Meine Sorgen und Rothschild

„Deine Sorgen möchte ich haben – und das Geld von Rothschild“, war ein running Gag in meiner Familie. Wenige Sätze haben mich bis heute bei der Beobachtung von Öffentlichkeit und Politik so beeinflusst.

In diesen Tagen geschieht seltsames: wenn monatelang die Ängste der Abgehängten anscheinend die Leitidee von Rechtfertigung von politischen Willensbekundungen oder sicherheitsrelevante Gesetzesverschärfungen bestimmt haben; dann geht es plötzlich, in der Agonie der Großen Koalition, um die Ehe für alle, in der Vorbereitung auf G20, im Aussparen von Konflikten mit anderen europäischen Partnern, und um die Verzögerung von Umwelt- und Sozialstandards. Man könnte aufatmen: endlich zur realistischen Politik – nicht einfach „Realpolitik“ – zurückkehren. Herstellung von Normalität?

Ich möchte aufatmen, dass die Republik wieder zur demokratischen Normalität auch in den herrschenden Diskursen zurückkehrt. Ich atme nicht durch, sondern halte den Atem an. Hinter all den genannten Themen und einigen mehr (Abschiebungen, Erdögan-Redeerlaubnis und inhaftierte Journalisten) verschwinden die Probleme. Thema und Problem sind nicht das Gleiche. Was sind unsere Probleme – ich reduziere sie jetzt auf zwei: Umsteuern in der Klimapolitik, so wie das à Hans Joachim Schellnhuber in der Perspektive 2020 genau beschrieben hat; und Abkehr von der Versicherheitlichung zugunsten einer menschenrechtlichen globalen Innenpolitik. Problem Klima: Überleben, mit allen Implikationen überschaubarer Zukunft, also dem Leben von Enkeln, ggf. Urenkeln. Es ist falsch, einen Kompromiss oder eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie zu suchen. Nicht weiter. Problem: Sicherheit gegen Freiheit. Es ist falsch, einen Kompromiss oder eine Versöhnung von S und F zu suchen.

Die Verkürzung auf zwei politische Foci ist eine Reduktion von Komplexität, die politische und gesellschaftliche Umsetzung aber eine gewaltige Erhöhung dieser Komplexität.

Ich habe dafür zwei Leitvorstellungen: zum einen die These, dass die Probleme leichter zu lösen sind, wenn sie von supra-nationalen Verbänden und Verbünden durchgeführt werden (also UN, EU, auch NATO, und die entsprechenden Ansätze im globalen Süden). Zum andern die tatsächliche Umverteilung des vorhandenen Reichtums auf so viele Mitwirkende und Mitbestimmende wie möglich.

Ein solches Argument hat nicht, zu keinem Zeitpunkt, andere Probleme aus den Augen Verloren: Ernährung, Gesundheit, Bildung und Kultur, Habitat etc. Aber keines dieser Probleme ist ohne den Kontext zu Klima und Freiheit auch nur zu diskutieren, geschweige denn zu lösen.

Das ist nicht abgehoben: nehmen Sie nur das Problem weltweiter Flucht und Migration: wenn alle Fluchtgründe analysiert werden, sind die beiden Hauptprobleme immer präsent.

Dazu ist es notwendig, dass das nationalstaatliche Gewaltmonopol auf die supra-nationalen Institutionen übergeht. Und dass der öffentliche Raum ausgeweitet wird, damit die Mitwirkung der Menschen besser möglich wird (also, dass Politik gemacht wird und nicht nur öffentliche Güter besser verteilt werden).

Die Durchsetzung hängt nicht nur am Willen von Instanzen, die die Macht haben, diese Probleme normativ durchzusetzen. Solche Macht sollte in der Lage sein, die Durchsetzung sanktionsbewehrt zu erzwingen, d.h. ggf. Gewalt anzuwenden, wobei die Grenzen genau im zweiten Problem angesprochen sind: Das kein Plädoyer für Gewalt, es sagt nur, dass Frieden als Folge der Lösung der beiden Problem nur das Ergebnis der Konfliktregulierung sein kann; und wenn die sich den beiden Problemen verschreibt, ist auch Gewalt eine von vielen Instrumenten. Je mehr der Rechtsstaat anerkannt wird, desto gewaltärmer kann die Durchsetzung zB. von Gesetzen erfolgen (z.B. Abschaffung von Kohlekraftwerken gegen den Widerstand der Kohlenlobby etc.). Die Analogie zu früherer legitimer Gewaltanwendung kann z.B. an der Dekolonisierung gezeigt werden. Und ein Hinweis: wer die Zeile boykottiert, ist nicht einfach ein Spoiler, sondern hinter ihm stehen Interessen).

Diese Interessen zu erkennen und ihre Stoßrichtung gegen die beiden Ziele deutlich zu machen, ist eine Frage der allgemeinen Bildung und der aufgeklärten Reflexion und Information. Womit wir wieder bei der Freiheit wären.

So etwa sähe mein Wahlprogramm aus, das alle Ressorts einer Regierung den beiden Zielen zu- und unterordnet. Mein Sorgen, das Geld ist da.

 

 

Finis terrae XV

Zurück in die Spur

Weder habe ich Anlass noch Intention dieser Folge von Überlegungen zum Ende der Welt, wie wir sie kennen, vergessen. Des Jenseits beraubt und nicht bedürftig, treibt es die Immanenz immer weiter auf einen Zustand hin, in dem ich heute schon meine Enkelinnen beweine, weil sie so viel nicht mehr sehen werden, das ich noch kenne; weil sie so viel wissen werden, das wir noch hätten ändern können. Immerhin sind die Zeitläufte noch so langsam, dass ich mich unterbrechen lassen kann, durch den unmenschlichen Deportationsminister oder einen grünen Parteitag. Aber aus den Augen habe ich das nicht verloren, was vielleicht noch ein Überbrücken, einen Seitensprung erlaubt.

Ich gleite wieder in meine Spur, in die Spur von Verzichtethik und Weltbürgertum, altmodisch, und nicht gleich gereizt, wenn das einigen zu lahm erscheint. Da ich die wohlfeilen Opfer ihres Bedeutungsverlustes rund um mich besonders häufig erlebe und mich aus dem Pleijadenstrom nicht ausnehme, der ins Dunkle abzieht, erstmal hier beginnen.

Was mache ich hier eigentlich?

Ich gleite keineswegs in die raunende kulturpessimistische Selbstverabschiedung ab, einen Umweg müsst ihr mir aber gestatten. Die melancholische Eingangspassage hat ihren ganz und gar metallenen Hintergrund, der ja für vierzig und mehr Jahre die Aussenhaut meiner Reproduktion war.

Aber aus gutem Grund verwende ich die Metapher, dass ich mir, dass der Wissenschaftler dem homo politicus, über die Schulter schaut, gerade jetzt; seit dem Kosovo verfolgt mich das Bild, dass mir das alter ego dabei zuschaut, wie ich meinen Nachruf verfasse, je nachdem, aus welcher Position, bedeutungen zuschreiben und sie verglühen zu sehen. Finis personae bevor es an das Ende der Welt geht.

Mein Finis terrae ist natürlich auch nicht neu, Leggewie und andere haben finisterrae oder Finistère längst abgewandelt. Aber gegen das Finis Germaniae muss man auch ankämpfen, plötzlich war Sieferle + in aller Munde, damals galt er als ökologische Entdeckung, damals, vor 30 Jahren. (Den Skandal der unbedachten Exhumierung kann ich euch nachzuverfolgen nicht ersparen, er ist leicht aufzufinden und typisch; so, wie die Baberowski-Debatte oder die Bundeswehr-Nostalgie am Drecksrand der Truppe – nicht von der Leyen ist Schuld an diesen verrotteten Residuen)…

Aus der sinnbildlichen Welt zurück an den Schreibtisch: das Nachdenken schwankt zwischen der angemessenen „Melancholia“ und der kurz aufkommenden „Euphoria“. Nur nicht zu schnell stoisch werden.

Zurück zum Weltbürgertum und zur Verzichtethik. Ich rufe in Erinnerung, dass Endlichkeit ohne Bedauern auch normativ zu sehen ist, wenn man nicht will, dass so gehandelt wird, dass es weitergeht, erträglich und lebensfroh. Aber dass das bestenfalls eine Haltung ist, keine Politik.

Die Verteidigung des Nationalen ist das Placebo (so etwas macht Sloterdijk), einen Aufschub zu bekommen. Das Supranationale (Nicht: „inter-„!) ist ja noch gar nicht ausgeprägt. Der grossartige Versuch der Vereinten Nationen musste scheitern, als man beschloss, alle ohne Prüfung der Verlässlichkeit punkto Charta und Menschrechtspraxis aufzunehmen; er ist ja nur halb gescheitert, Dag Hammarskjöld und Kofi Annan habens gezeigt, und noch immer ist es eine Hoffnung, dass dieser institutionelle Messias zu Lebzeiten kommen möge. Stärker noch die Kraft in der EU. Nicht Europa beschwören, es gibt es nicht, aber es kommt, wenn man es macht.

Ein Missverständnis zeigen viele, die das Problem erkannt haben: Der Rettungsanker „Nation“ funktioniert nur (mehr), wenn „Nationalismus“ dem vorgeschaltet ist. Der Westfälische Frieden kann im Zeitalter der Globalisierung nicht funktionieren, und wenn territoriale Souveränität nicht funktioniert, können alle Verhaltensnormen im politischen Umgang der „Völker“ mit einander auch nicht funktionieren. Also schmieden die neuen Autokraten in Russland, Polen, Ungarn neue nationale Mythen (die als Ideologien erscheinen), während die Selbstherrscher in den Vorstandsetagen, Trump an der Sitze, darauf verzichten und den Betrieb als Quelle autokratischer Macht benutzen, um dann auf die schäbige Linie der Autokraten einzuschwenken. Das hat mit der Nation von 1776 oder 1789 wenig zu tun.

Aber wie sich der oft pathetischen, aber anthropologisch verständlichen Forderung des „Belonging to“, der Zugehörigkeit stellen, wenn man sich nicht in unsinnige Identitätsverstrickungen verliert? Die negativen Folgen der Globalisierung sind hinreichend diskutiert. Irgendwo stößt irgendwer immer an die Fragmentierung der Welt durch Ressourcen-Knappheit und ungerecht verteilte Eigentumstitel. Es gibt aber eine positive, Widerstand verheissende Folge der Globalisierung. Wenn der öffentliche Raum nicht unendlich, aber faktisch unbegrenzt wird, können wir überall handeln, wir brauchen uns nicht „einzumischen“, also externe Akteure werden. Hier die zunehmende Individualisierung, dort der erweiterte öffentliche Raum als Aktions- und Agitationsforum für die Verhandlungen der Freiheit (die haben wir ja nicht aus den Augen verloren).

Programm? Schon eine Präambel

Philosophisch müsste man von hier die Wege zur republikanischen Verfassung der globalen Politik und zur demokratischen Verfassung als Bedingung funktionaler Volkssouveränität aufzeigen.

Politisch, d.h. auch, auch!, pragmatisch heisst das, die republikanischen Elemente unserer politischen und sozialen und kulturellen Felder demokratisch zu bestellen. So können Handlungsprogramme und Strategien entwickelt, so kann Opposition geformt werden, so kann man regieren.

Man könnte etwas didaktisch sagen: die Heimat muss von der Nation und ihren nationalistischen Mythe  entkoppelt werden.

Das reicht noch nicht zu einer hinreichenden, d.h. Praxis fördernden Einrichtung von mehr Weltbürgertum. Aber es wäre ein Schritt, die Argumente in bestimmte Politiken einzubringen, allen voran in Bildung, Wissenschaft, Verkehr und in das Problem, dass wir immer mobiler sein müssen (wieder), um als menschliche Grossgruppen überleben zu können. Erstmals auf der Flucht vor den Klimaveränderungen, die eben nicht historisch nur eine Wiederholung sind; dann auf der Flucht gesellschaftlich, politisch induzierter Armut; aber auch auf der Flucht vor dem Verlust an Zivilisation, der immer weniger Optionen für das gelungene Leben bietet (konkrete Frage an einen Verwaltungsrichter: ist hoffnungslose Abwesenheit der Antwort auf die Frage: wie will und kann ich in Zukunft leben? kein Asylgrund?). Die Menschen sind auf der Flucht, und die privilegierte Sesshaftigkeit ist die historisch-anthropologische Ausnahme, während das Bleiben-Müssen in den schrecklichsten Umständen ja die Regel für die Nicht-Privilegierten ist.

Solche Gesichtspunkte hätte ich gerne in den Detailprogrammen auf meinem Parteitag gehabt (z.B. in einer Diskussion zum politischen Curriculum oder in der Aussenpolitik, die eben der Wanderung durch viele Felder angemassten Territorialrechts sind…und auf einer Tagung von Wissenschaftlern, die sich damit beschäftigte, wie man den globalen Süden regiert…Man springt, manchmal ganz gut, aber nicht weit genug.

Die Melancholia ist die Mischung aus Bedeutungsverlust, d.h. auch Erinnerungsverlust, mit der schauerlich kurzen, uns Lebenden, politischen sozialen Tieren zur Verfügung stehenden Zeit; als Sorge vor einer Zukunft, die wir nicht mehr erleben werden und von der wir vielleicht nicht wollen können, dass unsere Enkel sie erleben, durchleben müssen.

Die Euphoria ist das Umschlagen dieses Zustands in das Quia absurdum, weil es die einzige alternativlose Formel ist, die ich gerne anerkenne.

 

INTERVENTIONSGESELLSCHAFT

MORGEN, MITTWOCH 5. JULI, 16-18 Uhr, Heinrich Böll Stiftung, Schumannstrasse 8, 10117 Berlin

Liebe Leser*innen dieses Blogs: nun ist es so weit, dass die Vorankündigung in Wirklichkeit umgewandelt wird. Gerade in diesen Tagen, wo die Unsicherheit in Afghanistan für die Bevölkerung und für Ausländer steigt; in denen die Deportationen zu Recht von allen humanitären und menschenrechtlich agierenden Menschen abgelehnt werden, ist es wichtig, dass Afghanistan nicht vergessen wird. Mein Buch soll einen Beitrag zu diesem kritischen Bewusstsein leisten.

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat die Buchvorstellung angekündigt:

http://calendar.boell.de/de/event/society-intervention-eine-interventionsgesellschaft

A Society of Intervention –

Eine Interventionsgesellschaft

Ein Essay über Konflikte in Afghanistan und anderen militärischen Interventionen

Buchvorstellung

Mit:

  • Dr. Michael Daxner (Professor of Sociology, Freie Universität Berlin, Deutschland)
  • Thomas Ruttig (Director, Afghanistan Analyst Network, Deutschland)

Militärische Interventionen aus humanitären Gründen sind ein Normalfall internationaler Politik. Oft sollen sie Frieden erzwingen, wo ein Staat nicht mehr in der Lage ist, seine Konflikte zu regulieren; häufig dienen sie auch der Auswechslung von Regierungen, Verfassungen oder dem Schutz von Minderheiten oder ausgegrenzten Teilen der Bevölkerung. Interventionen sollen Konflikte in einem Land beenden oder einhegen. Aber sie bringen auch selbst Konflikte mit sich. Aus diesen entstehen neue Gesellschaftsformen, die sog. Interventionsgesellschaften. Deutschland war an der Schaffung einer sehr typischen Interventionsgesellschaft im Kosovo beteiligt (ab 1999) und hat sich massiv an der Intervention in Afghanistan nach 2001 beteiligt. Damit übernimmt Deutschland politische Verantwortung und praktische Haftung für das intervenierte Land. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung zu wissen, was in der afghanischen Gesellschaft, aber auch bei uns geschieht, wenn wir uns an derartigen Interventionen beteiligen.

In Afghanistan können wir die verschiedenen Erscheinungsformen und Ausprägungen einer Interventi-onsgesellschaft besonders gut studieren. Michael Daxner beschreibt in diesem Essay die Situation einer Gesellschaft, die in allen Teilen durch die Intervention betroffen und gezeichnet ist. Unter anderem analysiert er, warum und wie eine neue Mittelschicht entsteht, die weder authentisch afghanisch noch importiert westlich ist, sondern eben „neu“ aus der Erfahrung von Gewalt und Krieg entsteht und sich von anderen Klassen, Eliten oben und Arme unten, absetzt. Dabei kommen Themen wie Urbanisierung, Säkularisierung und Widersprüche in der Kommunikation zur Sprache.

Eine Kooperation der Heinrich-Böll-Stiftung mit Freie Universität Berlin

Information: 
Thorsten Volberg, Asien-Referat, Heinrich-Böll-Stiftung,
E-Mail, volberg@boell.de,   Telefon +49(0)285 34 -364

Unsicherheit tut Not

Gerade tagen die Innenminister wieder. Jetzt soll die Schleierfahndung ausgeweitet werden; jede Art von Kommunikation soll besser von Staats wegen ausgespäht werden; Kindern sollen vom Verfassungsschutz überwacht werden; und natürlich: Deportationen in den Tod („Abschiebungen“) werden wieder forciert. Wortführer sind die Angehörigen der bayrischen Hetzmeute, Hermann und Mayer an der Spitze, und natürlich de Maizière, der nicht genug haben kann an der Ordnung, die die Loyalität der Staatsbürger zerstören kann.

Für all dieser Vorschläge, wie bei früheren Sicherheitsgesetzen, gibt es auch – auch! – gute Gründe. Allerdings sind diese Gründe nicht wirklich tragfähig, wenn man von den möglichen „Fällen“ absieht. Natürlich gibt es 12-Jährige, die an einem Anschlag sich beteiligen können – einen, zwei? Natürlich sind alle sozialen Medien auch Flugbahnen verbotener Kommunikation, sowie die guten alten Briefe, Emails und das Geflüster am richtigen Ort. Natürlich werden wir bedroht: wenn alle Autokonzerne Software manipulieren können, warum sollen das andere Gefährder oder gar Terroristen nicht können.

Mein Argument ist also nicht, dass es die Gefahren, die Hermann und andere beschwören nicht gibt. Mein Argument ist, dass es weniger riskant ist, mit diesen Gefahren, also etwas grösserer Unsicherheit zu leben, als uns dem autoritären Druck zur Aufgabe unserer Würde und Freiheiten weiter zu beugen.

Ja, der Staat muss für unsere Sicherheit Sorge tragen, das ist Teil des Vertrags. Wir müssen Steuern zahlen und uns an die Gesetze halten. Nein, der Staat ist nicht frei in der Festlegung des Verhältnisses unserer unveräusserlichen Freiheiten und seiner Sicherheitsmassnahmen. Wir können die Behauptung, wieviel Anschläge die jeweils verschärften Sicherheitsgesetze und-massnahmen verhindert haben, nicht überprüfen, oft sind es augenscheinlich nur legitimierende Behauptungen. Gerade die letzten Anschläge zeigen, dass man a) die Täter ohnedies im Visier hatte, b) sie weder kontrollieren noch einhegen konnte, und c) dass ein neuer Betonpoller nur hässlich ist, aber nicht schützt, weil es genügend andere Plätze gibt, wo wir überfahren werden können.

Wir sollen auch nicht den Gefahren einfach ins Gesicht sehen und fatalistisch in Passivität abgleiten. Nein, wir brauchen schon Polizei, auch Geheimdienste und einen Sicherheitsapparat. Aber dieser Sicherheitsapparat muss der sozialen Zivilisierung untergeordnet werden und darf nicht am Rad der Eskalation von Angriffs- und Abwehrtechniken mitdrehen. Mit anderen Worten: es geht nicht um die Verlagerung von immer mehr sozialen Dienstleistungen auf den Überwachungs- und Sicherheitsapparat, sondern um die Stärkung, ständige Erneuerung und Inbesitznahme dieser Dienstleistungen.

Gefahrenabwehr ist nur bis zu einem gewissen Grad möglich. Risikominderung ebenfalls. Da gibt es eine Reihe von Massnahmen, die auf der Hand liegen: warum soll man nur die Reichsbürger entwaffnen? Warum soll überhaupt ein normaler Zivilist eine Schusswaffe kaufen dürfen (ja, ich weiss, die Jägerei und das Scheibenschiessen müssen ausgenommen werden, aber sonst?). Warum sollen Waffen von der Industrie gefertigt werden, die nicht den anerkannten Instrumenten von staatlichen Sicherheitsorganen zuzuordnen sind? (Ja, ich weiss, die lieben Arbeitsplätze). Warum soll flächendeckend überwacht werden, wenn es tausende Menschen nicht gibt, die die Videobilder auswerten können (sarkastisch schlage ich vor, intelligente Neumigranten für solche Tätigkeiten auszubilden und auch gleich Bahnhöfe und andere Verkehrspunkte durch ständige Präsenz sicherer zu machen…sozusagen die innenpolitischen Spargelstecher. Aber im Ernst: nach einer Tat helfen viele dieser Aufnahmen bei der Strafverfolgung und im Prozess, aber was haben sie bisher verhindert?).

Ich plädiere für die Unsicherheit als Element des freien Lebens, ohne dass ich deshalb die Risiken der gewalttätigen Attacken – Terroristen und andere Verbrecher zusammengenommen – verkenne. Wenn man diese Gefährder aller Grade nicht in die Gewaltspirale hineinhetzt, nimmt man ihnen schon den Propagandaeffekt, dass es kein staatliches Hindernis gibt, das sie nicht überwinden können. Es gibt in unserem System zwei Dinge, die die Gewalttäter fürchten müssen: Prävention und eine unabhängige Justiz.

Und die Prävention beginnt mit den sozialen öffentlichen Gütern, sie beginnt im Kindergarten und der Schule, sie beginnt in der kritischen Öffentlichkeit und geht jedenfalls so weit, dass nicht in Gemeinschaften unterschlüpfen darf, wer die Gesellschaft gefährdet. Das würden die ethisch besser befestigten Innenminister wahrscheinlich unterschreiben. Aber dann sollen sie auch zulassen, dass eine gewisse, und nie genau definierbare Ungeschütztheit und Unsicherheit zu unserer menschlichen Ausstattung, zur Condition humana gehört.

Das heisst nicht: nichts tun. Je mehr Citoyen, je mehr Bürger*in, desto mehr Gegengewicht zu den Gefahren. Die Regierung muss, ich wiederhole mich, Risiken mindern, aber nicht zu Lasten der Freiheiten, für die die genannten Gefahren wirklich bedrohlich sind.

Nachsatz:

Das sehen andere auch so, ich bin da gar nicht allein. Aber ich häufe in meinen Arbeitsunterlagen immer mehr Informationen und Beispiele auf, die mir zeigen was not tut: Einige davon hier exemplarisch:

  • Einer der bedeutendsten Stadtforscher unserer Tage hat einmal formuliert: Dopplet so grosse und halb so teure Wohnungen halbieren das Verbrechen. Analogien erbeten.
  • Den Resozialisierungsgedanken kann man nur umsetzen, wenn man den Strafvollzug verändert. Das gilt im übrigen auch für Migrant*innen, die straffällig sind (Abschiebung erhöht das Risiko, dass sie sich rächen, und dann nicht die Innenminister treffen). Sperrt sie hier ein und helft ihnen.
  • Der überwachte Bürger lügt. Auch gegenüber dem Staat. Wir sind befugt, den öffentlichen Raum deliberativ zu besetzen; der Staat ist nicht befugt, ihn einzuengen. Wenn der freie Bürger lügt, kann man übrigens Sanktionen verfügen….so einfach laisser faire sind die Verpflichtungen aus der Gesetzestreue nun wieder gar nicht.

Dann wieder denke ich: lass die Innenminister beschliessen, was sie wollen. Beim nächsten Anschlag werden sie sich wieder treffen. Gesellschaft funktioniert anders.

 

Abschiebungen und kein Ende

Liebe Leser*innen, danke für dasn eindrückliche Echo auf meine letzten Blogs zu Abschiebungen nach Afghanistan. Die kurzfristige Aussetzung weiterer Abschiebungen, der entsetzliche Anstieg der Todesopfer nach dem letzten Anschlag und die komplizierte Rhetorik aus Mitgefühl und Rigität machen weitere Diskussionen ebenso notwendig wie schwierig.

Einen Beitrag zur Diskussion leistet Martin Gerner, dessen Filme ich Ihnen und euch ebenso empfehle wie seine Reportagen.
http://www.alsharq.de/2017/ menschenrechte/kabul-zwischen- schock-und-protest- deutschland-setzt- abschiebungen-aus-aber-wie- lang/

Ich selbst arbeite weiter in einem seltsamen „Dazwischen“. Die Zwiespältigkeit einer Regierungspolitik, die viele ihrer Prinzipien kurzsichtigen und kurzfristigen innenpolitischen Ziele im Wahlkampf zu opfern sich anschickt, zugleich aber mit diesen Prinzipien erheblich Gewicht gewinnt. In diesem Dazwischen kann man nur auf Vernunft, Zivilgesellschaft, Ehrenamt und Wissen setzen. Wenn die, die jetzt unter keinen Umständen zurückkehren DÜRFEN nach Afghanistan, einmal zurückkehren WOLLEN, wird viel für den Frieden davon abhängen, was sie von UNS mitnehmen und wissen.

 

 

Mörder?

Sachverhalt:

Mit unangemessener Gewalt zerren bayrische Polizisten einen Afghanen aus dem Berufsschulunterricht, um ihn mit anderen nach Kabul zu deportieren. Aufgebrachte Mitschüler*innen skandieren bei diesem brutalen Einsatz „Mörder“. Der junge Mann war integriert und hat gelernt, was unsere Gesellschaft braucht. Aber der Rechtsstaat setzt sich über das humanitäre Völkerrecht und über die selbstverständliche Schutzpflicht gegenüber dem Lebern anderer hinweg.

Kontext:

Am 31. Mai ist in Kabul ein Attentat, das 90 Tote und hunderte Verletzte forderte, verübt worden. Eines von vielen.

Innenminister de Maiziere setzt die Deportation aus, weil sich die deutsche Botschaft um die Abgeschobenen nicht kümmern kann. Er will die Abschiebungen wieder aufnehmen.

Der bayrische Innenminister Hermann beharrt darauf, dass es in Afghanistan sichere Orte für Deportierte gäbe.

CDU Fraktionsführer Kauder vertritt die gleiche Linie, das AA würde durchaus sichere Orte ausweisen.

Die Bundesratspräsiddentin Malu Dreyer will Abschiebungen nach Afghanistan verhindern.

VERGLEICHE DAZU DIE LETZTEN BLOGS ZUM THEMA, DIE UMFANGREICHEN DOKUMENTATION VON AAN und THOMAS RUTTIG, und Stellungnahmen von Pro Asyl und anderen.

Mörder?

Nein, die bayrischen Polizisten sind keine Mörder. Sie sind Befehlsempfänger von Schreibtischtätern, die keine Ahnung von Afghanistan haben und sich auf Informationen stützen, die vor allem die Deportationspraxis unterstützen sollen. Die bayrischen Polizisten haben in der Mehrzahl Unbehagen und Scham ausgedrückt. In der Mehrzahl, unsere Fernsehberichterstattung ist ziemlich objektiv und differenziert.

Was die betroffenen Protestierenden gemeint haben, ist aber klar: wieder schiebt der christlich-soziale bzw. christlich demokratische Rechtsstaat Menschen ab, in Todesgefahr und OHNE ZUREICHENDEN GRUND.

Option:

Um die von Regierungsseite diskreditierten Proteste zu entkräften, könnten die Innenminister ihre Familienmitglieder und am besten sich selbst als Begleitpersonen mit den Abgeschobenen nach Kabul begeben, um in der sicheren Zone von Wazir Akbar Khan danach für die ankommenden Personen zu sorgen. Und um für sie sichere Verbannungsorte ausfindig zu machen.

Die deutschen Behörden sind nicht in der Lage, ihre Botschaft und ihr Konsulat zu schützen. Aber Afghanistan ist sicher…

Perspektive:

Die Mitschüler*innen des betroffenen jungen Afghanen und viele vergleichbar mit der unmenschlichen Deportationspolitik befasste Menschen werden ein weiteres Stück Loyalität gegenüber dieser Seite des Rechtsstaats aufgeben müssen.

Dass die Innenminister Maiziere und Hermann das nicht sehen, erscheint angesichts ihrer an der Leitkultur orientierten Engstirnigkeit und moralischen Unempfindlichkeit nicht verwunderlich. Dass sie damit aber unser ganzes Land, uns in Europa, beschädigen, merken sie nicht. Dann brauchen sie sich auch nicht zu wundern, wenn sie gemeint sind, wenn der Protest um sich greift.

Nein, es geht nicht um Mord: weder heimtückisch noch aus niedrigen oder irgendwelchen Beweggründen wird hier gehandelt, auch nicht besonders grausam.  Es geht um das weitere Aufkündigen eines Gesellschaftsvertrags; nicht Verständnis oder Mitleid sind gefragt, sondern tatkräftige Praxis, den verfolgten und zukunftslosen Menschen zu helfen.

Dazu sind die christlichen Blasphemiker in unserer Politik nicht bereit.