Rasse grassiert

Allenthalben ist das Nadelöhr-Thema, durch das alles muss, jetzt Rassismus und die späte Einsicht, dass davon keine Gesellschaft frei ist, wenn sie sich auch noch so davon distanziert. Wie kompliziert das alles ist, kann man bei Jill Lepore nachlesen, der hervorragenden Historikerin der USA: „Diese Wahrheiten“ (Beck, 2020) (These Truths 2018). Es gab über Jahrhunderte vor und nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine nicht aufgelöste Dialektik von Freiheiten für die (männlichen, weißen) Bürger und der Praxis von Versklavung von Schwarzen. Nachwirkungen bis heute, und wer alles am Sklavenhandel und der Misshandlung beteiligt war, glaubt man heute kaum mehr. Aber man soll es wissen, z.B. am Jahrestag der Unabhängigkeit für den Kongo (als vor genau 60 Jahren der König Balduin noch den König Leopold, Repräsentant eines der schlimmsten rassistischen Systeme, gefeiert hatte: schließlich hätte die koloniale Beherrschung ja die Zivilisierung der Naturvölker mit sich gebracht). Und viel von diesem Argument steckt tatsächlich auch in den heutigen Rassismen, hochverpackt und kaum zu dekonstruieren, wenn man es nicht wahrhaben will…

Schuldbekenntnisse kennen wir zur Genüge: die sind beim Feminismus und bei der Umweltzerstörung nicht viel anders als jetzt beim Rassismus: als ob das bloße Eingeständnis – WIR HABEN UNS GEIRRT – etwas an den Folgen und am Weiterwirken der Diskriminierung änderte. Wie sehr die Ökonomie die Politik ausbremst, kann man bis heute nicht nur Im Kongo sehen oder in der sanften Behandlung unserer Wirtschaftspartner. Im Inneren wird das Problem dadurch abgeflacht, indem man zunächst die potenzielle Kritik als Generalverdacht ablehnt, und dann die einzelnen Vorkommnisse als „schwarze Schafe“ subjektiviert. Welch hübscher rassistischer Begriff, viel schlimmer noch als Negerkuss…

Der Generalverdacht ist ehrlicher. Der Begriff sagt nicht, dass alle Polizisten eine rassistische oder rechtsradikale Neigung haben, oder alle in der KSK, oder beim Verfassungsschutz. Aber er sagt, dass wir dort we3lche finden können, und es ärger ist, bei der Polizei, der Bundeswehr und bei den Diensten solche Rassisten zu finden als anderswo, weil der juristische Zugriff und die öffentliche Auseinandersetzung mit „Sicherheitsorganen“ schwieriger ist als mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. Aber es hat sich in Politik noch nicht herumgesprochen, dass Verdacht keine Vorverurteilung ist. Das ist ein Problem der allgemeinen politischen Bildung.

Allein die jetzt wieder aufgerufenen Einzelfälle machen die flauschige Abwehr des Generalverdachts verdächtig (nicht nur in Deutschland, auch in Österreich). Der Alltagsrassismus beschränkt sich natürlich nicht auf die Sicherheitskräfte, aber sie manifestieren und vor allem exekutieren ihn besonders folgenreich, denn eigentlich sollte man ihnen ja vertrauen, damit sie uns schützen. Und die von ihnen misshandelten oder nicht geschützten Menschen sind ja Teile von uns (wenn nicht, dann folgen wir dem Muster, für das eben nicht nur AfD und FPÖ stehen, sondern viele Institutionen in anderen Bereichen).

Was mich dabei irritiert: so verständlich Denkmalstürze und Straßenumbenennungen sind, so gefährlich ist das Ausradieren aller rassistischen Belege der Vergangenheit, analog aller frauenfeindlichen, behindertenfeindlichen, kinderfeindlichen…weil es kurzfristig das Gewissen der Erben erleichtert, aber dann bleibt nichts mehr, über das man sich zu einer Änderung der Politik verständigen könnte. Der Kommentar macht aus den Worten Begriffe, aus den Kunstdenkmälern gesellschaftliche Aneignungsmöglichkeit…und aus Othello noch lange keine weiße Frau.

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Die Eindämmungspolitik gegen Corona ist (gewollt und ungewollt) rassistisch, sie trifft die Ärmsten und Ausgegrenzten härter als alle anderen, und die Ärmsten sind weniger weiß.

Dialektik und Oberfläche – was für eine Überschrift!

So ein sperriger Titel…so eine verfahrene Situation.

Auf den ersten Blick schaut es so aus, als hätten die Polizeigewerkschaft, die AfD, die verschiedenen rechten und sonstigen Flügel, und natürlich Seehofer nur auf die Stuttgarter Krawalle gewartet. Kaum hatte es für ein paar Wochen fundierte und weniger fundierte Kritik an „unserer“ Polizei gegeben, wird das Pendel umgekehrt, jetzt sollen wir die Polizei respektieren und von jedem Generalverdacht reinigen, als hätten wir ihn vorher gehabt.

Seehofer: nur harte Strafen schrecken ab…ja wen, oder was? Die USA beweisen das Gegenteil, und: gibt es eigentlich harte Strafen gegen das Wegschauen, gegen das Beschweigen, gegen die Verachtung einer Kultur der Hilflosigkeit?

Das Versagen von Politik, und zwar fast aller der Öffentlichkeit sich präsentierenden Politikerinnen und Politiker, ist evident: nicht dulden…nicht hinnehmen …schnell und gründlich strafen.

Ein FDP Politiker: Vorbild sind die schnellen Aktionen nach G20 in Hamburg. Die haben einen Kanzlerkandidaten hochgespült und kein Problem beseitigt.

Randale von Unpolitischen, von  Drogen- und Alkoholjugendlichen, von unerzogenen, respektlosen Partyfeierden. Die Nazis von der AfD sagen unzensiert im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: das sind Linke und Ausländer. Aber Seehofer will eine, zugegeben missglückte, Satire verklagen.

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Ich will mein Lied nicht wiederholen, das Kreisler’sche „Schützen wir die Polizei“. Und im Blog „Glucken für die Polizei“ vom 11.6. habe ich einiges vorweggenommen. Aber es scheint ernster zu sein. Selbst Seehofer ahnt, dass es verrohende und verrohte Diskurse sind, die der Gewalt vorangehen…das muss nicht richtig sein, ist aber ein Ansatz. Das Politikversagen liegt u.a. darin, Anlässe zu Ursachen zu machen, und diese mit Drohungen und Gesetzesverschärfungen zu bekämpfen.

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Könnten wir der Polizei vertrauen, dann würde diese Polizei die Kritik und selbst Fehleinschätzungen souverän beantworten können – oder eben annehmen. Sie flüchtet sich aber, nein – nicht die Polizei, ihre Funktionäre – flüchten sich in den Schutz der Staatsorgane. Aber um deretwegen sind sie nicht da, sondern für uns, die Bürgerinnen und Bürger. Und an die Kritiker dieses Zustands sei gesagt: die Toten im Polizeigewahrsam, die Offizierskameraderie bei Aussagen und Anschuldigungen, das häufige Drohen und an der Sache Vorbeiagieren sind weder Einzelfälle noch Systemfehler. Das alles liegt auch an der Kurzsichtigkeit und Reflexionsarmut der Politik – was soll, was kann Polizei in der Demokratie? – und an einem Denkfehler.

Wir haben unsere Waffen abgeliefert, damit der Staat uns beschützt, unsere Sicherheit garantiert. (Es gibt noch immer zu viele Waffen in privater Hand)

Wir gehorchen (am besten ohne großes Aufmotzen, aber auch nicht vorauseilend), selbst dort, wo wir die Anlässe für ungeeignet oder die rechtlichen Bestimmungen für falsch halten (nicht viel anders wie bei der Straßenverkehrsordnung, deren Bestimmungen oft unsinnig sind, aber wollen wir sie dekonstruieren, nur um bei Rot um 3 Uhr früh über eine verkehrsarme Kreuzung zu schlendern?).

Wir haben bei der Bundeswehr Jahrzehnte lang die Staatsbürger in Uniform diskutiert. Bei der Polizei weit seltener, warum eigentlich? Die Polizei braucht nicht mehr Respekt, mehr Schutz, mehr Vertrauen als jeder andere Mensch in unserer Gesellschaft auch, aber auch nicht weniger.

Ich sage „in unserer Gesellschaft“, nicht in unserem Staat. Vielleicht hilft das der einen oder Polizistin und dem einen oder andern Polizisten, im Vertrauen auf die Bürgerinnen und Bürger ihre Politik nicht defensiv oder beleidigt und schon gar nicht aggressiv einfach zu gestalten. Seehofer und Wendt sind da falsche Ratgeber. Und als wie wenig „gleich“ die Menschen bei uns erachtet werden, haben die Reaktionen auf Stuttgart in Windeseile gezeigt. Wenn erst einmal die Schuldfrage geklärt ist, lebt es sich wieder leichter (Vorsicht, Innenminister, psychoanalytische Satire).

Am Wegesrand

Der Sommer wendet sich. Am letzten Tag des Frühjahrs droht kein Regen, die politische Korrektheit bleibt zu haus, wir wandern, ist ja auch Sonntag. Die Nachrichten eines Tages schrumpfen zusammen, des Bürgers Lieblingsspruch treibt die schönsten Blüten: is ja alles nicht so schlimm.

Blüten, wohin man schaut, also am Feldrand, und in einem geschützten Feld. Es dominiert der Mohn, aber tatsächlich, alle Farben, und reichlich – auf dem drei Meter breiten Streifen ist alles nicht so schlimm. Schau nicht nach links: große glyphosatgesättigte Felder ohne einen Halm, ohne eine Mohnblüte. Nur nicht dran denken, man kann sich doch auch am Wegrand erfreuen, zumal es hier einige Insekten gibt (Kinder, wisst ihr noch, was das ist – Insekten?).

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Hab ich mir gleich gedacht, dass es nicht so idyllisch bleibt. Nach vier Stunden bekommen wir die Mittagsnachrichten, und – es reicht für eine Extraausgabe von Titanic und der Fackel. Nun, liebe Blog-LeserInnen, keine Neuauflage der wiederholungsbedürftigen Litanei, was alles aus den Fugen gerät. Das kommt bald wieder. Zurück zur „Natur“.

Die Assoziationen über den blühenden Wegesrand waren durchgängig politisch, manchmal haben wir auch darüber gesprochen, aber meist war es ein innerer Dialog mit denen, die darauf brennen, zu handeln, etwas zu tun. In dem, was ich sehe, ist viel Monet, und viel Glyphosat. Die Kultur des Sehens wird durch die Chemie genauso behindert wie gesundes Essen. Sie wird genauso gefördert durch den Anblick der selten gewordenen Blütenmischung; der (wenigen, aber immerhin) Insekten, der Vögel im Gehölz. Mit dem Glück des Schauens kommt (verhalten) die Wut auf die hoch, die es uns nehmen, aber es kommt keine Rosamund Pilcher kitschig hoch, dass sich nur im Blütenmeer gut leben lässt. Auf dieser Wanderung leben wir nicht, wir besuchen. Für mich war es ein Besuch in der Vergangenheit, das heißt auch: ich erinnere genau, was sich seit damals gut erhalten hat an positiven Reflexen zu unserer gemachten Natur, da ist ja nichts ursprüngliches, aber der Wegrand selbst als schmaler Abschnitt der Agrarindustrie ist eine Erinnerung, wie sich Natur umgestaltet erhalten hat lassen, immer kärglicher (Nicht zufällig denke ich an den Hungerkünstler bei Kafka (1922), an dessen Aushalten sich die Menschen nach anfänglichem Mitleid bald gewöhnt haben – so wie heute an den Klimawandel oder dahintreibenden toten Flüchtlinge…).

“Aber die Zeiten ändern sich und das Hungerkünstlertum kommt außer Mode. Der Hungerkünstler ist nicht mehr die Attraktion. Er trennt sich von seinem Impresario und befindet sich nun in einem der vielen mit Stroh ausgelegten Käfige eines Zirkus neben den Tieren. Hier hungert er immer weiter, von Zuschauern kaum noch bemerkt.

Arbeiter entdecken ihn irgendwann ganz klein unter seinem Stroh. Bevor er stirbt, verrät er ihnen mit seinen letzten Worten den wahren Grund seines Hungerns. Er könne nicht anders, weil er die Speise, die ihm schmeckt, nicht gefunden habe. Hätte er sie gefunden, er hätte sich „vollgegessen wie alle“. Er wird mit dem Stroh zusammen begraben.

In seinen Käfig wird ein junger kraftvoller Panther gesteckt, der sofort zum neuen Anziehungspunkt wird.“  

Die Speise, die uns geschmeckt hätte, haben wir uns weitgehend abgewöhnt. Unsere Kinder und Enkel kennen ganz viele Naturerscheinungen nicht mehr, und ich selbst freue mich heute nur noch an einem Stück Gletscher, über den ich früher habe stundenlang laufen können. Das ist mir wichtig einzugestehen, dass die Bedeutung des Anblicks natürlicher Schönheit sich verändert hat, und zwar anders als mit dem Wechsel zwischen Zivilisation und Evolution, oder anders gesagt: die Nostalgie ist aus mir herausgetreten, aus der Emotion, aus meinem subjektiven Bedauern, sie ist in einen bereits fast vollzogenen Abschied übergetreten, den wir schon vielleicht selbst gar nicht mehr abschließen können. Der Panther ist die Erinnerung.

So lacht doch endlich.

Machen wir eine Übung: jeder von euch kann Thomas Manns „Tod in Venedig“ (1912)[1] aus dem Regal nehmen oder sich aufs Tablet laden. Man muss den Mann nicht gänzlich mögen, wie ich, aber eine so großartige Erzählung sollte man heute besonders genau lesen. Vor allem das fünfte und letzte Kapitel. Wenn man, aus Zeitmangel oder Ungeduld, NUR dieses Kapitel liest und von der invasiven Liebesgeschichte abstrahiert, geschieht etwas unheimliches. Der bis zum Überdruss gegenwärtige Coronadiskurs der letzten Wochen und Monate wird zusammengedrängt auf wenigen Seiten so plastisch, so lebendig, dass man sich schon frägt, ob die Cholera-Infektion im herrlichen Venedig nicht doch das bessere Vorspiel zur globalen Farce der Pandemie war.  

(Ich habe das ungute Gefühl, dass ich bei der Lektüre immer an Nietzsches Wiederkehr des immer Gleichen denken musste, weil sich unsere Zivilisation in einiger Hinsicht wirklich nicht so viel weiter entwickelt hat, aber das lass ich den Philosophen).

Es geht um eine komplizierte Liebesgeschichte, es geht um Zeitdiagnose, Kunstheorie – das gibt es heute ja auch noch, und es geht um eine Beobachtung, die heute fast anstößig realistisch wäre. „Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt…“  ((569/570) (was minutiös beschrieben wird, und während „Europa zitterte“, ging der Erreger schon in mehreren Mittelmeerhäfen an Land. Kommt CoVid nun aus China oder aus dem Labor und wer hat es bei welchem Flug wohin eingeschleppt? Bei den ersten Anzeichen schon fragen beunruhigte Sorgen „Man desinfiziert Venedig. Warum?“ – Der Spaßmacher antwortete heiser „Von wegen der Polizei! Das ist Vorschrift, mein Herr, bei solcher Hitze und bei Scirocco“ … Der Dialog geht weiter und man liest“ Ein Übel? … Ist der Scirocco ein Übel? Ist vielleicht unsere Polizei ein Übel? Sie belieben zu scherzen!“ (566). So lacht doch. Alles nur vorsorglich…Die vier Tyrannen Putin, Trump, Erdögan und Bolsonaro lachen (Monitor 18.6.2020), die haben verstanden, dass man nicht vorsorgen soll, sondern die Herrschaft ausweiten im Schutze der Seuche, die andern…wir andern…denkt an die Demonstrationen, den Streit der Virologen und die Gefährdung des Tourismus. „sie (die Behörde) vermochte ihre Politik des Verschweigens und des Ableugnens hartnäckig aufrechtzuerhalten“. (571). Ischgl. „der oberste Medizinalbeamte Venedigs, … , war entrüstet von seinem Posten zurückgetreten und kurzerhand durch eine gefügigere Persönlichkeit ersetzt worden“. (572). Brasilien. Der nächster Absatz ist zu lang in seiner Einführung in die Klassenkampfgeschichte der Seuche, also nur Brückenfetzen: „…die Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit, dem Ausnahmezustand, …brachte ein gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor…antisoziale Triebe…Unmäßigkeit, Schamlosigkeit…ausschweifende Formen, wie sie sonst hier nicht bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen waren“. Mit ein paar Änderungen kann man hier Trumps Politik gegenüber den Coronakranken Nichtweißen, Nichtreichen, Nichtkonservativen der Wirklichkeit der Diskurse in den USA einschreiben.

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Cholera ist CoVid, ist nicht AIDS, ist nicht Ebola…1912 ist nicht 2020. Ach, das haben wir gar nicht bemerkt. Aber die Maßnahmen Venedigs sind nicht viel anders als in den meisten Ländern heute – isolieren, beschweigen, beschwichtigen oder hilflos zusehen, wie sie dem Infektionsgeschehen nichts entgegensetzen können; jedenfalls werden die Medien zensiert (damals verschwanden die Zeitungen von den Hoteltischen).

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Es gibt eine Menge CoVid-Romane, oft in Tagebuchform. Den meisten fehlt die Einbettung in das wirkliche Leben, also in Gefühle, Politik, Kommunikation, sie machen das Virus zur Ursache allen Leidens. Thomas Mann hatte Recht: die Cholera war ein Anlass, all diesen Ursachen die Wirkungen zur Prüfung aufzugeben, und koste es dasLeben


[1] Mann, T. (1986). Der Tod in Venedig. Die Erzählungen. Frankfurt, Fischer: 493-584.

Amis, go home?

Ach, wenn es so einfach wäre. Besatzungstruppen heimwärts zu wünschen, das hat Tradition, nicht nur demokratische.

Der Abzug von US Truppen aus Deutschland hat mit der Sicherheit, auch mit den Aufgaben von NATO, wenig zu tun. Richtig ist die Bemerkung der sanften Bundesregierung, die Amerikaner schadeten sich selbst, weil sie ja ihre Kriegsoperationen, u.a. in Asien, von deutschem Boden aus, also aus der EU heraus betreiben. Das würde sich im Prinzip nicht ändern, wenn mehr Truppen nach Polen oder ins Baltikum verlegt würden. Die Drohung bezieht sich nicht auf Sicherheit, sondern auf Geld und die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands zu Russland.

Amis, go home – die Linkspartei ist darauf reingefallen, und begrüßt das Vorhaben, eine erpresserische Ankündigung; naja, rhetorisch voreilig. (https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/us-truppenabzug-ja-bitte/ 20200618).

Dass sich der Brandstifter Grenell dabei wie ein Kolonialoffizier verhält, und nicht wie ein Diplomat, gehört zum Spiel.

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Als ob es noch weitere Belege bräuchte, freuen sich manche über John Boltons neues Buch und seine verheerenden Berichte aus dem Zentrum der Macht von Donald Trump. (https://www.nytimes.com/2020/06/17/us/politics/bolton-book-trump-impeached.html?action= click&campaign_id=7&emc=edit_MBAE_p_20200617&instance_id=19482&module=Top+Stories&nl=morning-briefing&pgtype=Homepage&regi_id=60540671&section=topNews&segment_id=31175&te=1&user_id=dba22290721c371ead84cc760ca98496 – tut mir leid für die lange Quelle…20200618). Der Artikel und seine Vorgeschichte lohnen wirklich. Weil hier rein ganz konservativer, eigentlich  ein schrecklicher Rechter, sich mit Trump anlegt (mit Trumps Worten: „Lies and Fakenews..“ (heute), das ist der Kampf der Syndikate?).  Die bittere Kritik des Buchs ist unvermeidlich: https://www.nytimes.com/2020/06/17/books/review-room-where-it-happened-john-bolton-memoir.html?campaign_id=7&emc=edit_MBAE_p_20200617&instance_id=19482&nl=morning-briefing&regi_id=60540671&section=topNews&segment_id=31175&te=1&user_id=dba22290721c371ead84cc760ca98496 . Es kann sein, dass dies Trump hilft, nicht was die Wahrheit betrifft, sondern wie Bolton sich jahrelang verhalten hatte, lange vor Trump schon. Er wird nicht unser Verbündeter mit seinem Buch.

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Amis, go home. Wenn wir nicht das Zentrum der militärischen Außenpolitik der US-Streitkräfte sind, dann bleibt es doch wahrscheinlich in Europa, – es überrascht euch, wenn ich sage, dann lieber in Deutschland als in Polen? Schaut mal, wer dort wie regiert. Aber selbst die Polen rudern ja mit ihrem Willkommen zurück. Und, im schroffen Gegensatz zu den abstrakten Abrüstungsforderungen, plädiere ich für eine EU (europäische) Armee, weil sie die auch von den USA mitbetriebene Privatisierung von Militär verhindert und uns nicht von Wahnsinnigen wie Trump abhängig macht. Auch die Diktatur – oder ihre autokratische Vorstufe – hat mehr mit Wahnsinn als mit historischen Schlacken zu tun.

Eien dringende Leseempfehlung: Masha Gessen:  Surviving Autocracy (Rezension dazu Hari Kunzru: Democracy’s Red Line, NYRB 2.7.2020, 4-6). Trump-Kritiker gibt es viele, können gar nicht genug sein. Aber Masha Gessen ist besonders. (Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Masha_Gessen; die englische Wiki-Eintragung ist genauer als die deutsche, zB. wird hier klar: Gessen is nonbinary and uses they/them[5] pronouns. https://en.wikipedia.org/wiki/Masha_Gessen. Warum ist das wichtig? Weil sie nicht nur an der politischen Front, IN Russland und IN den USA recherchiert und für die Demokratie kämpft, sondern auch eine präzise Verfechterin hochdifferenzierter Selbstwahrnehmung, was gegen den Sexisten Trump besonders wichtig ist. In ihrer Analyse macht sie es wahrscheinlich, dass gerade die Coronakrise mit den zehntausenden von Toten Trumps Diktatur zum Ausbruch verhilft, weil er den Ereignissen entgegenhält „I was right“. (4. Mai 2020). Und Gessen hält es für möglich, dass der Tod von George Floyd ihn gerade zur Machtübernahme einlädt, wenn er mit Gewalt (polizei und oder Militär) die Proteste niederschlägt. (Meine Assoziation ist dabei Erdögan, der sich eben Gülen ausgesucht hatte, um selbstherrscherlich zu agieren; den erwähnt Gessen nicht). Gessen verweist auch auf die weiße, rassistische „Ownership“ die sich wie ein Stützring um Trump bindet; dabei kommt ihm CoVid zur Hilfe, es schwächt ihn nicht. Weil es gegen die Schwarzen, die Minderheiten, gegen die geht, die eben nicht zur Ownership gehören.

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Amis, go home…wenn die amerikanischen Soldaten auf europäischem Boden diese Politik repräsentieren, dann müssen sie abhauen, aber nicht, weil Trump es befiehlt, sondern weil wir sie nicht hier dulden wollen. Aber das ist vielleicht gar nicht der Fall. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass sich die amerikanischen Garnisonen gegen den POTUS auflehnen, aber man kann auch auf Subversion hoffen, die es ja in der Generalität auch schon gibt.

Lest Masha Gessen, lest mehr von ihr, und lest mehr in der neuen Ausgabe der NYRB. Da kann man beides lernen: die USA auf dem Weg zur Diktatur, und die Bedeutung einer unzensierten, freien Presse, die sich auch mit Wahrheiten mehr traut als nur den Konjunktiv. Das verbindet uns mit den Amis…

Dunkelkammer

Der Sommer ist schon fast vorbei, es wird noch trockener. Corona bereitet sich auf eine zweite Welle vor, in der Entspannung wird sichtbar, was schon beinahe vergessen wurde: Klima, Flüchtlinge, Korruption, Rechtsradikale, …im Schatten von Corona haben die meisten Regierungen und viele Wirtschaftsunternehmen, aber natürlich auch Kriminelle und kleine lokale Gauner eine hohe Zeit – sie versuchen, die Fortschritte, die kleinen Fortschritte, der letzten Jahre zu ihren Gunsten einzuebnen. Viele wollen Trump sein (selbst Rainer Langhans, Spiegel 25, 120f.).

Nehmen wir einen Einzelfall. Der Glyphosatminister Christian Schmidt, der eine große Zahl von Krebserkrankungen und massenhaftes Insektensterben mit zu verantworten hat, wird mit einem Aufsichtsratsitz bei der Bahn belohnt: https://www.nordbayern.de/politik/frankischer-ex-minister-schmidt-sitzt-jetzt-im-bahn-aufsichtsrat-1.8759302:

„Erst kürzlich erklärte die Bahn der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) mit Blick auf Alternativen: „Leider stellen derzeit weder thermische noch mechanische Verfahren eine Alternative zum begrenzten Einsatz von Herbiziden im Gleisbereich dar.“ Eine Sprecherin erklärte, man verwende den Unkrautvernichtern nicht in Schutzgebieten, auf Brücken und über offenen Gewässern“.

Corona sei Dank hats niemand bemerkt. Solche Typen laufen scharenweise herum, Pofalla, Mehdorn & Consorten. Alle Fälle sind Einzelfälle, die hängen leider nur strukturell miteinander zusammen.

Genauso gefährlich ist es, die neue Lieblingsvokabel vorsorglich über all an den Anfang zu stellen: wir sind gegen Generalverdacht. Aha…da sich die Rechtsradikalen in Polizei, Bundeswehr und Geheimdiensten ja strukturell ausbreiten, sind die Einzelfälle Punktmengen, die wie eine Perlenschnur versuchen, das Vertrauen in die Institutionen abzuwürgen.

Ich sage euch nicht, ob ich die Corona-App einschalte. Aber auch wenn ichs mache, habe ich kein Vertrauen, dass hier keine Bewegungsprofile kollateral mitgenommen werden, dass die App nicht Menschen ausforscht, um später Virenträger beschuldigen zu können. So wenig Vertrauen, wie dass die Bahn die Bewegungsprofile ihrer Kunden mit jeder Bahncardeingabe verfolgt (davon wird sie auch nicht pünktlicher). So wenig Vertrauen…

Immerhin ein Gutes: die neue Wehrbeauftragte Högl hat, was ihr Vorgänger nie getan hat, wenigstens die strukturellen rechten Hotspots bei Bundeswehr und KSK benannt…ob daraus etwas folgt? Entscheidend ist doch, dass die Sicherheitskontrollen bei allen KSK Mitgliedern wohlwollend über die Anschauungen und Einstellungen der höchst geheimen Verunsicherungseinheit hinweggesehen haben. Der Fisch riecht nicht an der Schwanzflosse.

Sich trotzdem an alle möglichen Gesetze, Verordnungen und obrigkeitlichen Maßnahmen zu halten, also trotz Misstrauens, ist der Vertrauensvorschuss der bürgerlichen Demokratie in ihre Repräsentanten (es hat kein Sinn, gegen die StVO (Strassenverkehrsordnung) zu motzen, weil manche Bestimmungen blöde sind; auch die Hygienemaßnahmen sollte man weder loben noch kritisieren, sondern befolgen). Das Problem ist: wo kein Vertrauen ist, braucht man politischen Widerstand nicht extra zu begründen. Das Schlüsselwort ist: politisch.  Misstrauen  hat nur Sinn, wenn es aus einem Gefühl sich zu politischem Widerstand wandelt. Das heißt vor allem, dass alles veröffentlicht und verhandelt werden sollte, wogegen man Misstrauen hegt (das ist ein gutes Instrument, sich auch vor blamablen Generalverdachten zu schützen – wer gegen alles nörgelt, was von oben kommt, oder was neben einem unangenehmes geschieht, kann seine Vorstellungen nicht vermitteln und nicht verhandeln (das sind die Identitären). Aber wer Misstrauen politisiert, kann zur Wahl oder zur öffentlichen Anerkennung oder zu einer Veränderung des politischen Verhaltens kommen, also zur Demokratie. So schwierig?

Karl Kraus: Der Nörgler und der Optimist – die beiden durchgehend streitenden Stereotypen in den „Letzten Tagen der Menschheit“. Dtv 1964. Beides ist, nörgeln und alle Konflikte wegblenden, fatal in Zeiten, wo das Zudecken zur Politik derer wird, die etwas zu verbergen haben, weil sie etwas vorbereiten, das noch weniger gut ist als das, was sie schon angerichtet haben (Glyphosat…NSU…)

Glucken für die Polizei

Wie die Mutterglucken scharen sich Innenminister und Polizeigewerkschafter um ihre Polizisten, nach dem Saskia Esken eine Korrektur rechtslastiger Freiräume im deutschen Sicherheitsapparat angeregt hatte (so wirklich scharf war das ja nicht…aber es hat genügt, um die Herdenschützer aufzuschrecken). Nun ist die Theorie von den „Schwarzen Schafen“ plausibel, aber falsch: wenn ein schwarzes Schaf einen Menschen unrechtmäßig tötet, dann dürfen sich die Reihen um diesen Täter nicht aus Korpsgeist schließen, zumal, wenn dieser Korpsgeist das schwarze Schaf überhaupt erst hervorgebracht hat. Noch gefährlicher ist die gutgemeinte Abbild-Theorie, dass die Polizei oder auch die Bunderwehr nur die Gesellschaft abbilde, d.h. dass die Anteile an rechtsradikalen, faschistoiden, Nazi-affinen, ethnophoben, sexistischen usw. Gesinnungen sich bei den Sicherheitsorganen nicht anders verteilen als im Rest der Bevölkerung. Gut gemeint, weil man damit die jeweiligen extremen Tendenzen in der Bevölkerung verharmlost…

Wir brauchen die Polizei, ohne Zweifel, wir könnten auch einen guten Verfassungsschutz brauchen, und bei der Bundeswehr wäre es besser, wenn es keine nationalistischen Zellen gäbe. Wir wissen, dass die Polizei – schaut einmal auf den „Gewerkschafter“ Wendt und seine Aussagen wie disziplinarische Geschichte – viele unerklärte Gewalt- und etliche Todesfälle vertuscht, verdeckt und geahndet in ihren Reihen verbunkert. Wir wissen, dass der Verfassungsschutz besser belastendes Material schreddert als den Gerichten und Behörden übermittelt, um seine dubiosen V-Männer zu schützen anstatt uns Bürgerinnen und Bürger; wir wissen, dass es stramm rechtsradikale Zellen und Kommunikationsnetzwerke in allen Sicherheitsorganen gibt.

Warum also verharmlosen und verniedlichen? Damit sät man nur Misstrauen gegen diese Organe bei einer Bevölkerung, die vergleichsweise vertrauensvoll diesen gegenübersteht?

Ganz aktuell, ich muss da nichts ausgraben: (beides 10.6.2020)

https://www.tagesschau.de/investigativ/panorama/luebcke-verfassungsschutz-markus-h-101.html

https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/ksk-soldat-101.html

Die deutschen Behörden, Justiz- und Innenminister gehen an die Öffentlichkeit nach der Devise:

Ei ja! – Da bin ich wirklich froh!
Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!

Wilhelm Busch 1872

Dankbar kann man die USA, ihren Rassismus und ihre unbewältigte Geschichte am Fall George Floyd angreifen, gut, dass unsere Polizisten besser ausgebildet sind, auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und überhaupt mit diesen systemischen Tätern in den USA nichts zu tun haben (wollen). Übertreibt mal die selbstbewusste Heuchelei nicht. Ich könnte eine Liste der – erfreulicher, demokratischer Weise nicht verwirklichten – Verschärfungen der Sicherheitsgesetze und Schutzvisionen für die Exekutive anlegen, die uns vielleicht näher an die USA gebracht hätten…? Aber genau das wäre jetzt falsch. Je stärker sich PolizistInnen, VerfassungsschützerInnen, SoldatInnen von der gesetzlich ihnen aufgezwungenen Immunisierung gegen Kritik schützen, sich gegen sie verwahren, desto glaubwürdiger wäre jede vertrauensbildende Maßnahme gegen die fremdenfeindlichen, Profiling und Verbalinjurien innerhalb der Exekutive; abgesehen davon, dass die Verantwortlichen für alle Schreddereien, Vertuschungen und den Korpsgeist der Unangreifbarkeit endlich vor genau die ordentliche Justiz gebracht werden sollen, auf die wir ansonsten auch noch vertrauen können. Können, nicht müssen.

Finis terrae XXXVII: Der Zusammenhang

https://www.zeit.de/kultur/kunst/2020-06/ischgl-partytourismus-skigebiet-bildband?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Lois Hechenblaikner: „Ischgl“. Steidl Verlag, 240 Seiten mit 2005 Fotografien, 34,- Euro.

Der Rezensent der ZEIT titelte: Schlicht und ergreifend widerwärtig.

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Was er beschreibt, ist nicht neu, und mir nicht neu. Mein letzter Skiurlaub liegt 15 Jahre zurück, und damals schon, ganz in der Nähe von Ischgl, im Ötztal, war es mit der winterlichen Schönheit nicht mehr weither. Romantisch ist nur die Erinnerung an die skifahrende Jugend, in der ich meine Skier tatsächlich durch massenhaften Naturschnee schleppen musste, nass und müde.

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Womit hängen die rückständige Macht und Ausbreitung des Pöbels zusammen? Mit einem teilweisen Versagen der Evolution? Mit dem Kapitalismus? Mit der Enthemmung durch Ziel- und Zukunftslosigkeit? Die klugen Linken sagen: mit all dem. Die klugen Rechten sprechen immer von Degeneration, wenn sie grad nicht selber dabei waren. Und die Gebildeten stellen fest, dass es solche Exzesse in allen Gesellschaften zu jeder Zeit gegeben haben – „irgendwie“. STIMMT ALLES NICHT. Bzw. Sind Wahrheitspartikel noch keine Wirklichkeit.

Im Vorfeld der wirklichen Katastrophen werden die Regeln außer Kraft gesetzt, die Gesellschaften zusammenhalten. In den „Letzten Tagen der Menschheit“ beschreibt Karl Kraus, sprach- und ausdrucksmächtig, das enthemmte Ischgl- und Ballermann-Verhalten bis in den Weltkrieg hinein, bis fast an sein Ende.

Aus der obigen Rezension:

Dem Band angehängt ist ein Kompendium von Presseaussendungen der Landespolizeidirektion Tirol von November 2018 bis Februar 2019: Körperverletzungen, schwere Körperverletzungen, Schlägereien und diverse Balkonstürze. Der Literaturkritiker Stefan Gmünder erzählt in seinem Delirium Alpinum überschriebenen Nachwort vom Fall eines Kunden, der einen Kellner dazu zwang, eine Champagnerflasche mithilfe eines brennenden Golfschlägers zu köpfen. Erst fing der Arm des Kellners Feuer, dann brannte plötzlich ein unbeteiligter Gast am Nachbartisch. Erstaunlicherweise landete die Sache tatsächlich vor Gericht und wurde äußerst mild abgeurteilt. Schließlich war es nicht mehr als eine „bsoffene Geschicht“.

Was Verbrecher wie Trump und Grenell machen, sind auch „bsoffene Geschichten“… (bei Diktaturen und aus den Fugen geratenen Gesellschaften würden wir nicht von Verbrechern sprechen, weil die Akteure dort dem System angehören, während die Trumpisten und ihre Gefolgschaft ja gegen ihre demokratischen Republiken ankämpfen).

Wie das zusammenhängt? Wenn die Bindungswirkung der solidarischen Kommunikation nachlässt, weil ihr Zweck – die Weiterentwicklung des guten Lebens – außer Sicht geraten ist, dann regiert ein carpe diem primitivster Unmittelbarkeit.

Ich hatte in einem Blog kürzlich das Loblied auf vieles in meinem Österreich geschrieben. Es hilft wenig zu mahnen: fahrt nicht mehr in die Alpen zum Skiurlaub, Ischgl ist nur ein Symbol. Wenn die Welt untergeht, ändern milde Urteil absaufender Gerichte auch nichts…

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Warum Trump und Grenell? Die beiden, auch Pompeo und diese ganze Blase, verhalten sich wie die Gäste am Vulkanrand der Skilifte. Sie entwerten alles, was unter zivilisierten Umständen Freude machen könnte – dadurch wird oft, falsch, mit Prüderie und Puritanismus geantwortet, und sie nutzen ihre Macht, um an sich vernünftige Menschen zum „Mitmachen“ zu bewegen. Das kann man auch psychologisch erklären, aber besser mit der angedrohten Gewalt. Unsere Regierungen bemühen sich um milde Urteile, damit wir den Schaden ein wenig begrenzen.

Aus Ischgl und dem milden Verhalten der zuständigen Regierung in Tirol kann man lernen, wie gut es sich am Abgrund leben lässt. Der Abgrund: der Klimawandel, nicht das Virus.

In einem anderen Land

Hemingways Roman A Farewell to Arms heißt leider auf Deutsch auch In einem andern Land, was heißt leider? Kulturvergleich und Krieg bzw. Gewalt sind oft zeitlos.

Ich musste für eine Woche nach Österreich, einige Tage „privat“, was ist schon privat ohne den Kontext von Gesellschaft, danach in einem Forschungsprojekt. Das Private hat mit Familie zu tun, und deshalb eine Woche Coronatests, Warten auf die Bescheinigung, um dann keinerlei Kontrollen im Zug zu erfahren, nur die Pendler zwischen Österreich und Bayern, nicht Deutschland, werden noch gefilzt. Und selten waren mir die Unterschiede zwischen beiden Ländern so krass und überdeutlich unter die Haut gegangen wie diesmal. Ich muss verallgemeinern, weil ich ja nur einen schmalen Ausschnitt wirklich sehe, aufnehme, aus den Medien hier erfahre.

Nach einer knappen Woche fasse ich zusammen: hier geht man disziplinierter mit den Auflagen zu CoVid um, die Ausnahmen sind so grauslich wie in Deutschland, sichtbar seltener. Auch in ländlichen und abgelegenen Regionen, weit weg von den Hotspots; hier sind die Züge geradezu unheimlich pünktlich, aber das schreibe ich der Tatsache zu, dass wir keine Pofallas und Mehdorns hatten; hier ist die Politik ähnlich gespalten wie in Deutschland, aber ganz anders, in Sphären geteilt, in denen die eine oder die andere Partei ihre Programme umsetzt, weniger dauernd Kompromisse macht, das ist manchmal gut, manchmal unsinnig; da das Essen in Österreich genuin besser ist als in Deutschland, esse ich hier ohne zu vergleichen. Schluss mit diesen Petitessen, die Medien sind auch gut oder ganz schlecht, da nehmen sich die Nachbarn nichts. Darum schreibe ich hier aber nichts, sondern:

Endlich nicht nur in der Ferne Berge, frisch beschneit (das wird nicht lange halten, aber der Anblick lässt die Trockenheit für einen Augenblick vergessen). Die Felder sind kleinteiliger und grüner. Da ist keine Heimatromantik dabei, sondern ein fast positivistischer Vergleichsblick. Alles ist kleiner, das sollte mich besonders in unserer Forschungsgegend erfreuen, dem so genannten Weinviertel, wo 6000 Einwohner schon eine kleine Stadt machen, es gibt über weite Flächen Rundangerdörfer und endlose Straßendörfer, die ihre alte Struktur erhalten haben, aber viele der Weinkeller sind funktionslos geworden, viele der alten kleinen Häuser nicht gut bewohnbar, und die meisten neuen Einfamilienhäuser so hässlich wie überall, aber stärker verdichtet. Wenig Zersiedelung, auch nicht alles voller billigem Massenwein, sondern eher bessere Produkte, dazwischen anderes Beackere, und manche der vielen kleinen Dörfer werden die nächsten Jahre nicht überleben, weil die Jungen oft wegziehen, in die Bezirksstadt oder gleich nach Wien, die Nordautobahn nach Brünn ist nicht weit. Erfreulich die viele Windenergie, die bis zu einer bestimmten Linie den Horizont füllt, sehr intensiv, und dahinter nichts. Vor 120 Jahren war das eine wichtige Gegend, nicht nur für Weinbau, dann verarmte das Dreiländereck zu Tschechien und der Slowakei, und heute ist man früh, bestimmte Fehler nicht gemacht zu haben, weil das Geld dafür fehlte. In

Bei unserer Projektarbeit sehen wir die unaufgeregte Befolgung der CoVid-Anordnungen, weder Zustimmung noch Ablehnung, das ist halt so, und der Mundschutz ist immer parat. Vielleicht schreibe ich demnächst einen Reisebericht.

Diese fünf Tage hatten aber eine andere Wirkung als die des abwechslungsfrohen Arbeitsreisenden. Die Stationen der Dienstreise haben jeweils eine Menge biographischer Assoziationen hervorgebracht, die aus der Erinnerung eben nicht „Heimat“ erzeugt oder befestigt haben. Sondern das, was man sich zu frühen Zeitpunkten anders, verändert oder verstehbar gewünscht hatte, taucht wieder auf und keineswegs sehnt man sich zurück, sondern vergleicht die Wunschorte mit dem jetzigen Zustand. Und da kommen Heimatgefühle auf. Nämlich so, dass man einerseits froh ist darüber, was sich in einer bestimmten Weise erhalten hat, und andererseits jetzt durchschaut, was sich schon früher hätte andern müssen, dass man sich etwa vorstellt, was es bedeutet hätte, hier und nicht in Wien zu wohnen, oder wie man sich in Gefahr begeben hätte, wenn man einen bestimmten Berg, Ziel von Projektionen, bestiegen hätte, um dazu zu gehören. Es ist nicht eine Rückkehr in frühere Lebensphasen, sondern ein Historienfilm, in dem man heute andere Rollen sich wünscht als man früher hatte. Ich sage man und nicht ich, weil ich mir oft andere Rollen nachträglich gewünscht hätte, zum Beispiel die eines genauen Beobachters…

So lerne ich auch, wie in den letzten hundert Jahren vier Männer gleichen Familiennamens Bürgermeister waren, warum je ein anderer zwischen 1934 und 1938 und zwischen 1938 und 1945 das Amt hatte; warum die frühere Bezirksstadt ihren Rang verloren hatte (man war gegen die Eisenbahn gewesen, um die Droschken zu schützen; heute ist das wirtschaftlich und touristisch ambivalent); warum die attraktiven kleinen Winzerhäuser und Keller schlecht bewohnbar sind, die neueren Einfamilienhäuser wiederum selten barrierefrei sind, und was das damit zu tun hat, dass jetzt für die Alten anders gesorgt werden muss, während viele Junge fortgezogen sind…Ist das wichtig?  Wenn interessiert es, muss es, – außerhalb eines bestimmten Forschungsprojekts interessieren?  

Während ich protokolliere, wie sich unsere Gesprächspartner das Leben im Alter wünschen und vorstellen, denke ich daran, wie schnell die Klimakrise diese Wünsche verdrehen oder zunichte machen kann, und was die nächsten zwanzig Jahre nicht überleben wird, an Struktur und Lebenswelt. Das thematisiert, bringt diese Menschen schnell dazu nachzudenken, was es bedeutet, dass viele Jüngere fortgezogen sind und Besuche keine Struktur mehr schaffen. Wenn ein Zugezogener, Ordinarius aus Wien uns genau erklärt, warum kleine Orte ohne Infrastruktur, Versorgung und Kommunikationseinrichtungen nicht überleben werden, gibt er etwa die Zeiträume an, die die Klimaforscher als entscheidend auch vorgeben. Und es fällt, zugegeben, schwer, dies zugleich zu denken, bei einem so guten Wein wie anderswo selten, und beim Anblick von ein paar jungen Menschen, die sich auf dem Platz, nicht Stadt, nicht Land, versammeln, und die wahrscheinlich bald nicht mehr hier leben werden.

In einem intensiven Gespräch kommen wir auf die Globalisierung zu sprechen, und hier ist das den Menschen ganz klar, was damit gemeint ist. Man könnte mit dem Philosophen Ernst Bloch sagen, dass die Heimat erst kommen und werden muss, damit man weiß, was man an ihr im Schlechten und im Guten gehabt hat. Und woher man kommt, ohne je hier gewesen zu sein.

Mayday

Mayday. Notruf, äußerst konventionell: https://de.wikipedia.org/wiki/Mayday_(Notruf). Am letzten Tag des Mai 2020.

Mayday. Unsere Notsituation ist heimtückisch. Das neue Lieblingswort heißt Normalisierung. Wenn eine Notsituation normal ist, dann ist der echte Ausnahmezustand erst eingetreten, wenn die Normalisierung wieder überwunden ist. Angeblich befinden wir uns jetzt in einem Ausnahmezustand, der endlich normalisiert werden soll, obwohl und weil viele Maßnahmen gerade jetzt so beibehalten werden, dass wir uns an sie gewöhnen.

Nein, nicht gleich wieder Corona.

Normalität hat viel mit Gewöhnung zu tun. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der sexistische rassistische Irre im Weißen Haus angeblich Präsident der USA ist, dass sein Botschafter Grenell sich in die Innenpolitik der bundesrepublikanischen Bananenrepublik einmischt, dass diese Bananenrepublik sich nicht gegen die Versklavung von HongKong einmischt, weil das unseren Autoverkauf beeinträchtigen könnte…und an so viel haben wir uns gewöhnt, dass viele hoffen, sie würden in ein paar Wochen die Umgebung und die Umstände ihres Lebensstils nicht von der Zeit davor unterscheiden können. Diese Zeit davor war also normal?  Weiße Polizisten haben auch vor Januar überwiegend schwarze US Bürger ermordet, das ist schon lange normal; dass Diktaturen wie China und Russland weder internationale noch Menschenrechte achten, war normal, solange wir aus demokratischer Sicht solche Diktaturen als das Andere unserer Gesellschaftsform angesehen haben. Aber wir weichen vor diesen vor diesen Diktaturen zurück, weil sie mehr Macht besitzen, und wir weichen aus dem gleichen Grund vor Trump zurück.

 So nett sind wir auch zu anderen, wenn sie unsere Werte mit Füßen treten, weil wir ja nicht auf der gleichen Stufe mit ihnen stehen wollen und nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Wenn das in der Politik weltweit anerkanntes Grundprinzip wäre, was reg‘ ich mich auf.

Was mich aufregt ist, dass die deutsche Politik immer nur einen Gegner, einen Anlass zugleich bearbeiten kann. Gemengelagen, die nicht nur Kompromisse, sondern Konfrontation und Prioritäten verlangen, übersteigen die Fähigkeit dieser Regierung, wie übrigens auch von Teilen der EU. Nehmen wir die Bausteine China – USA – Trump – WHO – Hongkong – deutsche Wirtschaftsinteressen. Macht was draus…

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Ich weiß, das ist etwas für Think-Tanks, für Regierungskonferenzen, für hochdotierte Beraterfestspiele – einerseits; andererseits ist es ein Komplex von Problemen, die durch Passivität oder Nichtbeachtung liegen bleiben, bis sie vergessen sind oder sich durch andere Eingriffe und die Aktionen von Anderen scheinbar von selbst lösen. Dann schreit man, oj Katastrophe!, wie bei den Toten im Mittelmeer, wie bei den Vergessenen allüberall, weil ja bei der Globalisierung nicht so schwierig ist, sie aus den Augen zu verlieren.

Normalisierung der eindimensionalen Lebens- und Handlungswege, das ist nicht nur Phantasielosigkeit. Der oft religiöse Wunsch nach Erlösung bedeutet ein Abgeben von Verantwortung, und bis die Macht eingreift – mit Polizeiknüppeln, Vollstreckungsanordnungen, Strafzahlungen oder Jenseitsversprechen – wird die größte Untugend geübt: Abwarten. Abwarten, bis man einschläft (und erlöst aufwacht), bis etwas, „etwas“, geschieht, das man weder herbeigerufen hat noch SO gewollt hat: aber immerhin, es tut sich etwas.

Der von der Polizei ermordete schwarze US-Bürger ist der Normalfall.

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In solchen Zeiten hoffen viele Menschen auf Reinigung der Gesellschaft durch Gewalt, für manche ist Krieg ein Ausweg, für andere ein so genannter Endkampf. Diese Gedanken zeigen die Beschränktheit der Evolution. Aber SO beschränkt ist sie nicht, dass wir nicht handeln könnten, Widerstand gegen Gewalt, symbolisch gegen alle weißen Polizisten, real im dauernden Wälzen des Steins – wir müssen uns Sysiphos als Politiker vorstellen, ob er oder sie dabei glücklich werden, ist eine andere Frage. Steine gibt es genug, im Normalfall.