Ende der Rede

Mein Freund Aron Bodenheimer hat gutverständlich die uns bekannten Unterschiede zwischen Sprechen, Reden und Sagen herausgearbeitet. Im Kern geht es darum, privat und öffentlich etwas auszusprechen, das man zu sagen hat. Wer etwas zum Klimawandel zu sagen hat, muss und kann damit ein Handeln auslösen. Wer sich nur für ein Ziel einsetzt, hat nichts zu sagen und sollte besser nicht reden.

So einfach ist das? Ja, so einfach. Von den Arbeitsplatztrotteln beim Kohleausstieg bis zu den Wolfsjagdtrotteln im Volksempfinden einer Nation von Vorzeitbauern. Haben Sie gesagt „Trotteln“, Herr Daxner? Habe ich. Verrohen Sie damit nicht die Sprache so wie Ihre Feinde? Nein. Es gibt schlimmere Bezeichnungen als „Trottel“, denn wenn man der GroKO Absicht, böse Absicht unterstellt, dann wäre ein anderer Begriff angemessen.   Das darf Böhmermann, zu Recht, ich nicht.

Jetzt kommt die CDU und fordert Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Jetzt kommt die SPD und fordert den Erhalt von Arbeitsplätzen überall dort, wo auch getötet wird. Im Kohlebergbau, in der Autoindustrie, in der Rüstungsindustrie, überall, wo gearbeitet wird. Jetzt? Schon lange.

Eine Erinnerung:

1972 – richtig: 1972 – fand die erste Umweltkonferenz der UNO statt, in Stockholm. Abgesehen davon, dass seither zu wenig von dem geschehen ist, was damals schon als notwendig angesehen wurde, ist mir der Satz eines Delegierten in Erinnerung, der auf den Hinweis der Luftverschmutzung durch Industrieabgase sinngemäß gesagt hatte: solange die Menschen (in Brasilien, auf der Welt) so arm sind, sollen die Schornsteine rauchen, überall, bis sie den Himmel verdunkeln.  Ich hab die Quelle nicht mehr, aber es war wohl ein starkes Aufwachen gegen die vorherrschende Lehre von der Verbesserung der Welt durch Industriewachstum im globalen Maßstab.

Ende des Redens

Herr Amthor (Jungstar der CDU), für den mir keine Invektive einfallen will, sagte heute im DLF, die CDU müsse (endlich) lernen, selbst souverän im Netz und auf YouTube kurzfristig sich in die Diskurse einzuschalten, dabei ginge es nicht primär um Inhalte (!). Man sei eher kommunikationsschwach als politisch falsch aufgestellt…Da hatte der Tuber Rezo schon recht: die GroKo redet und redet und redet und tut nichts. Nichts, weil in der Klima-, Rüstungs-, Migrationspolitik zu wenig so viel wie nichts ist. Der staatsgläubige Konservative müsste jetzt fragen: was können sie denn tun, eingebunden in die EU, gelenkt durch Gesetze, und vor allem immer durch die Antagonismen des Sozialen zum Politischen.

Diese Antagonismen machen die Probleme auch der so genannten Linken (SPD und Linkspartei) aus: alles gut und schön bei Klimamaßnahmen, aber die Arbeitsplätze, aber der Lebensstandard, aber die Abgehängten…dabei sind es ihre eigenen, linken (Vater Marx: verzeih deinen Ableitern) Erklärungsversuche des bestehenden Kapitalismus, die ja aufzeigen, warum das die weniger Begünstigten des Systems mehr kosten wird als die Reichen. Mit Umverteilung ist beschränkt etwas zu erreichen, aber nicht alles.

Arbeitsplatztrottel: ich komme auf sie zurück. Berechnen Sie bitte, was es volkswirtschaftlich kostet, alle Kohlekraftwerke bis Jahresende zu terminieren. Angeblich stehen 50.0000 Arbeitsplätze auf dem Spiel, manche davon kann man beim Rückbau beschäftigen – und gebt dem Rest ALG., sagen wir 2000 € netto bis an ihre Pensionsgrenze. Gleichzeitig fördern sie die regenerativen Engerien über jede Profitabilität in der Gegenwart hinaus. Damit erreichen Sie die blödsinnigen 40 Mrd. € Bestechungsgeld für die abgehängten Regionen bei weitem nicht, und die werden ohnedies nicht deshalb dankbar werden, weil man jetzt dort inselhafte „Infrastrukturen“ aufbaut. Das wäre eine Abiturfrage. Die Regionen sind abgehängt, weil dort Braunkohle gefördert wird, und nicht, weil sie jetzt beendet wird. Es stimmt schon, dass die Lausitz und andere Reviere abgehängt sind, aber das hat damit zu tun, dass man den Strukturwandel nicht vor 20 Jahren begonnen hatte…der Übergang von SED zu AfD (Umweg manchmal CDU) im Osten ist ein Lehrbeispiel für diese Versäumnis. Darf man aber nicht sagen, weil sonst die Frage kommt, was machen wir besser? Und das setzt voraus, dass nicht der Arbeitsplatz die wichtigste erklärende Variable ist (Ein analoges Beispiel: wenn Securitization die wichtigste Variable in der Sicherheitspolitik ist, dann kann diese nicht gelingen…). Was machen wir besser? Gerade nicht in die Insellösungen der Reviere investieren, sondern diese in größere Kontexte einbinden.  Dagegen sprechen sich alle Lokalisten aus, von Arbeitgebern, Gewerkschaften bis zu Ortsbürgermeistern. Ohne Konflikt geht das nicht. Aber man kann sehr genau sagen, welche Konflikte zu erwarten sind, wer wieviel einsetzen und ggf. riskieren muss, um so schnell wie möglich die Klimapolitik zu wenden. Der EU Einwand zählt nicht. Auch in der EU muss immer jemand vorangehen, und wenns ein Starker ist, umso besser.

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Die Jungen von Friday haben etwas zu sagen, weil es ihre Zukunft ist. Die, die jetzt bremsen, um ihre Wohlstandsverwahrlosung noch bis zum physischen Ende zu erhalten, reden nur, weil sie keine Zukunft haben.  (In einer spätantiken Philosophie kommt der Mensch als Alter zur Welt und stirbt als Säugling. „Bejamin Button“, der Film von Fincher 2008, bezieht sich Scott Fitzgeralds Novelle (https://de.wikipedia.org/wiki/Der_seltsame_Fall_des_Benjamin_Button). Das Bild kann man verwenden um der GroKo und den Arbeitsplatztrotteln anzudrohen, sie könnten ihren Enkeln dereinst beim Ersticken zuschauen; die allerdings können die Scheurers, Altmayers und Merzens dabei nicht beobachten…). Dieses etwas-zu-sagen-Haben muss in Handlung umschlagen, und die muss dann die Regeln verletzen, wenn die Bewahrer des Unglücks, also der falsch gepolten politischen Ökonomie in diesem Fall, auf ihren Regeln beharren. Schule Schwänzen ist ein geringer Regelverstoß. Die Aktionen, die gemacht werden müssen, dürfen nur keine Märtyrer hervorbringen, ansonsten müssen sie sich an ihrer Wirksamkeit messen lassen.

(Für Theoretiker: der Habitus muss verändert werden, was mühsam ist, vor allem wenn beschleunigt, und die Hysteresis darf nicht den Übergang in eine anderen Raum der Politik behindern. Schlagt nach bei Pierre Bourdieu. Die Begriffe sind nicht übersetzt, passen aber und werden leicht aufgefunden).

Also: Die Zukunftsfähigkeit unserer Kinder und Enkel und Urenkel – länger darf man nicht vorausschauen – soll gewährleistet werden, und das geht nicht über den Fetisch Arbeitsplatz – Arbeitseinkommen – Lebensstandard. Ist das so schwierig? Ja, es ist schwierig, weil es einen Bruch mit der Zivilisationsgewissheit bedeutet, dass wir das richtige Leben im falschen noch am besten hinbekommen. Ist nicht so…

Deutsch-Österreich?

Als Kind habe ich Briefmarken gesammelt. Die heimischen mit der Aufschrift Deutsch-Österreich waren nur für einen sehr begrenzten Zeitraum gültig…Lange vor dem Versuch, nach dem Ersten Weltkrieg Österreich als Teil des Deutschen Reichs zu verstehen, gab es schon den Begriff als Ausdruck für die deutschsprachigen Gebiete im Westen der Monarchie, was natürlich auch keine wirklich Abgrenzung gegen die östliche Reichshälfte war, die ja nicht nur ungarisch sprach….(https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_%C3%96sterreichs#Erste_Republik_und_Austrofaschismus_(1918%E2%80%931938)). Nicht nur die Sprachen- und Kulturpolitik hat die letzte Phase des Habsburgerreichs geprägt, aber an ihr kann man viel von dem lernen, das bis heute nachwirkt –

Hannelore Burger hat in vielen Studien auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge hingewiesen (u.a. Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867-1918, Wien 1995); ihr Verdienst ist es auch gewesen, Staatsbürgerschaftsrecht und die besondere Jüdische Geschichte im Kontext immer wieder zu verbinden (vgl. Bibliographie in: (Burger 2014)). All das kommt in den letzten Tagen wieder hoch.Das alles lief in Deutschland ganz anders.

Die Medien berichten umfangreich und jedenfalls so differenziert, dass man seit dem Ibiza-Video der Nazis Strache und Gudenus alle Ereignisse zum Kanzlersturz und zum Übergang in der/in die Demokratie ziemlich lückenlos verfolgen kann, auch in Deutschland.

Als Kind konnte ich das „Deutsch“ in D-Ö nicht verstehen. Später lernte ich, dass es eine durchaus reflektierte Allianz zwischen der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie gab (Rudolf Hilferding z.B.), und die Idee, dass hier die Arbeiterklasse eine gemeinsame, demokratische Mehrheitslinie finden könnte; auch, dass die Sieger des Ersten Weltkriegs den Zusammenschluss verhindern wollten, um eine deutsche Hegemonie zu verhindern (eine österreichische gabs ohnedies nie am Horizont…). Noch später, und bis heute, beschäftigen mich die politisch-kulturellen und die politisch-ökonomischen Differenzen zwischen den Lebenswelten in Deutschland und Österreich, nicht zuletzt auf sprachlichen, künstlerischen und diskursiven Terrains.

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Ist das wichtig? Österreich ist Mitglied der EU. In den letzten Tagen ist die Zustimmung zur EU bei der Mehrheit der Bevölkerung gestiegen (Der Anstieg ist signifikant: www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20181017IPR16329/euro…).

Deutschland ist auch Mitglied der EU. Deutschland ist trotz seiner desolaten Regierung ein mächtiger Staat mit vielen Einwirkungsmöglichkeiten auf Mitglieder und andere Akteure in globalem Maßstab. Österreich ist ein sehr reiches Land, sein Einflussbereich ist ökonomisch überschaubar, aber in Mittel- und Osteuropa politisch-kulturell und wirtschaftlich erheblich.

Ich habe schon mehrfach auf die Wurzeln der ÖVP auch im Austrofaschismus geschrieben, während die FPÖ ja das Kunststück übt, deutsche Identität ständig in eine österreichische zu spiegeln, die es für die meisten nicht „gibt“. Ich verkürze, aber mit einer wichtigen These: Bei den Nazis und den meisten Burschenschaftern und Identitären, also dem Kern der FPÖ-Führung ist das Volk deutsch, die Regierung österreichisch, und Politik bedeutet, die beiden zur Deckung zu bringen).

Bei der ÖVP kann man nicht so flächendeckend vom austrofaschistischen Erbe sprechen, aber sozio-kulturell ist da noch eine Menge vorhanden, und „deutsch“ hatte im Ständestaat eine andere Bedeutung als bei den frühen Nazis in der Heimat des Führers, die er ja „heim ins Reich“ geholt hatte. Bei der FPÖ kann man sich das Neo- bei Nazis ruhig sparen, sie sind, wie die AfD, vergleichbar der NSDAP vor 1933.

Wenn man die Politik des bisherigen Innenministers Kickl, der vorher Parteistratege der FPÖ war, genau ansieht, dann agierte und wirkte er schärfer, wirkungsvoller und für die Anhänger der Regierung, also über die FPÖ hinaus, auch attraktiver – im übrigen auch, weil er intelligent ist, welche Eigenschaft man den Rechten immer als erstes absprechen muss. Seinen Satz, die „Politik steht über dem Recht“ kann man schnell ablehnen, aber man muss ihn analysieren, bevor alles explodiert).  Dazu muss man die Details der menschenverachtenden Politik gegenüber Ausländern, Muslimen und Geflüchteten genauer analysieren – und sich fragen, warum der Europäer Kurz gerade diesen Bereich und die Sicherheit (Bundesheer) den Nazis überlassen hat (Die Antwort auf diese Frage ist nicht aus dem Video herauszuarbeiten).

Alle drei großen Parteien in Österreich, also ÖVP, SPÖ und FPÖ, sind durch ein Verhaltensmuster bis tief in die Bevölkerungsstrukturen vergleichbar, das ist die plebejische Stimmungsdemokratie. Darum kann die SPÖ auch mit der FPÖ koalieren (Jetzt schon im Burgenland) und (vielleicht im Bund ab September?) kooperieren. Darunter verstehe ich die Legitimierung von Ressentiments (Der CDU Minister Reul hat das einmal kurz versucht, SPD Nahles übt sich darin erfolgreich, aber hier gibt es Unterschiede: manche rote Linien überschreitet in Deutschland nur die AfD). Woher das kommt? Das Paradox bestreiten die drei Parteiführungen kaum: wenn es um pragmatische Zusammenarbeit geht, interessieren die ideologischen Differenzen wenig. Und dem stimmt ja mancher prima vista zu, bevor es zu einem Nachdenken kommt. Einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes, –>Robert Menasse, ortet gerade in der vielgepriesenen „Österreichischen Sozialpartnerschaft“ die Ursache für eine Entwertung der Institutionen (Parteien, Parlament, Öffentlichkeit) zugunsten einer unsichtbaren Konfliktverschleifung. Dass eine solche Nicht-Politik in Zeiten wirtschaftlicher Blüte besser funktioniert als in der Krise ist logisch, und dass dadurch vieles besser „funktioniert“ als in Deutschland, wird durch diese Art der Politik nicht behindert (allerdings, sehr wichtig: auch nicht hergestellt). Dafür gibt es andere Gründe.

Studiert man die österreichische Presse und Medien,  die ja massiv seitens der FPÖ unter offenem Druck stehen, während sie bisher von ÖVP und SPÖ nur immer einzuhegen versucht werden, dann gibt es mehrere Gemeinsamkeiten der Interpretation: Sebastian Kurz hat sich, trotz und wegen seiner Erfolge und seines imaginierten Charismas, überhoben und wie ein Zauberlehrling kann er die FPÖ Geister so  wenig loswerden, wie seinen Spagat, pro-europäisch Politik machen zu wollen, solange die Immigration ihn nicht von den osteuropäischen Nachbarn abschneidet. Hier sind sich alle einig: dass Kickl gehen muss, war eine richtige Entscheidung, aber sie war falsch begründet: wegen des Videos…nebbich, das hätte auch ein anderer untersuchen können. Nein, von Anfang an hätte man den nicht in die Regierung lassen dürfen. Und da hatte Kurz gehofft, er würde eine Art lokaler „Mäßigungstherapie“ erfolgreich anwenden können – was bekanntlich bei den Nazis auch nicht funktionierte. Zweitens: er hat sich eine gute Ausgangsposition für die Neuwahlen im September verschafft, weil er, siehe oben, gar nicht auf Schärfung der Konfliktlinien aus ist, sondern sich als Märtyrer=Manager anbietet, der verletzlich, aber nicht verwundbar ist (Verzeihung für den schnellen Sprung: dem Pöbel gefällt das…). Und: Österreich geht’s ja noch gut, sooo wichtig bei der Nachfolge von Juncker und Draghi sind die Ösis auch nicht, und Weber  wird’s wahrscheinlich ohnedies nicht, auch was die österreichisch-bairische Achse betrifft (Übrigens: dass Deportationsminister Seehofer in zwei Jahren abtritt, bewegt die Gemüter kaum, sein neues Abschiebegesetz, das ja wohl nicht durchkommt, lässt ihn so nahe an Kickl und Orban kleben, dass da andere Achsen in nächster Zeit wichtig werden – auch in der deutschen Bundesregierung).

Das ist mehr als das halbe Österreich, das ich beschreibe, und deutsch-österreichisch müsste zunächst ein Dialog in Differenz über diese Differenz sein; der kommt nicht zustande, u.a. weil die österreichische Literatur (man spricht mehrheitlich Deutsch, das vermuten die Deutschen, stimmt aber nur begrenzt) ja deutsch spricht. Die Österreicher pflegen eine ihnen gar nicht wirklich bewusste postkoloniale Debatte, seit nicht mehr Deutschland (Westdeutschland, genauer) die Alpenrepublik an der Leine der Nachkriegswirtschaft geführt hat, sondern, was Arbeitsplätze, Spitzenposition in Deutschland und relative Geltung in Zentraleuropa betrifft, Österreich den Spieß umgedreht hat. Das richtet sich leider auch auf solche Gebiete, wo das heutige Deutschland schon sozialer und fortschrittlicher ist als Österreich, aber noch hat Österreich hier einen Fortschritt, der noch nicht braunblau zerdepppert wurde.

WO  IST DAS ANDERE ÖSTERREICH?

Ja, das gibt’s. In den Medien, im kulturellen Aufbegehren gegen türkis-blau (so heißt schwarz-braun nach Parteifarben), nicht nur in Demos, in Aktionen wie bei den Omas gegen Rechts  –> omasgegenrechts.at. und in einer Herstellung von Gegnerschaft und Kritik, die eben dem „Kannst eh nichts machen“ der Gefolgschaften der großen Parteien nicht entspricht.

Natürlich gibt es das andere Österreich vor allem innerhalb dieses Rahmens öffentlicher Diskurse, die keine intellektuelle Sozialpartnerschaft pflegen. Was mir in den letzten aufgefallen ist, gibt es zu den neuen Ereignissen keine zwei Meinungen, sondern mehrere, divergierende, und ein wenig müsste man schon Regressionsanalysen bei diesen Diskursen machen, um zu sehen, wie tief und komplex das alles geht, bis hinunter zu Deutsch-Österreich.

Noch wichtiger ist ein Mensch: AvdB, Alexander van der Bellen. Der war einmal ein bedeutender grüner Parteiführer, er war ein wichtiger Ökonom, er ist ein Bundespräsident, der das Gegenteil der „Sozialpartnerschaft“ vertritt: er formuliert eine Heimatperspektive, ein Österreich, wie es auch sein kann (und wie es nicht wieder werden soll), die diametral seinem früheren Gegenspieler, dem jetzigen FPÖ-Chef Hofer entgegensteht. Nicht nur, dass er, wie es sein Amt vorsieht, in der letzten Woche unablässig agiert und entschieden hat; wie er das gemacht hat und was er gesagt hat, das ist jene Inanspruchnahme des öffentlichen Raums, die so unabdingbar für Politik ist. Er hat nicht an das Volk appelliert, sondern sich um seine Konstitution bemüht, damit es wieder legitim Demokratie verwirklichen könne.  Lest das nach…Das waren keine großen Worte, aber es war die einfache Sprache eines ganz und gar nicht einfachen Sachverhalts.

Da sind die Grünen, die ja vor zwei Jahren schrecklich abgestürzt sind, aus eigenen Fehlern und zuviel Personalpolitik, sie sind wieder da, nicht nur in Europa,  sondern als lebendige Stimme im Land, und durchaus vergleichbar den deutschen Partnern, was die Themen betrifft.

Da sind auch die NEOS, nicht meine Partei, aber glaubwürdige Europäer.

Womit wir bei einer Spaltung sind, denn die identitären Plebejer reden ja auch von einem Europa, das sie wollen, aber verwandeln wollen in eine feste Burg, in deren Hof sie Ritter, Tod  & Heimat spielen dürfen.

JETZT KOMME ICH INS SPIEL

Tut mir ja leid, dass ich hier plötzlich neben vdBs Verfassungspatriotismus noch einen historischen auspacken muss; ich bin ja deutscher UND österreichischer Staatsbürger. Diese uralte, großflächige Habsburger-Monarchie war in vielen Hinsichten kein Vorbild für das, was die Menschen erwarten durften, in manchen schon. Dazu ein andermal. Aber sie waren ein Imperium, das andere Formen von Multikultur und Multiethnizität entwickelt als die Deutschen, deren Augenmerk nicht zufällig immer auf den deutschen Markenkern gerichtet war. Das war erfolgreich (und selbst der Begriff M. ist irgendwie typisch). Österreich konnte sich weder um eine ethnische oder religiöse noch um eine kulturelle noch um sprachliche Eindeutigkeit auch nur bemühen, es gab dominante und unterdrückte Elemente, aber die Macht war schon, was das ganze zusammenhielt, wenn es auch ein Ganzes war, das an den Rändern ausfranste, ständig, und unter Druck war. Ich wag einen Versuchsbegriff: mein  Österreich ist der lokale Kosmopolitismus, und man kann alles mögliche, nur keine Identiät entwickeln. Das ist keine Lieberklärung, aber ein Gefühl von Verständnis, warum das andere Österreich so hoffnungsvoll stimmt. Und Deutschland: mein Deutschland muss noch ein Stück näher an dieses Weltbürgertum kommen, es hat zu viele deutsche Wurzeln, vergessend, dass es „Deutsch“ historisch NIE GEGEBEN HAT.

Demnächst werde ich meine Presseschau hier einfügen, vielleicht als Update.  Jetzt einmal: schaut auf Wien und unsere neue BUNDESKANZLERIN.

 

 

 

 

Burger, H. (2014). Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Wien, Böhlau.

 

Seehofer & Co.: 24. Deportation nach Afghanistan

Heute wird die 24. Abschiebung von 26 Afghanen nach Kabul gemeldet. Dort stirbt es sich leichter als bei uns, und unbeobachtet.

Ich rufe das in Erinnerung, weil der Schreibtischtäter Deportationsminister Seehofer natürlich alles nur humanitär und gegen die Gefährder meint. Und kaum mehr jemand protestiert…ist ja egal, ob wir uns die Gruppe der Trumps und Putins einreihen, bei denen Menschenrecht am gesunden Volksempfinden scheitern. Ist ja egal, ob die Deportierten dort, wo ihre Heimat nicht mehr ist, einen schnellen Tod finden, oder überleben, was ihnen zu wünschen wäre, oder zurückkommen, was Seehofer und seinen Komplizen nicht zu wünschen wäre. Strafrechtlich kann man dem sittenlosen Seehofer leider nicht direkt ans Leder. Aber politisch sollte man ihn exhumieren und zur Rechenschaft ziehen. Ihn und seine Deportationsbürokratie.

Flüchtlinge ertrinken lassen oder sie in ungewisse Todesgefahr bringen, das sollte sich eine „Regierung“ überlegen, die täglich im Rundfunk sich ihres (wahrlich ordentlichen) Grundgesetzes rühmt und sonst eher kleine Probleme langsam unlösbar macht.

Ich sags ja nur …für das kollektive Gedächtnis.

Tu felix Austria, dole!

 

Bella gerant alii, tu felix Austria, nube!

(Kriege mögen die andern führen, du glückliches Österreich, heirate!)

Ursprünglich schon 1364 geprägt, spielt es auf die Hochzeitspolitik von Maximilian I an, der das Habsburger Imperium durch kluge Verheiratungspolitik stärkte und ausbaute.

Mich lässt das Land nicht kalt, in dem ich Teile von Heimat vermute, wenn man diese politisch wie Bloch und lebenswirklich wie in der gesamten Literatur des 19., 20. Und 21. Jahrhunderts versteht. Zur Literatur aber später, und Blochs Heimat, die künftige Demokratie, ist ja wieder ein Stück weiter weg gerückt vom Möglichen.

Austria, dole! Sei betrübt. Was sich da gerade abspielt ist nicht, wie eine Tageszeitung meint, das Pech des Zauberlehrlings Kurz, dem die Mittel, Macht zu steuern und balancieren, ausgegangen sind. Österreichs Abstieg verlief in den letzten Jahren quer zu einem volkswirtschaftlichen Dauerhoch (Pro Kopf Einkommen höher als in Deutschland, noch durch durch eine gute Sozialpolitik abgesichert, die aber in der schwarz-braunen Koalition massiv unter Druck geraten ist (schwarz-braun = türkis-blau – Kurz ÖVP und Strache FPÖ).

Lange davor, also vor 2018, haben die Sozialdemokraten der SPÖ die Fundamente des Rechts- und Sozialstaats unter einem unsäglich schlechten Kanzler Faymann schon angegriffen, gegen mäßigen Widerstand in der Partei; lange davor haben die konservativen der ÖVP zugunsten eines Populismus resigniert, dem es um eine Machtkapsel ging, die eben die Dialektik von konservativ und fortschrittlich nicht mehr wollte, sondern sich in die Bräsigkeit einer von keinen sozialen und moralischen Skrupeln begünstigten Mittellage in Europa flüchtete, die anscheinend der Mehrheit der Bevölkerung gefiel, solange das Geld stimmte und  man einen Außenfeind hatte. Der war die EU, von der man so stark profitierte, dass man gar nicht wissen wollte, ob die Kritik in Brüssel überhaupt wahrgenommen wurde, schließlich sind wir ja ein freies Land. Der Feind war die EU, die Flüchtlinge waren nur instrumentell die Feinde, wie früher die Juden oder die Radfahrer. Das nützte der Nazipartei FPÖ (das sind keine Neonazis, sie sind die Erben des deutschen Zweigs des Nationalsozialismus in Österreich, was komisch wirken muss, weil sie ja eine sogenannte österreichiscche Identität brauchen, um vom Pöbel gewählt zu werden: Daham (daheim) statt Islam, dichtete der Innenminister (bis gestern) Kickl. Das alles spricht gegen die ambivalente Aufladung von Identität als Schlüsselbegriff der Gegenwart.

Analysen gibt’s genug. Lest den Falter, den Standard, auch andere Zeitungen, hört und schaut ORF. Stärker als in Deutschland sind die freien Medien unter Druck, nicht nur von Seiten der FPÖ. Aber die stärkste Zeitung ist die Krone. Es ist die Neue Kronenzeitung, neu, weil die 1900 gegründete Zeitung 1959 wieder geründet wurde. Liest man die Geschichte der Zeitung genauer, versteht man etwas vom Zweiten Österreich. Das erste ist ein gefestigt demokratisches, republikanisches Land mit konservativen Mehrheiten außerhalb der großen Städte, mit fortschrittlichen Minderheiten auch auf dem Land, mit hellsichtigen, intellektuellen Kritikern in Literatur und öffentlicher Diskursstrategie, die Deutschland oft an Prägnanz übertreffen (das wäre ein weiteres Kapitel). Darum war mir lange Zeit nicht so richtig bange, obwohl ich die Politik und Kultur genau beobachte – ist ja doch auch meine Heimat.

Was aber jetzt stattfindet, ist ein Theater, das auf einer Cloud aufgeführt wird, man glaubts nicht, weil man es sieht und hinschauen muss. Die Vielzahl von Regisseuren hat sich verknäuelt und alle sind alles: Darsteller, Publikum, Kritiker. Alle, das heißt, die, die sich von Ereignissen überhaupt berührt fühlen (siehe letzten Blog: „Es muass wos gescheng!“ – „Konnst eh nix mochen!“).

Dieses Theater ist wie ein Wetterleuchten, ein Vorbote. Egal, wie man sich vor den Wahlen im September arrangiert. Es ist ein Vorbote einer Implosion, der die selbstkritische und gezielte Verabschiedung von einem „System“ ein erklärbares Ziel ist, eine verstehbare Politik. Einiges davon findet man bei den kleinen Parteien, aber die drei Großen sind fast immun gegen Kritik. Das hat man gestern gesehen. Darum wäre es  vermessen, sich wieder eine GroKo ÖVP-SPÖ zu wünschen, oder eine Minderheitsregierung Kurz, kurz vor den Wahlen, oder einen Übergangspremier vom Geiste … je, wessen? Öxit? Wirtschaftswundernostalgie, Sozialpartnerschaft, Besitzstandinseln, …? Was Österreich stärker als andere Länder kennzeichnet: es gibt keinen Fokus, der eine Rückkehr zu … erlaubt. Denn die Bedingungen, unter denen in meiner Jugend Justizreform, Sozialsystem etc. ausgebaut wurden, erscheinen zerstört, die Brücken sind abgerissen (Vergangenheit) oder ragen wie halbfertige Brücken in die Zukunft, die noch ein Abgrund ist. Vorbote im Krieg, den es schon gibt. Und in dem Österreich in der Tat eine befriedende Rolle hätte spielen können – zwischen den Nationalismen das Nachsozialismus im Osten und den Nationalismen des Trumphörigen Westkapitals. Wieder: einiges davon findet man bei den Grünen, den Neos, aber die Lethargie der politischen Selbstwahrnehmung ist weit vorgeschritten. Typisch österreichisch? Nein, nicht wirklich. Da gab es und gibt es immer die Stimmen, die nicht zulassen wollen, dass es so weiter geht. (Ich sagte schon, Literatur, Kunst, auch Medien, und die noch bestehende, wenn auch gefährdete, Kultur der probeweisen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im Caféhaus – da gibt es wenigstens gute Zeitungen und guten Café).

Ich verliere mich nicht Kitsch der potenziellen Heimkehr, der ja bei jedem Besuch droht, als Kulisse vor Anblicken, auf die ich Deutschland verzichten muss; aber den schüttelt man schnell ab. Denn die Nazis sind ja Realität. FPÖ Koalitionen in etlichen Bundesländern, mit der ÖVP, auch mit der SPÖ. Und es sind gewählte Nazis, gewählte Funktionäre. Ihr Abstand zur Zeit vor 1933 ist geringer als der der ÖVP zu den Austrofaschisten nach 1934. Aber beide Abstände sind zu gering. Und die Sozialdemokraten, die einmal den Stalinismus abwehren konnten, auch theoretisch und ideologiekritisch, haben wenig Zukunft zu bieten.

Natürlich gibt es Hoffnung, wenn auch nicht viel Zuversicht auf baldige Besserung. Die Proteste sind lebendig, und was man an Heimatbezug im Überbau erfährt, stimmt weniger pessimistisch. Jetzt folgt kein Aber. Die Trauerarbeit steht noch aus. Wer sagt, dass sie traurig sich gestalten muss. Immerhin sollten wir uns leisten können zu trauern über den Verlust von Möglichkeiten. Der Möglichkeitssinn ist uns abhanden gekommen? (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kap. 5). Wenn wir uns politisch darauf einigen könnten, was aus diesem Land in absehbarer Zukunft werden könnte, dann darf die Politik testen, was werden kann. Das wenigstens sollten wir denken und dann auch sagen.

Ich enttäusche mit selbst, indem ich mich zwinge, meine Gewährsleute, Literatinnen, Künstlerinnen, Intellektuellen, an dieser Stelle nicht aufzuführen. Es wäre die Werbung an der falschen Stelle: man kann sie hören, lesen, sehen, und soll das.

NB. Da kommt noch etwas, klar: warum ich Österreich verlassen habe, um überhaupt heimkehren zu können, fragmentiert, hat noch viele Geschichten. Ich erinnere wie gestern, wie ich auf dem Schulweg am Kiosk die Werbung für die Neue Kronenzeitung zum ersten Mal sah. Heute weiß ich, wie Populismus auch seinen Anfang nehmen kann.

 

Verschwörung…

Herr Pilatus fragte „Was ist Wahrheit?“ und ging damit in eine verworrene Deutungsgeschichte ein. Ja, was denn? Einfach.

Mein Onkel, Philosoph und Ingenieur, schrieb im Abituraufsatz vor 100 Jahren: „Die Wahrheit stimmt.“, sonst nichts. Er wurde nicht relegiert, sondern musste noch einmal schreiben. Nicht einfach.

Und Niklas Luhmann schrieb einen hinreißenden Text “ Was ist der Fall“ und „was steckt dahinter?“(Luhmann 1993). Gar nicht einfach.

So leite ich meine missmutigen Morgenüberlegungen ein. Beziehen wir diese Fragen alle in den Zusammenhang von

Verschwörung

Conspiratio Austriaca: Wer hat das Video von Strache und Gudenus beauftragt, tatsächlich inszeniert, und warum wurde es gerade vor zwei Tagen publik gemacht? Jetzt weiß man, dass Kurz Plakatflächen für den Wahlkampf der ÖVP im September hat anmieten lassen, obwohl man von der Wahl ja vor drei Tagen noch nichts wissen konnte…wow. WAS IST DAVON WAHR? (geraldkitzmueller.wordpress.com/2019/01/18/neuwahlen…; www.vienna.at/oevp-startet-nr-intensiv-wahlkampf usw.)

Vermutungen: Kanzler Kurz hat es selbst vor der letzten Wahl beauftragt, dann kann er mit den Nazis koalieren und sie zum richtigen Zeitpunkt loswerden (nachdem grausige Gesetze und Misshandlungen seiner Regierung durch die Koalition möglich wurden. ODER: Das Video hat eine lang planende und virtuos erfahrene Linke gemacht (Man spricht vom Zentrum für Politische Schönheit) oder gar Jan Böhmermann hats gemacht. (https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/ibiza-affaere-neue-spur-um-strache-video-fuehrt-nach-deutschland-62015714.bild.html). Oder  der Nazi und Innenminister Kickl hat es beauftragt, damit er schneller Parteichef wird.

Zu all dem muss es eine Konspiration gegeben haben, die nur solange eine bleibt, bis man sie ausgeleuchtet hat (Was steckt dahinter?), Wer steckt dahiner, wer hat was davon, wer kackt im Endeffekt ab?

Conspiratio Americana: Eine Rakete fällt in die Grüne Zone von Bagdad.

Vermutungen: Trump ist schnell beim Twitter: das war der Iran. Ein anderer sagt: das war Trump selbst, darum gab es gar keine Verletzten. Gut gezielt, ein Vorwand a la Massenvernichtungswaffen vor dem Irankrieg. Wieder andere sagen: das war der Iran, doch doch….weil er die USA in einen ähnlich aussichtslosen Krieg treiben will vorher Vietnam und Irak, und weil er damit dann seine Bevölkerung wieder in den Griff bekommt.

Täglich tausende Fakten und Fakenews, nichts kann man unbesehen glauben, und über die Glaubwürdigkeit jeder Information waren wir früher auch nicht so im Klaren, nur müssern wir heute schneller reagieren und die Verbreitung von Informationen geht eben auch schneller.

Trivial

Ja schon, aber mit Folgen. Mir geht’s ja nicht anders als den Meisten: manches ist so plausibel, dass man erst einmal bona fide annimmt; anderes ist so absurd, dass man es doch untersucht, weil es so gar nicht passt. Das Meiste ist irgendwie.

Die Information wird weniger interessant, weiß man erst einmal, wer ihr Urheber ist, wer dahintersteckt. Das ist trivial. Aber wenn die Verschwörung nicht zu einem unmittelbaren Attentat führt, zu einem Regime-Change, zu einer unumkehrbaren Denunziation, dann ist die Information – geleakt sagt man, oder? – der Treibsatz, der andere – Opfer, Journalisten, Zuschauer, Blogschreiber usw. – zu Reaktionen bringt. Wenn die Verschwörer gut sind, sehen sie diese vorher, wenn sie dumm oder unzureichend informiert sind, machen sich die Reaktionen selbstständig und lösen Konsequenzen aus, die die Verschwörer auch nicht bedacht hatten. Sorry.

Fanal

Industrievorstände, Wirtschaftler und Finanzer weltweit ducken sich unter Trumps Erlassen im Handelskrieg gegen den Iran oder mit China weg. Nicht nur deutsche Firmen, die um ihr Amerikageschäft bangen (noch sind wir zum Waffengang auf dem Börsenparkett nicht bereit),  unterwerfen sich. Mal sehen, wie lange das so geht. Auch Google hat sich Trump gefügt und gegen Huawei abgeschottet. Jeder kleiner Erfolg auf dem Parkett der Lüge macht Trump stärker, da muss an nicht von Verschwörung reden. Spannender sind die Verschwörungen gegen Trump, von denen wir naturgemäß nichts wissen, die wir aber getrost annehmen dürfen.

Vorher wird es den Krieg geben, der längst begonnen hat. Da können und sollen wir Europäer beweisen, dass wir mit keinem der Großen Drei mitziehen. Das bedeutet Konfrontation, auch mit dem so genannten Verbündeten USA, gewiss; auch mit den Handelspartnern Russland und China. Und den Unterlingen aller drei Mächte. Aber es muss keine schlechte Politik sein, den Verschwörungstheorien immer eine Wahrheit entgegen zu setzen: sich selbst. Das kann die Wahrheit an die Wirklichkeit heranführen.

 

 

Luhmann, N. (1993). „“Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ – Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie.“ Zeitschrift für Soziologie 22(5): 245-260.

 

Mein ist St. Rache, spricht der Herr

Gerade jetzt muss man kalauern.  Die besoffene Ehrlichkeit des auf Ibiza ertappten österreichischen Nazi-Chefs H.C. Strache hat mehr bewirkt als seine Vergehen gegen die Menschlichkeit, den Rechtsstaat und die Demokratie. Da er nun nicht wirklich charismatisch war, wird sein Rücktritt und der seines Lieblingsschülers Gudenus auch nichts an der FPÖ ändern.

(Noch wissen wir nicht, ob es Neuwahlen geben wird; noch wissen wir nicht, ob ein Teil des Volkes seinen Vizekanzler nicht einfach cool findet und wieder die Nazipartei wählt; noch beobachten wir). Aber darum geht’s mir jetzt nicht. Es wird Neuwahlen geben. In wenigen Monaten soll sich ein Land verändern können?

*

St. Rache. Vor 50 Jahren haben ein Freund und Arbeitskollege unsere Texte dekoriert, kalauernd jedes St. Als „Sankt“ ausgesprochen und geschrieben, und Inhalte durch ihr Gegenteil ausgedrückt (Sankt Einbruch). Bisweilen auch in dienstlichen Dokumenten und im schnellen Austausch von Informationen. Darin konnten wir Sankt Reng sein und der Berliner Bahnhof Alt-Nah-Christ erschließt sich meinen Blog-Leser*innen sofort.

Bei den Nazis liegen die Sprachspiele nicht so nah wie im geregelten politischen Alltag der Normalität, weil man sofort der Verharmlosung geziehen wird. Wen man ernst nimmt, den sollte man nicht verblödeln…Karl Kraus, Charly Chaplin, Böhmermann seien dem vor.

  1. Einwand: warum soll man Nazis ernst nehmen? Man soll die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ernst nehmen, man soll sie bekämpfen; aber sie selber ernst zu nehmen würde ja bedeuten, z.B. alles was sie sagen „gleichberechtigt“ in unsere Diskurse eingehen zu lassen – dazu ist das Leben zu kurz. Gegeneinwand: Man kann die nur bekämpfen, wenn man sie kennt, wenn man weiß, wie sie ticken, und warum, und mit welcher Perspektive. Das freut uns Wissenschaftler, es mag ja auch was dran sein. Aber: um dieses Verständnis zu erhalten, müssten wir uns sehr viel mehr mit uns in der Gesellschaft beschäftigen, und dann zieht der erste Einwand. Oder: erst in der Analyse der Nazis erfahren wir einiges über uns selbst? Das nehme ich jetzt wirklich ernst.

Robert Neumann reimte einmal: „Der See, der stinkt, die Luft ist rein / Hans Habe muss ertrunken sein“. So kann man Feindschaft schön und kurz umschreiben. Es gibt diesen Vers tatsächlich in mehreren Lesarten: spielt euch, sucht das raus, keine Plagiatsdikussion, bitte: ein Qualitätsmerkmal. Zu den Österreichern an der Regierung fällt einem da etwas weniger ein, man muss schon ihre Verbündeten zitieren, um zu merkwürdigen Reimen zu kommen – „die Pusztakrainer ist verdorban / das schmeckt dem Strache an dem Orban“. Wobei ihr Pusztakrainer erst einmal kennen und kosten solltet.  Aus mir blödelt ein wenig der Frust der Verzweiflung, weil ja „eigentlich“ der Vorfall (Das Interview von 2017) nur die miese Personage der österreichischen Regierung zeigt, und die Konzentrationspläne des Nazi-Innenministers Kickl gegen Flüchtlinge viel gefährlicher sind. Aber, mal ehrlich: das wissen wir. Wie man sich vom Alpdruck dieser Zombis kurzfristig befreien kann, um wieder politisch zu atmen, das ist mir heute wichtig. Politik kommt morgen, nicht früh genug, aber früh morgens.

  1. Einwand: In der ultimativen Absage an politische Gegner (heute im Allgemeinen Populisten, Nationalisten etc.) liegt ein Gefahr der Selbstlähmung, weil und wenn man indirekt anerkennt, dass die „ohnehin“ stärker, erfolgreicher sind, und die Antwort auf die Frage, warum das so ist, einen in den passiven Beobachterstatus versetzt. (In der österreichischen Alltagssprache heißt das „Es muass wos gscheng“ – und nach einer Weile „Konnst eh nix mochen“. Die erste Appell richtet sich an den erlösenden „Dritten“, der sozusagen der Retter aus objektiven Gründen ist, die zweite Einsicht sagt, dass man immer wieder aufwacht aus den halluzinatorischen Befreiungsträumen. Gegeneinwand: erst die Aktion, das Handeln, legt die wirklichen Widersprüche (auch die eigenen Schwächen) offen. Und man muss handeln, damit man selbst regieren kann und man muss regieren, damit man etwas bewirken kann. Zwei Stufen der gleichen Politik. Es ist aber nicht dieselbe Politik. Oder: was hab ich von den Widersprüchen, die wissen wir ohnedies alle? Wie kann man Macht erringen und einsetzen (so wie Macron mit „En marche“?) und dann nicht aufs Spiel setzen – ja, aber um was zu bewirken?
  2. Einwand: ich spreche von einer unerfreulichen Konstellation in einem Land, das ich sehr mag, aber wie kann man den Sumpf aus Nationalismus, Dummheit und Unfähigkeit, aber auch mit den Lichtblicken von Widerstand wie van der Bellen, Menasse, und den spontanen Protestierern vergleichen mit der nächst oberen Spielklasse Deutschland: auch hier eine ziemlich unfähige Regierung, schlechtes Personal, auch hier die Nazis im Parlament (nicht an der Regierung), auch hier fransen die Ränder aus, und die Mitte erodiert, aber man kann ja Deutschland und Österreich nicht vergleichen, so wenig wie man die deutsche und die österreichische Literatur vergleichen kann (Vorweg Gegeneinwand: die österreichische ist besser). Und geht man noch weiter nach oben: dann kann man ja die globalen Verspannungen der großen Drei und der nächstgroßen Drei auch nicht mit D und Ö vergleichen, und selbst die EU ist vielleicht keine der Großen Großen mit mit Großem G.

Gegeneinwand: Man kann schon vergleichen, nur nicht auf der Ebene der konstruierten Internationalen Beziehungen, Governance-Forschung und Macht-/Unterwerfungspraktiken. Der Vergleich sollte dort beginnen, wo wir ähnliche Motive der Einstellungen und Haltungen von Bevölkerungen vermuten oder teilweise auch beweisen können. Heinz Bude, einer der besten europäischen Soziologen, hat kürzlich bei Frage nach der Entsolidarisierung die Tatsache der Abkopplung von Interessen aufgeworfen; und ich greife auf eins meiner Lieblingslehrbücher zurück: Leidenschaft und Interesse, von Albert Hirschman. Interessen können zu kontrafaktischem Verhalten führen – etwa demokratisch eine Diktatur wählen oder Rauchen trotz bekanntem Krebsrisiko; in beiden Fällen finden subjektivierende, individualisierende Entscheidungen statt, die sich über die Evidenz des Wirklichen hinwegsetzen und andere Wahrheiten postulieren, im Namen von Glauben, Bedürfnissen, auch der Hilflosigkeit, nicht in die Entwicklung abgelehnter Tatsachen eingreifen zu können. Daraus ziehen nicht nur die Trumps Legitimation, sondern z.B. auch die FPÖ in der Anti-Islam-Politik. Der Unterschied ist, dass Trump viel mehr Macht über sehr viel mehr Menschen hat als St. Rache. Und um die Macht anzugreifen, braucht man in allen Fällen ein praktisches Interesse, das auch die entsprechenden Konsequenzen bei der Anwendung von bestimmten Mitteln für die umworbenen Menschen sichtbar macht: Das kann Gewalt sein, die einen Diktator vertreibt – was folgt dann? Das kann die Lüge in der Politik sein (Hannah Arendt), die erst die Wahrheit erkennbar macht – was folgt aus ihrer Decouvrierung? Das kann auch die Durchsetzung Recht gegen den Willen eines Volkes sein, von dem es ausgeht – wenn, und nur wenn, dieses Volk sich noch nicht so konstituiert hat, dass z.B. die Folgen seiner Orientierung absehen kann. Darauf kommt es an.

Trump erschießen macht wenig Sinn. Es folgen Pence und Bolton und eben die Zerstörer von republikanischer Basis einer gelebten Demokratie.

Strache & Kickl rauszuwerfen macht auch keinen Sinn.  Solange nämlich die Nazipartei wohlfeile Identifikatoren gegen die langfristige Imprägnierung einer sich wandelnden Gesellschaft durchsetzen kann (Stimmungsdemokratie, Fakenews, Rassismus).

Es gibt keinen primordialen Krieg um Demokratie und Freiheit. Da ist ja zunächst die öffentliche Verhandlung des Allgemeinwohls, der Solidarität, aber auch der unüberwindbaren roten Grenzen etwa der Grundrechte notwendig. Am Klima und den von der EU mit getöteten Ertrunkenen im Mittelmeer kann man das genau belegen und in Politik umwandeln. Was den Konflikt mit einschließt.

 

Für Österreich bedeutet dies, dass der gottseidank beginnende Wahlkampf bis September sich darauf konzentrieern muss, zu verstehen, wie „es“ so weit kommen konnte (30% für die Nazis)  und wie „es“ geändert wird, im Interesse vieler (die nicht alle zustimmen müssen): also Ersatz der Identität und der Meinung durch Politik.

Wir haben die Hoffnung, dass das gelingt – ich habe diese Hoffnung auch als Österreicher. Wir haben aber noch keinen Grund zur Zuversicht, dann dazu müssen die Politik und die Kultur sich konfliktbereit über die jetzige Opposition hinaus auch konstituieren – als Teil einer demokratischen Gesellschaft, die sich dann Volk im Sinne der Verfassung nennen darf.

 

*

Ich schreibe dies neben, nicht gegen die oder im Sinne der oft klugen, oft dämlichen Analysen der politischen Wissenschaften oder der „Berater“ funktionierender Governance. Das kann dem politischen Alltag vorbehalten bleiben.

Mich treibt die Kontrafaktizität um (Erich Fried: ein Antifaschist / der nichts ist als ein /Antifaschist/ ist kein Antifaschist). Die Befreiung von einer Naziregierungspartei ist natürlich noch nicht DIE Freiheit. Aber ohne sie wird diese schwieriger zu erringen sein.

Mich treibt die Retroperspektive auf Europa um. Nicht woraus es kommt, sondern wohin es sich entwickeln kann – z.B. als Macht gegen die und nicht mit den Großen. Das setzt aber auch Konsolidierung im Inneren voraus. (Jetzt kein Wahlprogramm: aber natürlich muss man die Gangster der Waffenindustrie daran hindern, die Diktatoren zu beliefern, aufgrund deren Gewalt die Flüchtlinge auch zu uns kommen; natürlich darf man nicht augenzwinkernd den Nachbarn mehr Klimatod zugestehen als man selber abzuwehren bereit ist; etc.). Wie gesagt: Europa kann immer wieder Frieden herstellen, mit Hilfe des entstehenden Bundesstaates. Aber das wird und muss nicht immer friedlich zugehen, wie der geistige Marktliberalismus sich das so vorstellt).

Minimalprogramm:  Schengen erhalten, Dublin radikal abändern, Asyl („politisch Verfolgte“) vom Schutz der Bedürftigen (Menschenrechte, Fluchtursache) deutlich scheiden und humanitäre Immigration fördern (nicht gleich immer „integrieren“, wo wir so genau nicht wissen, wo hinein); Sozialstaat und Meritokratie verbinden (Mindestsicherung und Leistungsorientierung), Europäische Armee anstatt NATO und nicht neben ihr; und über allem Umwelt-Erhaltung (Schutz ist zu wenig), Klima-Katastrophe abwenden (und dafür Einbußen bei der subjektiven Lebenshaltung deutlich ankündigen und durchziehen; angeblich können sich Menschen in bestimmten Grenzen sogar ändern).

 

St. Rache ist heute schon Vergangenheit. Sein Erbe macht hässliche Flecken.

 

So einfach ist es NICHT

 

Häufig werden Nachrichten in EINFACHER SPRACHE gesendet, weil das (vielleicht) Menschen, die weniger wissen oder ausdrücken können, besser informiert. Ich habe analog einige EINFACHE ÜBERLEGUNGEN aufgestellt, um das Gegenteil zu erreichen: bei ExpertInnen und Interessierten Argumente für anscheinend zu einfache Thesen und Behauptungen zu bekommen. Also: was ist falsch oder unhaltbar an den Thesen, KRITIK ist angesagt, nicht gleich Differenzierung. Und: schreibt bitte wirklich am Ende der Liste (…) weitere Argumente.

Viele Staatslenker spielen mit den Möglichkeiten, jetzt schneller in einen Krieg einzutreten als jemand hätte erwarten können. Dafür sprechen überwiegend taktische oder ideologische Gründe:

  • Die Weltgemeinschaft hat weniger Bindungskräfte aufzuweisen, starke Akteure, wie Deutschland, sind geschwächt oder handlungsbeschränkt, andere erhoffen sich durch Aggression innen politische Stärkung;
  • Die USA sind außer Kontrolle geraten, wie schon vorher Russland mit der Krim und der Ukraine. Nur: Deutschland ist Mitglied der NATO und kann sich an Unterwerfungsgesten gegenüber Trump nicht genug tun, auch weil die EU so schwach ist;
  • Die EU ist so schwach, weil sie ihre weltpolitischen, aber auch zivilgesellschaftlichen Ziele gegenüber den zunehmend faschistischen Mitgliedstaaten und ihren Regierungen nicht durchsetzen kann und deshalb gegenüber starken Außenmächten auch etwas behindert ist; („faschistisch“ ist kein Ausrutscher, was Ungarn, Italien, Polen und andere betrifft; manche, wie Österreich, sind mit ihrer Nazibeteiligung am Kippen); Deutschland trifft hier eine konkret nachzuweisende Schuld, außenpolitisch sich selbst handlungsunfähig zu machen.
  • Die USA haben, auch im Konkurrenzkampf mit China, keinen Gegner zu fürchten, weil, gerade weil, sie sich an internationale Abkommen nicht halten und China deshalb seine Gläubigerrechte gegen die USA nicht geltend machen kann;

Ich sagte, „taktische“ Gründe sprächen für den Krieg.  Fragt nicht, wer was zu gewinnen hätte, sondern wer was zu verlieren hätte. Aus Sicht der aggressiven Staaten – USA, Russland, Brasilien, Türkei, Iran (ja, auch der) usw. – wenig, weil Menschenleben ohnedies hier nicht so viel zählen.

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Es ist in diesem Blog nicht neu und meine Überzeugung – FINIS TERRAE – dass wir entweder im 3. Weltkrieg sind (H. Ebeling) oder einem sich ausbreitenden Krieg unterliegen, der nur anders begrenzt und strukturiert ist als andere, frühere.

Was mich über die bekannten Kriegsursachen hinaus umtreibt, ist eine grundsätzliche Inkonsequenz der POLITIK.

ALLE POLITIK müsste sich primär der Klimakatastrophe, dem Artensterben, dem Hunger widmen, und mit diesem Fokus regieren und Politik machen, also handeln; incl. Druck ausüben und ggf. Gewalt anwenden. Ohne diesen Halbsatz wäre diese Aussage zahn- und harmlos. Ein Beispiel:

Wie soll der brasilianischen Regierung Einhalt geboten werden, innerhalb weniger Jahre den gesamten Urwald abzubrennen? Das Beispiel ist prekär dann, wenn man im Übersprung sagt, da müsse man gleich Bolsonaro „den Krieg erklären“. Ja, nur wie führen wir ihn, und wer macht mit?

(à Zurück an den Anfang: einfache Sprache, einfache Argumente).

Die so genannte revolutionäre Sprache war immer gewalttätig, und ihre Zivilisierung ist auch ein Produkt der gesellschaftlichen Friedensordnungen und -politiken. Man droht nicht mehr nur einfach mit Krieg, man wirft Herrn Grenell nicht gleich aus dem Land, man schickt auch keine Truppen gegen Ungarn oder Italien…und jetzt kommt der diskursive Versucher und sagt: da kuscht ihr lieber ohnmächtig. Aber so ist es ja nicht: es gibt ja Druck und die Potenziale der Gewalt, die auch im Rückzug aus Allianzen und in Sanktionen bestehen  können – warum überlassen wir die immer nur denen, die ohnedies so stark sind, dass sie gleich Krieg führen können? Also z.B. Trumps Ankündigungsterror, der ja offenkundig Wirkung zeigt. Das macht Putins Aggression nicht weniger grausam und Xis Menschenrechtsverletzungen nicht weniger unerträglich.

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Aber ich bleibe hier. Nehmen wir an, einfach gesagt, Deutschland sei eine der wichtigsten demokratischen Rechtstaaten dieser Erde, „wichtig“ = „mächtig“. Einschränkung: nur einer, und nicht so mächtig, dass man sich jede Drohung oder jedes militärische Engagement leisten kann. Aber nehmen wir an, wir sollten den genannten Autokraten, und derer sind mehr als nur diese, von hier aus Paroli bieten. Gründe gibt es genügend, und die sind zu vermitteln.

Dann würde das bedeuten, dass u.U. erhebliche Einbußen an Lebensqualität für die Deutschen eintreten können, wenn die Regierung auf wirtschaftlicher Ebene hart agiert, z.B. den Tourismus aus autokratischen Ländern hoch besteuert und kompliziert; bestimmte Importe unterbindet; erhebliche Investitionen in die Sicherheit zu Lasten anderer Bereiche getätigt werden. HALT: da wird zu Recht gesagt – Deutschland allein kann und soll das nicht, das muss die EU insgesamt machen. Richtig, aber wie bekommen wir die EU dazu: indem Deutschland und einige andere „Starke“ voran gehen (in dieser Hinsicht gibt unsere Regierung ein selten miserables Bild ab).

Es fehlt dieser und anderen Regierungen die Fähigkeit, mit den und damit gegen die Autokratien zu verhandeln, Druck auszuüben und auszuhalten. Eine von mehreren Erklärungen für dieses mangelnde Kompetenz führt ins Herz der Finsternis, pardon, ins Herz der Begründungen für diese Unfähigkeit: die Regierungen glauben nicht (mehr) an die Bestimmung von Demokratien, nicht nur den Willen des Volks  auszuführen, sondern ihren Bevölkerungen die Möglichkeit zu geben, sich als Volk jeweils zu konstituieren und von sich das Recht ausgehen zu lassen. Anstatt dessen wird regiert, wie die Vermeidung dieses politischen Schritts den Leuten gerade nahelegt. Autofahren bis zum Erstickungstod der Enkel,  Abwarten bis die Welt nur noch Flüchtlinge kennt, Demokratie für Sicherheit opfern und vor allem auch sich mit jedem kleinen Scheiß von heute auf morgen zu ereifern, damit man ja nichts wichtiges angreifen muss – worin ja auch die Konstitution des Volkes in der Demokratie bestünde.

(Zu einfach? Zurück zum Anfang).

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Und wozu das alles. In vielen Veranstaltungen, Vorlesungen, Seminaren, Tagungsbeiträgen etc. steht ganz genau und im Detail, was wie zusammenhängtk, was die politischen Wissenscha ften und was unser Verstand uns für wahr zu nehmen und zu tun raten. Warum tun das aber die, die es könnten, nicht. A) weil es meist die Falschen sind. Auf ins Wahlrecht, in den Wahlkampf! B) weil ihnen die Zustimmung wichtiger ist als der Effekt ihres Handelns – verstehen wir das: die Bevölkerung sorgt dafür, dass das so ist, von den Gelbwesten bis zu den Parteitagen. Erst wer ein Volk wird – ich plädiere für ein europäisches Volk, kein ethno-nationales – kann von der Politik verlangen, dass etwas bestimmtes geschieht, jenseits der „Bewegung“; C) es sind genau die alles umgarnenden Bewegungen, die auch B verhindern.

Ich komme darauf zurück. Bis dahin bleibe ich so einfach.  Die Brasilienfrage ist ein Blog-Test. Was tun gegen die drei Mega-Autokraten und die n+1 Mezzo-Autokraten? Dem Krieg entgehen ist nicht immer möglich. Aber die Kämpfe zu vermeiden, und die Toten, und das Elend, das geht etwas besser.

Konzentrationslage?

Wir sind wieder bei den Vergleichen. Sie müssen sein. In einem Beitrag von Thilo Kössler im DLF heute Morgen (14.5) vergleicht eine Menschenrechtsanwältin der USA die Kindergefängnisse der Trump-Verwaltung mit KZs. Das war gut begründet. Es sind Geheimanlagen, mit Kontaktsperren, militärischem Reglement, unzugänglich für die Öffentlichkeit – Lager für Kinder, die von ihren Eltern getrennt waren. Allmählich sickern Berichte darüber durch, das Lager „Tornio“ (?) ist mittlerweile aufgelöst. Menschrechtswidrig, rechtswidrig, Kinderschutz-Konventions-widrig.  Unser Partner USA.

Von anderen Ländern erwartet man nichts anderes, muss trotzdem mit ihnen reden. Ungarn, Österreich (Nazi-FPÖ mit Kickl, Strache, Gudenus…), und andere sind auf dem besten weg dahin, und bei Seehofers Rhetorik fehlt nicht mehr viel. Aber da gibt es eben den Unterschied: hier gibt es Barrieren der rechtsbewussten Öffentlichkeit, der Kritik, Seehofer kann und darf nicht, wie er will. USA ist etwas anderes. Ein Autokrat hebelt eine insgesamt doch der besten unabhängigen Justizsysteme aus, das präsidiale Dekret erledigt ein Stück Demokratie nach dem andern, Richter werden in großer Menge nach Wohlverhalten gegenüber Trump ernannt. Und der amerikanische Botschafter in Deutschland, ein unerträglicher Exekutor der Wünsche seines Herrn, verdient es, binnen 24 Stunden aus dem Land geschmissen zu werden.

Zunehmend die Frage: wie verhalten wir uns, wenn die USA den Großen Krieg wieder anzetteln,  wie bei Irak? Wird die EU zusammenhalten, und wer hält sie zusammen?  Weber mit Orban? Macron mit den Liberalen?

Und die andere Frage, mein Ausgangspunkt: sind die Außengrenzen und die Flüchtlinge und das Asyl tatsächliche Ursache für die Verluste an Zivilisation und Rechtsstaatlichkeit, oder die Folgen einer fundamental falschen globalen Politik mit falschen Prioritäten?

Ich denke, dass die Klimakatastrophe und das Artensterben mehr mit den Flüchtlingen zu tun haben als die wirtschaftlichen Katastrophen in den Herkunftsländern. Dass  aber wir zu dieser Katastrophe mit unseren Waffenexporten, mit unserem Arbeitsplatzfetisch (zu Lasten anderer), mit unserer bräsigen Ermahnungsphilosophie aus dem Lehnstuhl der Wohlstandsverwahrlosten einen fatalen Beitrag leisten, sollte man immer wiederholen.

KZ-Neuauflage. Ein Auschwitzüberlebender hat vor ein paar Tagen die Ertrunkenen im Mittelmehr mit den Opfern der Gaskammern verglichen. Ein starker Vergleich, vielleicht zu hart? Für die ertrunkenen Menschen ein Menetekel, das den Salvinis und Seehofers einen unruhigen Lebensabend bescheren soll.

Jüdischer Einspruch IX: Antisemitismus und Armut – Gelber Stern, gelbe Weste

Alain Finkielkraut, auch einer, der früher links war und sich seit längerem den konservativen Zweifeln am Multikulturalismus und anderen Emanationen der unabgeschlossenen politischen und kulturellen Aufklärung anschloss, einer von vielen. Sehr klug, sehr bekannt (Academie francaise), ein öffentlicher Intellektueller. Er hatte von Anfang an die Gelbwesten unterstützt.

Dieser A.F. wird am Rande einer Gelbwestendiskussion erkannt, angegangen, grob antisemitisch beschimpft. Als Reaktion beschwichtigt er nicht, aber implizit sieht er zwei Bewegungen: die legitime periphere der „Abgehängten“, die richtig auf die inadäquate Politik reagieren, und diejenigen, denen der Protest die richtungslose Agitation ihrer Ressentiments erlaubt (meine Zusammenfassung, begrifflich sieht das Im Französischen anders aus). Ich nenne diese zweite Gruppe Pöbel, und eine anti-plebejische Abneigung – hat nichts mit Frankreich zu tun –  bricht durch: warum liegt der Antisemitismus nicht nur bei den etablierten Parteien so knapp unter der Oberfläche, sondern auch bei den „Bewegungen“, die oft als Populismus verharmlost werden, ober die Verweigerung aus Unzufriedenheit ausdrücken – und wieder sind die Juden mit schuld? Finkielkraut analysiert in seiner Antwort auf die Frage die Delegitimierung der Bewegung durch zukunftsloses Sektierern (ich sage in Deutschland nur „Aufstehen“!). Eine Verallgemeinerung wäre: nicht nur was ist, zählt, sondern was tun? ist eine Antwort suchende Frager, an deren Ausgang Politik für die Zukunft, nähere wie ferne, stehen sollte. Nur: da könnte man statt Juden auch Kapitalisten, Oligarchen, ENA-Absolventen, Wirtschaftsweise oder Radfahrer sagen. Nein, die Juden.

Macron hat Finkielkraut sofort verteidigt (richtig), aber auch als Symbol der republikanischen Kultur (fragwürdig), denn die wird ja von den Populisten in Frage gestellt.  In ungeformtem Widerstand. Und die Juden? (Ihr wisst, dass pro-aktiv nie von Juden, sondern nur von jüdischen Menschen spreche). Das Konstrukt „Jude“ kann beliebige Leerstellen besetzen, es passt anscheinend immer.

(John McAuley: Low Visibility. NYRB 21.3.2019, 58-62): Lesenswert und erschreckend.

Und dann, eine Nummer später setzt die NYRB einen drauf: Jason Farago rezensiert Edouard Louis (J’Accuse! NYRB 18.4.2019, 22-26). Lesenswert und deprimierend. Vor ein paar Tagen haben wir in der Schaubühne „Im Herzen der Gewalt“ gesehen, Regie Ostermeyer, blenden in Szene gesetzt, aber die Hauptfrage offen: wenn er sich aus der Diskriminierung als Schwuler herausarbeitet, wenn er sich aus dem von links nach rechts schwenkenden Lebensumständen der Abgehängten in die Eliteschulen hinausarbeitet und an der ENA studiert, wenn der dann auch noch einen ambigen Rassismus trotz allem seinem Sexualpartner gegen zeigt, und ihn zugleich verteidigt,  weil Polizei, der Saat, die da oben usw. noch viel schlimmer sind – und dann viel deterministischer als je bei Bourdieu alls auf Klasse, Herkunft, Habitus und die sozio-genetischen Wurzeln schiebt (nur sich selber nicht, weil er das ja analysiert), dann wird das nicht veränderbare Unbehagen wirklich deutlich. So gings uns nach dem Theater, so geht es Farago, so geht es Louis selbst.  Aber wenn der gegen erwiesene Homophobie und Rassismus der Gelbwesten einwendet, die Kritiker meinten gar nicht dies, sondern sagen immer nur „Arme Leute, haltet das Maul!“, dann geht das natürlich daneben. Louis schreibt einmal: Schwulenhass = Armut. Auch das ist amputiert. Nur stimmt die Umkehrung nicht, da müssen wir uns in Acht nehmen.

Was aber aus all dem deutlich wird, dass Antisemitismus eine Folie darstellt, auf der verschiedene gesellschaftskritische und -ablehnende Aggressoren ausgebreitet und angeordnet werden können, dass Armut und Isolation eine solche Folie ist, auf der auch der Antisemitismus ein Puzzlesteinchen darstellt usw.

  • Die Hartnäckigkeit des Antisemitismus kommt auch aus der Konstruktion von Juden, gar im Singular „des Juden“. Ich wiederhole mich: seit Jahrhunderten sind die „Juden“ als Spezies, als soziale Gruppe Produkte des Antisemitismus, und ist nicht dieser das Produkt jüdischen Verhaltens, jüdischer Moral und Ästhetik;
  • Die Politik der israelischen Regierung unter Netanjahu und dessen Unterstützung durch Trump fördert die Camouflage des Antisemitismus als „Israelkritik“, gerade bei linken Antisemiten. Dabei übersehen die meisten, nicht nur linken, Kritiker, dass z.B. in der Iranfrage ja reale Gefahren für Israel, nicht für „die Juden“ bestehen, und dass in Israel jüdische Demokraten erheblich unter Druck von jüdischen Nicht-Demokraten stehen. Im Übrigen verstärkt diese Konstellation die Konstruktion der Juden.

Was gerade aus Frankreich aktuell angesprochen wird, gilt in Variationen für viele Gesellschaften in Europa. In vielen Diskursen gibt es eine jüdische Funktion von Katalysatoren gesellschaftlicher Ungleichheit und Konflikte, unabhängig von der Realität oder auch Absurdität solcher Zuordnungen; es ist eher eine Funktionalisierung der Juden als eine direkte Schuldzuweisung, aber immer mit dem „Die sollten es eigentlich besser wissen“ (als Opfer) oder sie „wissen es besser“, weil sie sich dem Opferstatus aktiv entgegenstellen – und, paradox, „Täter“ werden).

Die Gegenmaßnahmen gibt es, manche sind sinnvoll (Antisemitismusbeauftragte in Bund, Ländern und Kommunen; Curriculumreformen etc.). Das „Wachhalten“ der Erinnerung an die Shoah erscheint mir zu kurz gedacht und gesprungen, weil a) die Zeitzeugen rar werden und b) die Historisierung der Shoah unvermeidlich ist, also nicht politisch umgangen werden kann. Es kommt darauf an, das kollektive und kulturelle Gedächtnis immer wieder neu und kritisch zu formen, und dabei hilft die Shoah immer weniger (was die junge Generationen an sich nicht tragisch nimmt, weil das Wissen über den Holocaust notwendig weniger und transformiert wird). Vor allem hilft es nicht, dem Antisemitismus eine gesteigerte jüdische Identität entgegenzustellen, die sich aus der Desintegration (Max Czollek) in ein Selbstbewusstsein begibt, dem das Gegenüber fehlt. Die Shoah bleibt – bei uns – noch lange präsent, aber sie ist nicht die Grundlage einer Politik gegen den Antisemitismus, im besten und wünschenswerten Fall ist diese Erinnerung etwas, das unsere Kultur, unser ziviles Verhalten, unsere Urteilsfähigkeit stärkt: das wäre viel. Den Antisemitismus und seine Subtexte zu decouvrieren, ist mindestens so wichtig. Das ist nicht nur Forschung. Auch die Aufmerksamkeit gegenüber den antisemitischen – und nicht nur rassistischen, xenophoben, deutschthümelnden – Stereotypen ist notwendig; Aufmerksamkeit und Sorgfalt gehören zum Inventar einer guten politischen Diskursstrategie ebenso wie zur selbstkritischen Beobachtung der eigenen Handlungen und Argumente (was beim israelischen Fall besonders dringend und wichtig ist, damit wir nicht in eine unauflösbare Ambiguität gegenüber dem jüdischen Staat, dem einzigen, verfallen.

Nachsatz: es ist kein Zufall, dass ich die meisten Belegstellen der New York Review of Books (NYRB) ISSN 0028-7504, entnommen habe, einem der stärksten kritischen Organe des freien Teils der USA. www.nyrb.com: Ja, das ist Werbung. Typisch jüdisch, was? So kann Bildung auch für Gebildete sich fortsetzen.

 

Kevin allein bei Gabriel

Kevin Kühnert hat mit seinem Interview in der ZEIT seiner Partei Ärger gemacht. So,  wie kurz davor Boris Palmer Claudia Roth auf die Palme gebracht hatte. Nur war das bei Palmer ein etwas anderes Niveau. Aber Kühnert allein zu Haus hat schon wichtige Fragen angesprochen, vor allem gegen die Markttrottel ausgeteilt, die den Art. 15 unserer Verfassung kippen wollen.

Die SPD ärgert sich, Ironie und Ablehnung halten sich die Waage (Kahrs, Scholz, uuaah). Aber Gabriel, der glück- und geistarme Ex seiner Verliererpartei, schießt einen Vogel ab, der ihm noch einmal schwer auf den Kopf fallen soll.

Gabriel bringt Kühnert in die Nähe von Trump; er zeiht ihn, ja was, des Populismus a la Trump, er, Kühnert, ignoriere Fakten. www.tagesschau.de/inland/gabrielkuehnert-sozialismus-101.html. Ich hatte von Kühnert nie viel gehalten, aber er denkt schnell, spricht gut und legt Finger in die richtigen Wunden (konstruktiv habe ich ihn nie empfunden). Seit gestern bin ich ein relativer Fan von ihm.

Wenn Siegmar Gabriel Kühnert mit Trump vergleicht, mit diesem pathologischen, sexistischen, rassistischen Exekutiv-Verbrecher (der nur höflich behandelt wird, weil er reale Macht hat und Herrschaft ausübt), dann überschreitet er drei Linien: a) die des gebotenen Anstands, man kann auch sagen: guten Benehmens. Ich schimpfe ja auch gerne (siehe letzten Blog), aber man sollte wissen, wann wo wie und vor allem auf wen. Wenn Kühnert Trump analog handelt, was sag ich dann zu Bolsonaro, Orban, Kaczinsky, Erdögan und andern Faschisten und Kriminellen?. Ich müsste „zulegen“, das widerstrebt mir… b) die der Fakten. An Kühnert ist vieles unrichtig, unrealistisch, aber nie populistisch. Eher links konservativ und wenig handhabbar; c) er grenzt dort aus, wo die Theorie zur materiellen Gewalt werden kann, wenn es die Massen ergreift, um gleich zu Marx zu greifen. Es geht natürlich um Gewalt, die vom Art. 15 ausgeht, gegen die Wohnkonzerne Deutsche Wohnen, Vonovia etc.; gegen die Glyphosatverbrecher in den Chemievorständen; gegen die Umweltkraken in den Auto-Vorständen. Leider, das spricht gegen Kühnert, hat das Klima, die Natur etc.  aus seinen Argumenten ausgeklammert, weil er nicht danach gefragt wurde, wie er nachträglich sagte. Aber er steht natürlich gegen Trump und dessengleichen, wenn es um die Massen geht, die ergriffen werden müssen, um die Verhältnisse zu verändern.

Nun, Siegmar Gabriel. Wenn seine gemeiner blöder Vergleich der SPD schadet, soll mir das recht sein: vielleicht würde sich die Partei dann schneller erneuern als mit Nahles und ihm. Eine gute SPD brauchen die Grünen als Juniorpartner schon,  wenns mit den Schwarzen nicht reicht. Kühnert sei Dank.