dem Ersten Weltkrieg
Klaas Voß (Hamburg):
Veterans and Historians: The Problem of “Peacebreaker Narratives”
Michael Galbas (Konstanz):
„Unser Schmerz und unser Ruhm“: Strategien der Legitimierung und Funktionalisierung des sowjetischen Afghanistankrieges in der Russländischen Föderation
16:00h-16:30h Pause/Break
16:30h-17:30h Workshop I: Retournees Cultures
17:30h-17:45h Pause/Short Break
17:45h-18:45h Workshop II: Families and Relations
18:45h-19:00h Pause/ Short Break
19:00h-20:00h Round Table Diskussion: Wessen Sicherheit wird wo verteidigt? Zu den Einsätzen der Bundeswehr
Ab 20:00h Abendessen/non hosted Conference Dinner
Saturday, 09.07.2016
09:00h-11:00h Session 4: Social and Cultural Narratives
Tatiana Prorokova (Marburg): „I Don’t Belong Here Anymore”: Homeland as an Uncomfortable Space for War Veterans in Irwin Winkler’s Home of the Brave
Anne Menzel (Halle):
A Dangerous Class? The Gendered Aestetics of Danger in Sierra Leone
Ken MacLeish (Nashville) :
Supervising Survival in a Veteran Treatment Court
11:00h-11:30h Pause/Break
11:30h-12:30h Abschlussdiskussion/Paneldiscussion:
Thorsten Bonacker, Michael Daxner, Marion Näser-Lather 12:30h-14:00h Mittagspause/Lunch Break
14:00h-15:00h Konstituierende Sitzung des Netzwerkes „RückkehrerInnen“/Constituting Session of the Research Network „Returnees“

 

Homepage http://www.uni-marburg.de/konfliktforschung/veranstaltungen_tagungen/rueckkehrer_innen
ANMELDUNG zfk-rade@staff.uni-marburg.de
Nachfragen Frau Elke Hormel
Telefon: +49 64 21 / 28 24 520
Unterkunft http://www.tourismus.marburg.de/gastgeber/10
Ein Kommentar hier auf dem Blog ist auch willkommen michaeldaxner.com

Die Anmeldefrist ist zwar zu Ende, aber Nachzügler sind willkommen:

Bitte melden Sie sich für die Tagung bis zum 15.06.2016 unter der unten aufgeführten Emailadresse an.
zfk-rade@staff.uni-marburg.de

Die Tagungsgebühr beträgt regulär 20€, ermäßigt (für Studierende und Erwerbslose) 10€ und muss bis zum 23.07.2016 überwiesen werden. (Die Kontodaten werden Ihnen nach Anmeldung per Mail zugesandt.)
The conference fee will be 20€ respectively 10€ (for students and unemployed persons) and has to be transferred until July 23rd 2016. (The account details will be sent to you after registration via email.)

INHALTE

Bevor Sie sich anmelden, noch ein paar Informationen: Das Thema habe ich mit einigen wenigen Kolleg*innen ausgegraben, als sich abzeichnete, wieviele Veteranen aus dem Kosovo und vor allem aus Afghanistan von den Bundeswehreinsätzen zurückkehren – und die Zahl steigt – und wieviele in naher Zukunft (Mali, Frontex usw.) zurückkehren werden. Es geht hier um Deutungshoheit über die Einsätze und viele politische und soziale Fragen, die niemals unabhängig von der moralischen Rechtfertigung der Einsätze und der Legitimation derselben vor der Bevölkerung gesehen werden dürfen. Dazu eine kleine Auswahl von meinen Texten zum Thema:

 Veteranen. Wissenschaft und Frieden 4/2014
 Afghanistan – Vor dem Vergessen, nach dem Krieg. Osnabrücker Jb. Frieden und Wissenschaft 22/2015, 195-207
Afghanistan hat Veteranen produziert – Was nun? In: Bohnert & Schreiber (Hrsg.): Die unsichtbaren Veteranen. Miles-Verlag 2016, 107-118
Auch die anderen Veranstalter*innen haben dazu viel publiziert und es lohnt, den Namen im Tagungsplan je nach Thema nachzugehen. Die Homepage weist die wichtigen Ergänzungen und Neuerungen im Tagungsablauf aus.
Besonders wichtig erscheint uns ein Aspekt, die Friedens- und Konfliktforschung gleichermaßen betrifft: manche vorschnelle Kritiker monieren, dass wir zu viel Militär im Programm haben. Vorschnell sind sier nicht wegen ihres Anliegen – zivile Rückkehrer*innen – sondern weil es zu diesen zivilen Rückkehrenden fast keine belastbare Forschung gibt, das Thema ist also noch weniger relevant beleuchtet als bei den Veteranen. Das kann und wird sich in Zukunft ändern.
Der zweite Aspekt, der mir so bedeutsam erscheint, ist der internationale Vergleich – die Kulturen und Habitus der Rückkehrenden und ihre Umgebungskultur haben Deutschland weniger auf dem Schirm als Länder mit langen Veteranentraditionen, die übrigen alles andere als homogen und widerspruchsfrei sind.
Also: wen es interessiert, die oder der soll sich noch anmelden. Uns freut es!

 

ASYL,MIGRATION,AUSNAHMEZUSTAND

Dies ist die leicht überarbeitete Fassung meines Vortrags zum Dies academicus in Marburg. Es gab viele Parallelveranstaltungen und eine sehr vielfältige Palette an Aktivitäten, die dem Flüchtlingsthema gewidmet war.

 

Michael Daxner, SFB 700 Freie Universität Berlin

Mitglied des Hochschulrates der Philipps Universität Marburg

Dies academicus 15.6.2016

 

Asyl, Migration und der Ausnahmezustand

 

Wissenschaft hat eine große Verantwortung in gesellschaftlichen Zusammenhängen, die politische Praxis und ihre Konsequenzen produzieren und oft provozieren soll. Meine Thesen fasse ich wie folgt zusammen:

Es ist wichtig, Themen und Probleme auseinanderzuhalten; und, die erwünschte Normalität gegenüber dem perpetuierten Ausnahmezustand vorzuziehen.

Das Erste erscheint einfach. Aber es ist schwierig z.B. klar zu machen, dass Flüchtlinge keineswegs das Problem sind, sondern ein Thema, das vom Problem abgeleitet wird oder zu ihm führen kann. Das Problem ist die deutsche Außenpolitik, die Legitimation dieser Politik vor der Bevölkerung, aber auch vor den Lobbys, die unsere Regierung teilweise entmachtet haben (Waffen, Wirtschaft, Bündnisse etc.). Das Problem ist auch die EU Integration, deren Schwächen nicht mit dem nachholenden Nationalismus spättotalitärer Regierungsführung zugeklebt werden können. Flüchtlinge sollten schon deshalb kein Problem sein, weil die Probleme, die sie tatsächlich schaffen, unterhalb der Grenze von Herausforderung für unser Gesellschaftssystem liegen. Mit andern Worten: Dort wo diese Probleme tatsächlich gelöst würden sollte das unsere  Gesellschaft nicht prinzipiell verändern. Flüchtlinge würden dann zur Dynamik gesellschaftlichen Strukturwandels werden wie vie(s) andere auch.

Aber zum Zweiten:  für die Politik erscheint es einfacher, sich Legitimation durch die Ausrufung dauernder Krisen und dauernden Ausnahmezustands zu verschaffen. Das wiederum ist in der Außenpolitik manifest, in anderen Politikbereichen latent, oft nur als Stimmung wahrnehmbar: wenn behauptet wird, dass es Zurück zur Normalität ja wohl nicht gäbe….als ob das jemand wollte. Normalität ist ja nicht nur der durch die Quantifizierung der Welt entstehende Normalismus (wir danken Jürgen Link zu wenig für diese Überlegungen), sondern Normalität sollte ja vor allem die unablässige nachhaltige Dynamik der Konfliktbewältigung sein, also nie eine Wiederherstellung von Vergangenheit und vermuteter Stabilität. (Man braucht auch Konflikttheorie, um über Frieden zu sprechen).

Das bedeutet für uns Sozialwissenschaftler, Konflikte nicht als Störung einer konstruierten, auch funktionalen Normalität zu verstehen, wie das Parsons nahelegt; vielmehr sind sie konstitutiv für die andauernd zu entwickelnde gesellschaftliche Stabilität durch ihre Regulierung. Ich folge hier einer Theorielinie von Simmel über Coser zu Elwert und Dahrendorf. Das ist in der gegenwärtigen Situation ein wichtiger Hinweis darauf, dass Frieden nur auf Konfliktregulierung, nicht als Alternative zur bestehenden unfriedlichen Normalität beruhen kann, aus dieser Regulierung immer wieder entsteht und gesichert werden muss.

Aber genau darin liegt auch die politische Chance des Umkehrens aus der Sackgasse der trostlosen Verzweiflung an den Sachzwängen. Die Ideologisierung der Probleme, die darin besteht, aus Ihnen eine unübersehbare und bedrohliche Flut von Themen zu machen, kann man aufheben. Die Aufgabe der Wissenschaft, also unsere Aufgabe ist es,  gegen den Ausnahmezustand Argumente und Praktiken zu entwerfen, zu vertreten, in diskursive Strategien zu wandeln und einzugestehen, dass wir immer auch Teil des kritisierten Problems sind. Wir Wissenschaftler*innen, aber auch wir „Deutsche“, also Bürger*innen dieses Staates und Mitglieder dieser Gesellschaft, wir Citoyens, möchte man Volksgemeinschaftsideologen zurufen.

Ich werde diese Sicht aus unserer Tätigkeit heraus und nicht aus dem Blick auf sie, auf die Wissenschaft entwickeln, denn von welchem Standpunkt aus als einem des bloßen Mitleids oder einem normativen Korsett von erwarteter Korrektheit könnte diese Außensicht bestehen?

*

Seit einigen Monaten sind alle Medien, alle Kommentare, alle Erklärungen anscheinend klüger geworden. Das Gemurmel der Diskurse hat einige Hauptströme gefunden, die werden immer und immer variiert, bis man den Überblick verliert und doch ungefähr weiß, was und wie der Mainstream denkt. Man, das heißt auch wir, hat seinen Mainstream. Es gibt mehrere solcher Ströme, die sich bisweilen, aber selten treffen, und die Betten für die großen Diskurse immer mehr vertiefen und die Ufer befestigen. Auf meinem Tisch häufen sich die Stapel mit den Belegen, im Computer sammeln sich die Quellen. Im wahrsten Sinn der frühen Diskurstheorie: wen kümmerts wer spricht? Nur manchmal, wenn unerwartet jemand, von dem wir anderes erwarten, aus der Reihe tanzt, werden wir hellhörig. Sloterdijk, Safranski, Winkler. Man bringt sie schnell wieder in Beziehung zu den großen Strömen, in denen das MAN erlaubt, sich die Konsequenzen des ICH DENKE nicht zu stellen.

Sie haben, meine Damen und Herrn, liebe studentischen und akademischen Freund*innen und Kolleg*innen, diese Einleitung nicht erwartet? Ich habe mich ziemlich gequält, denn man muss etwas zu den Flüchtlingen und zur Politik sagen, ich muss es, andere müssen es, aber was, das nicht in die feindifferenzierten Kenntnisse jedes Auditoriums tropft und dann ebenso differenziert als Deja vu, Deja entendu abgelegt wird. Vor mir also liegen die hauptsächlichen Aussagen:

  • Wir müssen die Fluchtursachen dort bekämpfen, wo sie entstehen. Dann werden viele Menschen nicht flüchten wollen, sondern in ihrer Heimat leben bleiben.
  • Wenn die Flüchtlinge schon hier sind, dann angemessen verteilt und keinesfalls privilegiert. (Siegmar Gabriel und Claudia Pechstein sind die Exponenten solcher Rede). Wir interpretieren das Asylrecht in den Grenzen des von uns für sinnvoll und möglich erachteten.
  • Wir müssen Flüchtlinge und andere Migrant*innen voneinander systematisch trennen, ein Einwanderungsgesetz könnte dann die politische Ökonomie des ertragreichen Zuzugs von der Sozialabgabe aus humanitären Gründen trennen.
  • Wenn die Flüchtlinge, die Geduldeten, die subsidiär Geschützten schon da sind, sollen sich nach unseren Werten und Ordnungen orientieren, also integrieren. Ich halte die Integrationspriorität für übertrieben oder falsch. Flüchtlinge retten ihr leben und erwarten Hilfe zum Leben, nachdem sie überlebt haben. Ob sie daraus den Wunsch nach Integration entwickeln, liegt primär an uns. Fragen nach Assimilation, Akkommodation, Multikultur, Diaspora liegen alle näher als der Herrschaftsanspruch, der sich hinter Integration auch verbirgt.

Es gibt dazu Varianten, aber im Großen und Ganzen sind es diese vier Argumentationsstränge, die den Diskurs beherrschen. Dann gibt es noch einen zweiten Sektor, der ursächlich nicht viel mit den Asylsuchenden zu tun hat:

  • Wir müssen die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen; hierzu knapp und deutlich: nein, das müssen wir im Kollektiv nicht, auch nicht jede Person muss die Ängste von anderen ernst und wichtig nehmen. Es kommt auf den Kontext an, in dem diese geäußert werden; für die Sorgen spielt dazu noch die Begründetheit eine Rolle, zumal für die Politik.
  • Wir müssen die Besorgten von den Scharfmachern und politischen Führern trennen, die einen wieder in die Anerkennungsmuster der Politik holen, die andern kritisieren, ausgrenzen, beschweigen oder beschimpfen. Dahinter stecken zwei gefährliche Argumente: zum einen enthebt man die Anhänger*innen der Hassprediger und Idelogen der Haftung für ihre Gefolgschaft, ohne die es keine Führer gäbe. Und zum anderen ist es schwierig, statt abzulehnen und anzugreifen sich auf Argumente einzulassen, wo es keine tragfähigen, kritikoffenen Begriffe gibt, wie etwa in den Parteiprogrammen von AfD oder Pegida (ich verweise da auf Salzborns Ansprache zum Auftakt des Dies).

Die Ausdifferenzierung dieser insgesamt sechs Muster geht weit in die Geschichte, die vergleichenden Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, in die Ethik – oder schlicht in die intensive Beunruhigung durch die Versicherheitlichung unseres Lebens hinein. (Der letzte Punkt, die Auseinandersetzung um Freiheit und Sicherheit, unter dem Aspekt der Versicherheitlichung, ist ein besonderes Thema, das ja hier in Marburg besonders erforscht wird. Ich gehe nur so weit darauf ein, als diese Auseinandersetzung mit Flüchtlingen rein gar nichts zu tun hat, aber die Frage der „Gefährder“ unter den Flüchtlingen jedem Bezug zu Terrorismus, Religions- und Rassen-Ressentiment Brücken baut).

Soll keiner sagen, dass man sich daran nicht bilden kann, aber dennoch bleiben die Themen, v.a. die Flüchtlinge, von den Problemen getrennt.

*

Im Methodenseminar der Sozialwissenschaften dienen die Fremden als unabhängige Variable um die politische Misere rapid einsetzenden Zerfalls demokratischer und republikanischer Werte zu erklären. Ich nenne diesen Zerfall die Ermüdung an der Demokratie, beide sind müde und erschöpft, die Demokratie und wir. Was ist denn eigentlich los, dass wir nicht mehr im öffentlichen Raum denken wollen und können und eine Situation zur Krise erklären, und deren Dauer in den permanenten Ausnahmezustand überführen, der wiederum Lösungen von Problemen zulässt, die wir laut nicht zu denken gewagt hätten…?

Ich will versuchen, die Antworten knapp und zugespitzt zu geben, anstatt sie ausufern zu lassen.

Dass man flieht und auswandert, ist normal. Sesshaftigkeit und dauerhafte Lokalität sind Ausnahmeerscheinungen sowohl der Geschichte als auch soziogeographischen Gegebenheiten. Normal ist es, bessere Weidegründe gegen die schlechten einzutauschen, seine Kenntnisse dort anzubieten, wo ein Markt für sie vorhanden ist, den Ort zu fliehen, an dem man getötet, gefoltert, vergewaltigt und in seinen Zukunftsmöglichkeiten beschränkt wird, normal ist, von Orten behinderter Freiheit in Räume von Entfaltung und freier Entscheidung zu fliehen. Warum das nie alle mitmachen, die von Dürre und Bomben und Terror bedroht sind, ist einfach zu erklären: sie werden entweder durch Gewalt daran gehindert; oder etwas stärkeres, ihre sozialen und kulturellen Bindungen, ihr Habitus, ihre lebensweltlichen Zwänge hindern sie. Wenn das erste stärker sich erweist, dann flüchten Menschen; wenn das zweite teilweise seine Bindungskraft verliert, wandern Menschen aus, einmal als Nomaden, ein anderes Mal diskriminiert als Wirtschaftsflüchtlinge, ein drittes Mal als politisch Verfolgte oder hinausgeworfene Minderheit. Dass migriert wird, mit oder ohne Asylkonvention, ist normal, war immer normal. Unnormal sind bestimmte Aufnahmepolitiken der Zielorte, hier ist die Varianz breit. Die Sorgen werden in die Gefährdung der eigenen lebensweltlichen Ordnung projiziert, die durch die Fremden bedroht wird. Der große Erklärer der Migration, Villem Flusser sagt: „Die Fremden sind das Fenster, durch das wir uns sehen“. Wir versuchen immer mehr über die Fremden zu erfahren, anstatt etwas über uns selbst wissen zu wollen, was notwendigerweise zu Kritik und Unsicherheit führt. Spontane Frage an das Publikum: was würde in Deutschland mit der Aufnahme von drei Millionen Asylsuchenden bis 2017 anders werden, ich meine, fundamental anders? Die logistischen Probleme sind gering verglichen mit der Finanzkrise, der Arbeitsmarkt würde profitieren und die kulturellen Konflikte wären nicht sehr viel anders als früher Migrationskonflikte, nur so viel anders, dass die Pädagogen und Sozialwerker sich akkommodieren müssten, experimentieren, verändern. Das sagt niemand, weil man dazu etwas über sich selbst sagen müsste. Und das ist schwierig und unangenehm, wenn man wenig über sich weiß.

*

Unser eigener Anteil, also der der Deutschen und politisch der Deutschlands, ist nicht aus der Weltgeschichte herauszutrennen, und jede Sonderwegsdeutung (Winkler/Sabrow) macht entweder Entschuldigungen oder Selbstbeschuldigungen. Aber Deutschland war nicht an allem gleich beteiligt, und deshalb ist Sorgfalt nötig. Nehmen wir Syrer, Iraker, Kurden…man muss nicht weiter als zum Sykes-Picot Abkommen zurückgehen, aber soweit schon, um die schon damals vorhandene globale Einbindung von Konflikten, also Fluchtursachen zu verstehen. Und unser Anteil an den Folgen der Zerlegung des Osmanischen Reichs? Und unser deutscher Anteil an Amin Husseini, dem Himmlergast und Mufti von Jerusalem und Onkel Arafats am Unabhängigkeitskrieg von 1947/8 mit den bekannten Folgen? Und unsere Scheckbuchdiplomatie? Und unser Friedensanteil an vielfachen Entwicklungsprojekten, die nicht oder sehr wohl mit Rüstung und Hegemonie verbunden waren? Eine provozierende These dazu wäre, dass Weltgeschichte in humanitärer Absicht gerade nicht dem Imperativ von Herrschaft und Unterwerfung der modernen Staatslehre entnommen werden darf, um sich selbst in ihr zu finden und sich verständlich zu sein. Anders kann man die hysterischen Ängste und Sorgen des sogenannten selbst-ernannten Volks nicht dekonstruieren und verstehen.

Ein Beispiel: Afghanistan hat gerade begonnen, eine Nachkriegszeit mit der Entdeckung von Zukunft zu beginnen, da erlässt die von uns heftigst unterstützte Regierung Karzai den Erlass, die Geschichte im Schulunterricht 1945 enden zu lassen. Denken Sie sich nur die Folgen für die Flüchtlinge, mehr als 20% der Asylsuchenden, die uns schon besser kennen als ihre eigene Gesellschaft. Und jetzt drehen Sie den Spieß um, versuchen nicht etwas über Afghanistan zu wissen, bevor Sie etwas über den deutschen Anteil und die Wahrnehmung dieses Anteils an den Ursachen von Flucht und Verzweiflung wissen. Ich argumentiere hier nicht weiter, sondern springe zur Conclusio: Wissen ist die Voraussetzung von Empathie. Da ist auch die Universität gefordert, sind die Wissenschaften in der Pflicht, und die Kommunikation von Expertensystemen und der öffentlichen Laienumgebung ist wichtiger denn je.

*

Verbinden wir dies mit der ersten Aussage, dass wir die Fremden brauchen um uns zu sehen, dann verstehen wir, was de Maiziere, der Innenminister mit Migrationshintergrund,  und Kurz, der österreichische Außenminister, meinten, wenn sie sagten, wir bräuchten diese Bilder von toten und gestrandeten Flüchtlingen. (In Parenthese: wie lange hält der Migrationshintergrund de Maizieres in seiner Familie an? Hätte man die Hugenotten gleich zurückgeschickt, was wäre anders an unserer Geschichte gewesen?). Nun aber zu den Bildern: Wir brauchen sie, um aus Mitleid und Moral zu handeln und an unsere Grenzen zu stoßen, eher früher als später, und um nicht den Kontext herzustellen, der Empathie erlaubt, als Voraussetzung humanitärer Politik. So ist das fast in ganz Europa, nur besonders ärgerlich in den reichen Ländern des Westens. Empathie ohne Wissen geht nicht, ohne dieses Wissen kann man sich nicht in einen anderen Menschen oder ein Kollektiv versetzen. Aber unsere Stimmungsgesellschaft voller Ängste (Bude) und unser Ersatz von Politik durch Moral und Eigenbedarfs-Ethik muss diesem Wissen ausweichen, ansonsten würden wir – Österreich und Ungarn hin, Polen und die Slowakei her, einfach drei Millionen Asylsuchende aufnehmen. Peter Weiss schrieb einmal sinngemäß, er schriebe als wäre er unter Folter, auch wenn er wüsste, dass er nicht unter der Folter sei. Dazu muss einer wissen, was Folter ist, und was nicht in der eigenen Erfahrung ist, kann aus der Erfahrung anderer gelernt werden, ist jedenfalls empirisch. Hier setzt Wissenschaft wieder ein.

Dummheit und die Arroganz der eigenen Lebensumstände begünstigen die Herrschaft über den Ausnahmezustand. Wenn ein deutscher, nein, ein bayrischer Politiker, triumphierend sagt, die Willkommenskultur sei zu Ende (SZ 12.5.16), dann nützt es nicht, ihn in die Ecke der AfD oder Pegida einzureihen, sondern seine Umerziehung würde zur Aufgabe der politischen Bildung. Noch ein kleiner Rekurs zum Beginn dieses Vortrags: es ist einerseits erfreulich, wie vielfältig, sensibel und auch informativ die Medien in den letzten Monaten geworden sind. Andererseits ist es erschreckend, mit wieviel Aufwand geklärt wird, ob die unmenschlichen Ideologien nun einfach rechts, faschistisch, populistisch oder nazistisch sind, während Ursache und Anlass, Flüchtlinge und Fluchtursachen, eher auf dem Theater und im Feuilleton in den Diskurs eingreifen. Aber die Schaffung von Empathie durch Wissenschaft ist noch defizitär.

Ich möchte vor einer Abkürzung warnen: die Rückführung aller Flüchtlingsprobleme auf den globalen Kapitalismus ist so abstrakt wie praktisch folgenlos. Es hängt eben nicht alles mit allem zusammen, es gibt viele Kontingenzen und vor allem die Ambiguität, die man etwa am Beispiel des Vertrags mit der Türkei und den Menschenrechten in diesem Land aufzeigen kann.

Hier einen Exkurs einzubringen, erscheint mir notwendig, auch wenn er den Rahmen des Vortrags sprengte. Wie man mit Diktatoren umgeht, ist mehr als eine Regierungskunst. Es ist ein sensibler Bereich politischer Praktiken, den man sehr wohl vermitteln und handhaben kann, aber nur, wenn die Subtexte dekonstruiert und offengelegt sind. Aus eigener Erfahrung, nicht ganz so weit oben in der Hierarchie, weiß ich ganz gut, wie schwierig solche Praktiken sind: das Gegenüber jenseits der Vorstellung, es zu mögen oder zu verabscheuen, als Sprecher einer anderen Praxis zu begreifen, die man beiseiteschieben muss, um die eigene durchzusetzen. Was sagt man einem, der nach dem Satz des Tiberius handelt: oderint, dum metuant? Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten. Wir wissen aus unserer Alltagspraxis, dass man nicht jedes Thema mit jedem Menschen unter den gleichen Bedingungen bespricht. Im politischen Raum gilt das genauso, und um Ambiguitäten auszuhalten oder gar zu nutzen, sollte man eben diese Bedingungen wissen.

Oder noch deutlicher: Ambiguitäten auszuhalten, ist ein Befund demokratischer Selbstsicherheit. Aber sie aufzulösen, verlangt Politik, und die bedarf hier wirklich der Wissenschaft. Die Entscheidung zur Flucht ist die Subjektivierung von Tatbeständen, die uns oft aus dem Blick geraten, wenn wir nur in der konstruierten Modellwelt der Globalisierung verharren. Von hier zur wissenschaftlichen Aufgabe ist ein wichtiger Schritt:

Die Fluchttatsachen sind ein Anlass für viele Regierende, aber auch für breite Schichten der Bevölkerung, den dauernden Ausnahmezustand zu erklären, die Krise als Normalzustand zur Rechtfertigung außergewöhnlicher Umstände zu machen. Dieser Zustand nationaler Akzeptanz ausgehöhlter Grundrechte und eingeschränkter Freiheiten dient weder der Sicherheit – die hat mit Flüchtlingen fast nichts zu tun, – sondern eine Verschiebung im Regime zugunsten von undurchschaubarer Exekutive im Namen der Sicherheit. Es war doch jedem klar, dass mit hunderttausend Flüchtlingen auch Schläfer, gewaltbereite Terroristen, Salafisten und andere Kommen: dennoch wurde das Ressentiment auf die Flüchtlinge gelenkt. Wie denn? Müssen alle Schutzlosen auch noch gute Menschen sein, darf nur dem Guten geholfen werden, wo für die andern ohnedies die Strafjustiz gilt?[1] Wie können wir von Flüchtlingen unter Integrationszwang Unterwerfung unter eine Verfassung verlangen, deren Fundamente für uns selbst nicht sicher sind? (Der Hinweis auf Böckenförde aus dem Auditorium ist sehr hilfreich in diesem Kontext, weil er uns auf die Konfliktdynamik zurück verweist).

Jetzt sind wir gefragt: jede einigermaßen seriöse – das ist natürlich wichtig: – jede seriöse Analyse der Fluchtursachen kann gegen den Ausnahmezustand ins Treffen geführt werden: die Fluchtursachen sind Teil unserer Politik, nicht allein, aber vielfach. Die Politik gegenüber den ankommenden Flüchtlingen besteht aus mehr oder weniger ausgewogenen Maßnahmen zwischen Strafen, Disziplinieren, Beschützen und Fürsorge, meist mit dem unsinnigen Anspruch, vordringlich zu integrieren. Aber die Flüchtlinge, die zu hunderten auf der Flucht sterben, ertrinken, getötet werden oder zurück in türkische und andere Gefängnisse gedrängt werden oder gar in ihr ungeliebtes Land abgeschoben werden, diese sind Opfer der von uns mitverantworteten Fluchtursachen und des Ausnahmezustands, der es uns erlaubt, die Überlebenden zu disziplinieren. Diese Zusammenhänge übersteigen die Kapazität des so genannten gesunden Menschenverstandes, sie überfordern den Abkürzer zur Empathie, sie können nur über Wissen und also Wissenschaft erfasst und bearbeitet werden.

Wir müssen nun keine Asyl- oder Migrationswissenschaften als Nische suchen, sondern die globale Innenpolitik als kritisches Instrument gegen den Ausnahmezustand verstehen. Das ist ein anspruchsvolles Programm, das uns auch viel Umgestaltung abverlangt und unsere disziplinäre Selbstsicherheit erschüttern sollte. Es geht im Grunde darum, dass Flüchtlinge, Asyl, Öffentlicher Raum und Multikultur , neben anderem Themen von Politik auch in unserem Curriculum sein sollen, Themen, aber nicht Probleme, an deren Lösung man uns mehr oder weniger willkürlich beteiligt. Unser Problem ist es, kritische Gesellschaftstheorie in all ihren Ausprägungen zur Befestigung und Nachhaltigkeit jener normativ gestützten Gesellschaftsstrukturen zu verwenden, die sich gegen den Ausnahmezustand verwahren; die nicht andauernd Freiheiten gegen eine trügerische Sicherheit eintauschen, die Realpolitik nicht an Stelle von Realismus setzen, die die Stimmungen, Ängste und Sorgen der Bevölkerung nicht mit den Überlebensproblemen von Menschen und den Ursachen ihrer Flucht und Schutzsuche verwechseln. Mit Recht fragen Sie, wie machen wir das? Es gibt darauf viele Antworten, aber einige müssen aus der Wissenschaft vor Ort kommen. Die Aufklärung von besonders betroffenen Berufsgruppen, die Integration von Studierenden in praktischen Projekten und Feldarbeit (und nicht nur in Praxissimulation), die Beratung von Behörden und Ämtern (damit habe ich sehr gute Erfahrung germacht), auch von lokalen Politikern, die Zusammenarbeit mit der Diaspora, wenn es eine gibt, und natürlich mit den Flüchtlingen, die jetzt schon kommunikationsfähig in der Wissenschaft sind.

Das bedeutet auch Widerstand gegen das vertauschen von Problem und Thema in der Politik. An einem Tag wie heute kann dies zu einem Anstoß werden, uns in wissensbasierter Empathie zu üben. In die Lage von Flüchtlingen uns zu versetzen, setzt Empirie mit ihnen und Wissen um ihre Gründe voraus, nicht bloß Mitleid und Verständnis. Anders als diese ermüdet Empathie nicht, sondern ist ethische Richtschnur der Wissenschaften.

(Der Text hat unwesentliche Erweiterungen, aber wichtige Zusätze durch die Diskussion erhalten. Ich hab enageboten, zum letzten Teil einen Beitrag für Mitglieder der Philipps-Universität zu leisten und auch aus meien konkrten Erfahrungen zu berichten).

[1] Das ist so ähnlich wie viele Deutsche ihre pflichtgemäße Zuwendung zu Holocausüberlebenden daran binden, dass gerade diese „mit ihren Erfahrungen“ natürlich moralischer und anständiger als der Rest der Gesellschaft sich zu verhalten hätten. Auch hier ein Bezug zu Salzborns Rede.

Finis Terrae IV

Die Fortsetzung hält sich bei Vorworten auf.

Gibt es aus der Verzweiflung einen Ausweg, der in tätige Hoffnung mündet? Keine Frage für Politikwissenschaftler oder Soziologen, möchte ich meinen, und doch: sie ist unabwendbar. Wenn Aron Bodenheimer über Mozart schreibt, er sei ein trostloser Tröster, geht das in die gleiche Richtung. Er ist so wenig untröstlich, wie es seine Hörer sein sollen, nur man kann auch getröstet werden, weil und wenn der andere keinen Trost hat, trostlos ist. Verzweiflung ist die Sackgasse des sich Einrichtens in der Ausweglosigkeit einer so fremdbestimmten Situation, dass man sie besser erträgt als gegen ihre Windsmühlen und Geisterbahnfiguren zu kämpfen. Das ist leicht getan und noch leichter in der Kulturkritik gesagt. Hermann Hesses Steppenwolf fällt mir ein: : „Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen sichere, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. …“ (Der Steppenwolf, 1931, Fischer, S. 18). Bei Hesse dreht sich dann alles ins Rad des Wiederkehrens ein, und antibürgerlich ist heute noch nicht einmal ein Lockmittel. Sich der Politik, dem öffentlichen Raum zu verweigern, ist kein Widerstand, keine Resilienz, es ist der Ersatz von Handeln durch Meinung und Stimmung. Die Depression ist hier eine politische Pathologie, die in der scheinbaren Ausweglosigkeit so etwas wie das frühneuzeitliche sich Abfinden mit dem Fegefeuer sieht, ein wenig Trost, dass es nicht die Hölle des Kriegs ist.

Zu diesem Trost gehört ein Blick ins Feuilleton. Dort und nicht bei den politischen Nachrichten, findet sich eine Dichte der Reflexion, des Nachdenkens über unseren Zustand, der fälligen Kontroversen, wie sie lange nicht auffällig war. Philosophisch, politisch, alltagsklug – das gehört zum Trost, dem richtigen Text im falschen: denn obwohl die Nahtstellen zur Politik, zur Praxis und den Praktiken, zur „Agency“, wie es neuerdings heißt, deutlich sind, unmissverständliche Aufforderungen – gehe hin, tue desgleichen, oder gehe hin, und lerne – obwohl die Schlüsse darauf hinweisen, wo die Mauern der Sackgasse dünner, permeabler sind, dringt solcherart Überlegung noch nicht einmal in die politischen Spalten der gleichen Sendungen und Zeitungen, selten auch in die Kommentarseiten. Den Trost beständiger machen hieße auch: politischer lesen und hören. Ich beginne Listen anzulegen, was aufbewahrt werden soll, um dieses Lesenlernen zu erleichtern. Auch darin besteht die Verantwortung, sich im Verzweifeln nicht zur Ruhe zu legen. Ach, wir Schildkröten!

Als ich vor 15 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb, eitle Vorsorge für ein bestimmtes politisches Amt, sagte mir ein guter Freund: du weißt, dass du damit auch die Verantwortung für die deutsche Geschichte auf dich nimmst? Ich sagte, das sei mir klar. Ja, aber die Haftung, wo es gar nicht mehr um persönliche Verantwortung geht. Beim armenischen Genozid haften alle Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, nicht schwierig, worin auch immer diese Haftung sich materialisiert. Bei der Shoah scheint die Aufarbeitung der Geschichte hier besser zu gelingen als anderswo, aber die Archive zur Beziehung mit Israel und des Judenmörders Globke (ich nenne ihn so, wer nicht in den Genuss seines Rassekommentars für Mischlinge o.ä. kam, musste umso eher sterben, ich will ihn so nennen), bleiben unzugänglich. Ich hafte, wofür ich schon deshalb nicht verantwortlich bin weil ich dagegen kritisch und mit Verstand ankämpfe: außenpolitische und menschenrechtliche Fehlhaltungen. Aber worin kann sich diese Haftung praktisch ausdrücken – etwa darin, die Geschichte lebendig zu halten, aber ihre Deutungen nicht voluntaristisch dort einzusetzen, wo es angezeigt ist, und sie dort gegen den die Evidenz des Gegenwärtigen einzutauschen, wo man aus lauter Schaum und Versäumnis fast erstickt, nicht handeln kann?

Die Staatsbürgerschaft innerhalb der EU, des staatenbündischen Europa, erschien mir schon damals marginal. Zu Unrecht, wenn wir die heutigen Debatten anschauen. Also ein weiteres Vorwort. Um an die Grenzen der Welt zu gelangen, die uns so deutlich vor Augenstehen, muss man dennoch durch viele Ländern gehen – was manchen lieb wäre: durch viele Nationalstaaten. Halbgebildete mutmaßen über den Sinn von Grenzen und Begrenzungen, sie vermischen so viel es geht, um die Politiker zu verwirren. Eine meine Lieblingsbeschäftigungen ist die begriffliche Auseinanderklauberei: Borders, Boundaries, Delineations, Frontiers…allesamt Grenzen. Welchen Begriff man wählt, verwendet, setzt im Deutschen denn ein wenig mehr „Kontextualisierung“ voraus als im Englischen, so wie bei Liberty und Freedom. Aber hier wird es halt wirklich hart: es geht um Tote, Überlebende, und um das künftige Schicksal derer, die oft aus Zufall nicht tot, ertrunken, gebombt, verblutet oder dem Wahnsinn überantwortet sind: Welchen normativen Rahmen überantworten wir die Kontexte?

Eine mögliche Antwort, die mich sowohl die geforderte Trostlosigkeit annehmen lässt als auch zum politischen Handeln drängt ist eine wichtige Klärung: Themen und Probleme auseinanderhalten; die erwünschte Normalität gegenüber dem perpetuierten Ausnahmezustand vorziehen.

Das Erste erscheint einfach. Aber es ist schwierig z.B. klar zu machen, dass Flüchtlinge keineswegs das Problem sind, sondern ein Thema, das vom Problem abgeleitet wird oder zu ihm führen kann. Das Problem ist die deutsche Außenpolitik, die Legitimation dieser Politik vor der Bevölkerung, aber auch vor den Lobbys, die unsere Regierung teilweise entmachtet haben (Waffen, Wirtschaft, Bündnisse etc.). Das Problem ist auch die EU Integration, deren Schwächen nicht mit dem nachholenden Nationalismus spättotalitärer Regierungsführung zugeklebt werden können. Flüchtlinge sollten schon deshalb kein Problem sein, weil die Probleme, die sie tatsächlich schaffen, unterhalb der Grenze von Herausforderung für unser Gesellschaftssystem liegen. Aber zum Zweiten:  für die Politik erscheint es einfacher, sich Legitimation durch die Ausrufung dauernder Krisen und dauernden Ausnahmezustands zu verschaffen. Das wiederum ist in der Außenpolitik manifest, in anderen Politikbereichen latent, oft nur als Stimmung wahrnehmbar: wenn behauptet wird, dass es Zurück zur Normalität ja wohl nicht gäbe….als ob das jemand wollte. Normalität ist ja nicht nur der durch die Quantifizierung der Welt entstehende Normalismus (wir danken Jürgen Link zu wenig für diese Überlegungen), sondern Normalität sollte ja vor allem die unablässige nachhaltige Dynamik der Konfliktbewältigung sein, also nie eine Wiederherstellung von Vergangenheit und vermuteter Stabilität.

Schon das Einüben dieses Zusammenhangs ist schwierig. Aber genau darin liegt auch die politische Chance des Umkehrens aus der Sackgasse der trostlosen Verzweiflung. Die Ideologisierung der Probleme, die darin besteht, aus Ihnen ein unübersehbare und bedrohliche Flut von Themen zu machen.

Das ist sozusagen ein Einschub, der ein wenig meine Arbeitsweise mir selbst deutlich macht: ich schreibe da nicht einfach als ein grantiger Citoyen und auch nicht als ein entmutigter Humanist, sondern als ein Wissenschaftler, dem seine eigenen Denkweisen angesichts einer von ihm mit verantworteten Wirklichkeit zum Problem geworden ist. Thema: Flüchtlinge, zum Beispiel.

Vor einigen Tagen sprachen Seehofer und andere bayrische Landvögte den Opfern des Hochwassers ihr Beileid und ihre Betroffenheit über 8 Ertrunkene aus. Das ist gut und richtig so, wie denn auch nicht. Am gleichen Tag ertranken 800 Flüchtlinge vor den Küsten der sicheren Herkunftsländer im Maghreb bzw. Libyens. Am gleichen Tag erfahren wir, wie viele der glücklich geretteten und bei uns angekommenen Flüchtlinge ihre Familien erwarten. Sympathie, Mit-Leiden reicht nicht. Können wir uns vorstellen, von einem Unwetter heimgesucht, um Haus und Hof gebracht worden zu sein, auf die Hilfe unserer Dorf- oder Hilfsgemeinschaft angewiesen zu sein? Sicherlich, und hier kann man Vertrauen fast verallgemeinern. Versetzen wir uns in einen der Flüchtlinge auf dem Schlauchboot. Können wir das ohne unseren Wortschatz zu erweitern? Wir können es ohne Sentimentalität. Es geht einfach darum, wie viele Menschenleben weiter bestehen und wie viele nicht. Das hat etwas mit der Politik zu tun, für die wir mit haften, weshalb es für die Sackgasse zu früh ist.

(Finis terrae V folgt, aber vorher eine ausführliche Rede zu Asyl und Ausnahmezustand).

 

Ohne Gott, bitte.

Vor dem Brandenburger Tor demonstrieren so genannte „Deutschtürken“ gegen die Armenienresolution des Bundestags. Sogenannt nenne ich sie, weil sie entweder türkische Deutsche sind, also Deutsche, oder Türken aus der Türkei. Darum geht’s mir aber nicht. Sollen sie demonstrieren. Was mich stört sind zwei Slogans „Allahu Akbar“ und „Groß ist die Türkei“. Vor allem in Verbindung mit einander. Gott ist groß, meinetwegen. Ihn für eine politische Einzelaussage oder einen Event groß sein zu lassen, ist entweder komisch oder gefährlich. Ich tendiere zum Zweiten. Gott als Zeugen für eine politische Meinung anzurufen, ist nach religiösen Geboten, die für alle drei monotheistischen Religionen gelten, blasphemisch; und säkular unsinnig, weil die Anrufung der Größe Gottes ja den Argumenten der Protestierer keinen Mehrwert verschafft. Blasphemisch, das kann man etwa am Zweiten Gebot der Gesetze vom Sinai genau studieren, und immerhin hat der Prophet die auch studiert –  für irgendeinen weltlichen Zweck darf man Gott nicht in Anspruch nehmen (ich finde selbst das „so wahr mir Gott helfe“ der Eidesformel für völlig unangemessen, schon gar in der Öffentlichkeit).

Viele Politiker haben in den letzten Tagen Drohungen, Schmähungen und andere Angriffe wegen der Resolution auszuhalten gehabt. „Allahu Akbar“ erinnert mich in diesem Zusammenhang mit der christlichen Gewaltgeschichte: „Deus lo vult“, „Gott will es“, damit hat in Kreuzzugszeiten (1095 erstmals) gerechtfertigt, was nicht zu rechtfertigen war. Aber wenn Gott dahinter steckt….Das „Es“ stört mich, weil es alles beinhalten kann, was der Macht gefällt: auch Gewalt, Demütigung und Rechtlosigkeit.

Die Unverschämtheit der besagten (kleinen, unwichtigen) Demonstration liegt nicht in der Sache: sollen die ewig Gestrigen gegen die Geschichte mobil machen, wir werden uns zu wehren wissen (Cem Özdemir hat das übrigens im DLF am 2.6. sehr gut gemacht). Aber mich stört die Anrufung Gottes als Einmischung in die Öffentlichkeit einer Auseinandersetzung, in der kein Gott etwas zu suchen hat. Und wenn dann die große Türkei dadurch noch größer gemacht werden soll, müsste uns das nicht interessieren.

Vor so einem instrumentalisierten Gott muss man alle Menschen schützen, die sich unter den Schutz der Glaubensfreiheit begeben, den unsere Verfassung und unsere öffentliche Moral ihnen verspricht, versprechen muss.