Finis terrae XXXI: Resignation als Prinzip

Der Eindruck verfestigt sich, dass inmitten der wirklichen und der anzunehmenden Katastrophen aus der Ohnmacht eine trotziger Wille zur Resignation erwächst. Der zeigt sich daran, auf den Anschrei der Partnerin, der politischen Partei oder eine Demonstration „ SO MACH DOCH WAS!“ gar nicht oder wortreich ausweichend zu reagieren.

Was uns Verkehrtminister Scheuer vormacht, ist typisch bis in die Ränge der wirklich wichtigen Politiker hinein: NICHTS. (Ein anständiger Politiker hätte vorher keine Verträge dieser Art gemacht, und wenn schon, dann wäre er längst zurückgetreten). Aber nein: angesichts des Unglücks kann man bleiben wo man ist und nichts tun…es hat ohnedies KEINEN SINN.

*

Nach dieser Einleitung den Weg zu einem Argument zu finden, ist nicht einfach. Die deutsche Selbstkastration ist ein politisches Beispiel für die Anerkennung der katastrophalen Beendigung eines Aufbruchs in eine immerhin mögliche Zukunft. Diese Anerkennung erfolgt meistens symbolisch: Man lässt die vermeintlich Stärkeren tun, was die wollen, und segelt in ihrem Windschatten: den Gauner Grenell hätte man längst ausweisen müssen, vor dem Diktator Erdögan hätte man längst nicht kuschen dürfen, in der NATO hätte man längst die Analyse, nicht die Wortwahl Macrons übernehmen können…meine Liste im Alltag ist so lang, dass ich mehr als ein Buch dazu schreiben könnte, sofort. Jedes dieser Beispiele ist PEANUTS. Richtig. Die großen Katastrophen setzen sich zusammen aus winzigen politischen Molekülen, die wie ein Puzzle gelegt werden: die Steine passen nicht zusammen, sind oft mit Unterseite nach oben gelegt, und lassen große Lücken offen, in die man dann hineininterpretieren darf (was ein Teil meiner politwissenschaftlichen Kollegen mit Vergnügen macht: Traumdeutung des Unabwendbaren).

Ach ja, das Wetter vor meinem Fenster macht solche grauen Gedanken…mir ist aufgefallen, dass es noch keine Politik der globalen Resignation gibt. Man könnte die agitierte Depression[1], die es wirklich und folgenreich gibt, als Metapher für diese Resignation hernehmen.

Der wichtigste Gegeneinwand ist, dass die Menschen von der Vielzahl der Bedrohungen und anscheinend unverbundenen Risiken so überfordert und gespalten sind, dass sie gleich gar nicht mehr strategisch oder alltagstaktisch reagieren können. Aber das lässt sich, wenn es denn stimmt, nicht so einfach auf Politik und Handeln übertragen.

Plausibler wäre es, die Molekularthese weiter auf die Politik zu übertragen, und in der derzeitigen Situation eine Vielzahl, teilweise nicht erkennbar verbundener, Konsequenzen aus politischem, wirtschaftlichen, kulturellem Handeln zu begreifen – so als hätten die Politiker Angst vor endlicher Bestrafung oder Sanktionierung, halten sie hartnäckig an dem fest, was sie bereits als Linie oder Leitkultur oder Marktprinzip behauptet hatten (und beziehen darin ihre Influencer, Lobbys, Parteitagsbeschlüsse und individuellen Lebensplanungen mit ein).

Was ich damit sagen will, ist einerseits ein milder Angriff auf die Alleinstellung der Strukturmodelle (Strukturgeschichte, -politik etc.) – die Kommunikation in den sozialen Räumen muss auch bedacht sein (und dass die nicht richtig funktioniert, kann man an der Idiotenpackung des Klimapolitikchens sehen, die zu dieser Stunde im Bundesrat verhandelt wird). (Kommunikation hat etwas mit wirklichen Personen zu tun,  und die haften für ihr Leben und ihre Praktiken….). Alltagssprachlich kann man auch sagen, man kommt nicht zu den wichtigen Dingen, weil die weniger wichtigen massenhaft die Zugänge versperren (obwohl sie Ergebnisse der wichtigen sind). Auch hier gibt es gute und beweiskräftige Belege, z.B. in der Klimapolitik – am Beispiel der Windräder und des idiotischen Abstandsgesetzes. Wenn Regierungen Ursachen und Wirkungen verwechseln, was soll man dann vom Gerede an der Straßenecke erwarten…möglicherweise mehr.

Solche Probleme sind entweder etwas fürs Seminar.  Oder aber für eine ernsthafte Frage, wie eine Revolution aussehen müsste, um wenigstens das Tempo massiv zu verringern, mit dem wir uns auf die Absturzkante zubewegen. Modell Fridays for Future, ja, aber noch mehr der Art. Und präzise illoyale Gegenaktionen, auch wenn sich die Politik im Recht fühlt. Das kann sie nur, weil sie nicht angegriffen  wird, nicht, weil sie sich doch in Talkshows hinreichend sichtbar macht. Angriff stellt die Gewaltfrage, wie so oft, und sie wird nicht immer mit Gewalttätigkeit konkretisiert – Angriff heißt oft nur, die Menschen aus ihrer Resignation heraus zu zwingen.

[1] Das ist das Problem der Übertragung medizinischer in soziale Metaphern: aber was solls, es ist nicht so schwer zu verstehen:  https://www.medicalnewstoday.com/articles/320370.php#symptoms ; da gibt es viele Artikel dazu. Aber wichtig: die Symptome sind meistens gesellschaftlich affiziert, nur weiß man wenig über die Gelenke, mit denen die Wirklichkeit die Psyche des Einzelnen angreifen.

Schützen wir die Polizei?

 

Dass der rechtsradikale Lohnbetrüger (hoi, starke Worte!) Rainer Wendt nicht Staatssekretär in Sachsen-Anhalt wird, freut mich. Der Widerstand von Grünen und SPD ist ein Zeichen lebendiger Demokratie. Dass die CDU es überhaupt im Nachzüglerland versucht hatte, den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft auf eine hochdotierte Stelle im Sicherheitsapparat zu hieven, wurde von der Bundespartei und auch sonst im konservativen Lager nicht goutiert. Das wiederum freut die AfD und den so enttäuschten Gegner unserer Freiheit, weil die ersteren sich in ihrer Hetzerei bestätigt fühlen und der Betroffene,  ähnlich wie sein Vorbild Maassen, sich profilieren kann.

Warum diese harschen Töne, Herr Daxner? Etwas mehr zurückhaltende Bewertung wäre doch auch möglich. Möglich ja, aber manchmal ist Klartext angesagt. Denn Wendt ist sozusagen das fleischgewordene Emblem der oft beklagten Verrohung. Seit ich ihn auf dem Bildschirm verfolge, das war damals noch zu Schäubles Zeiten, halte ich ihn für ein Proto-Faschisten. Macht euch saelbst ein Bild. Außerdem ist er mir herzlich egal.

Nicht egal aber sind mir die Mitglieder seines angeblichen Gewerkschaftsvereins. POLIZEIGEWERKSCHAFT, nicht zu verwechseln mit der größeren und demokratischeren GEWERKSCHAFT DER POLIZEI IM DGB. Die Polizeigewerkschaft – Informiert euch erst einmal: https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=deutsche+Polizeigewerkschaft: da finden sich eine ganze Reihe nicht widerspruchsfreier Einträge, aber dass die DPolG im Beamtenbund ist, muss uns alarmieren. Wikipedia gibt ihnen 185.000 Mitglieder, nach einer englischsprachigen Eintragung nur 94.000 (2016).

So, und jetzt treffe ich auf einen Polizisten, der zu diesem Verein gehört. Dem soll ich meine Papiere zeigen, vielleicht sogar seinen Anordnungen folgen?

Sofort anhören: https://www.youtube.com/watch?v=0s06mOpQe0Q

Ein Ausschnitt aus dem Aufruf:

Oder sag’n wir ein Student
geht spazier’n vorm Parlament.
Ja, was denkt sich der dabei?!
Schützen wir die Polizei!

Denn für Studenten haben wir ja sowieso nie Platz.
Die soll’n doch erst was lernen, vorher sind sie für die Katz.
Und wenn sie protestieren ja, wer schützt die Poli-zei?
Was ist schon ein Revolver und ein Knüppel oder zwei?

(hier. https://www.ernst-bloch-chor.de/musik/s/schuetzen-wir-die-polizei/)

Ich leg mirs nicht mit jedem an,  der sich rechts herumtreibt. Aber der Trend, die Polizei zu schützen und nicht diejenigen, die von ihr wie auch immer misshandelt oder diskriminiert werden, ist ja neuerdings aktiv, und zugleich neigen die armen Polizisten zu einem Opfer/Märtyrergehaben, das man auch von anderen rechten Gruppierungen kennt. (Siehe oben: AfD, und Wendts Kommentare zu seinem „Verzicht“ aus das StS-Amt).

Aber den DPolG Polizisten leg ich es mir an, weil sie ja ihre KollegInnen bei den demokratischen Gewerkschaften mit in das Misstrauen und die Marginalisierung drängen.

Wiederum (Disclaimer): nein, nicht alle Mitglieder dieses Verbandes sind wie Wendt; nein, auch in der GdP gibt es nicht demokratische Sicherheitskräfte; aber: Versichert euch, dass euch die Wendt-Brüderschaften nichts antun, dass sie euch weder drangsalieren noch zu Unrecht Hoheit vortäuschen, wenn es nur um einfache Sachverhalte geht. Herr Wendt ist eine Gefahr für unsere Demokratie, und noch darf er ungestört Polizisten organisieren.

 

Lest die Kommentare von heute: 25.11.2019

https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Rainer+Wendt

Deutsche Mitschuld

Wieder einmal die Türkei. Da werden türkische Rechtsanwälte, die mit der Botschaft zusammenarbeiten, als Spione verhaftet, weil sie dem Schicksal von (meist kurdischen oder dissidenten) Asylbewerber*innen nachforschen.  Das ist typisch für das NATO Mitglied, den Flüchtlingsabwehrgenossen und Diktator Erdögan.

Ich habe aufgehorcht. Das AA und andere schnellredende Politiker in Deutschland konnten die türkischen Maßnahmen nicht „nachvollziehen“ (wörtlich, vielfach). Hä? Da wird nicht verurteilt, kritisiert, wieder einmal kein Botschafter einbestellt. Das BAMF äußert sich dazu, von „gängiger Praxis“ ist da die Rede.

Es geht darum, dass man die Glaubwürdigkeit von Asylsuchenden in ihren Heimatländern untersucht. Sind die wirklich verfolgt? Warum kommen sie zu uns? Und das kann man nicht bei uns in Deutschland, bei den Befragungen und vor dem Hintergrund, dass Glaubwürdigkeit ja auch nicht einfach auf Behauptungen beruht. Ja, sicher bemühen sich da auch einige, die „eigentlich“ kein Asyl verdienen (jedenfalls nicht nach Art. 16 GG, der ja ohnedies schon ausgehöhlt ist). Ja, sicher gibt es auch einige  Gefährder, die sich einschleichen, und es gibt auch die Verbrecher, wie Miri, den man zum zweiten Mal rechtlich begründet ausweist (Das ist etwas anderes als die willkürlichen Abschiebungen, die der gottgefällige Seehofer betreibt).

Mir kommt da ein Verdacht. „Jeder einzelne Fall wird genau geprüft“. Klingt nach Rechtsstaat, Sorgfalt, peniblem Umgang mit Asylsuchenden. Der Verdacht ist, etwas knapp ausgedrückt: damit verlängert man nicht nur die Verfahren, macht sie aufwändig und teuer. Man sucht auch im Herkunftsland der Asylsuchenden nach Indizien, ihnen kein Asyl zu gewähren. Das ist fatal für diese, weil sie erst recht ins Visier der heimatlichen Geheimdienste kommen, die ja – wie im Fall der Türkei – in Deutschland recht ungehindert arbeiten dürfen.

Das entlastet die türkische Regierung nicht. Aber es belastet das deutsche Asylverfahren.

Aufklärung tut not. Schnell und öffentlich, mit gesellschaftlich vorausgesetzter Empathie für Asylsuchende, nicht mit dem Verdacht, die wollen ja doch nur sich bei uns einnisten…wir sind ja nicht die AfD.

P.S. Einzelfallprüfung ist kein Verdienst oder eine Schikane. Wenn man sie betont, ist das ganz in Ordnung….sofern sie nicht dann Schikane wird, wenn sie als „Einzelfall“ systemisch wird. die Nachforschungspraxis in der Türkei soll sich vervielfacht haben gegenüber begründeten Einzelfällen.

Verbündeter Verbrecher Trump

Mir hängt die Wiederkehr des Immergleichen in immer kürzeren Zeitschleifen zum Hals heraus. Eigentlich sind die Medien voll von Trumps Betrügereien und von der speichelleckenden Unterstützung, die er von Politikern aus allen möglichen Ländern, bisweilen auch Deutschland, erfährt. Erzählt mir nicht, dass es einfach die Macht ist, die er hat, und dass Macht korrumpiert. Das ist in der Regel so, aber kein Naturgesetz.

Ich hatte schon zum präsidialen Pardon für Mörder und Folterer geschrieben, und zur Patronage über israelische Besatzungspolitik. Ich muss das nicht wiederholen. Aber zum Pardon für die Mörder und Folterer muss man ins Detail gehen, und die Folgen absehen.

Bitte lest genau Kate Clarks Artikel dazu, vor allem, was daraus in Afghanistan und im internationalen Recht folgen kann/soll/wird. https://www.afghanistan-analysts.org/presidential-pardons-trump-sets-his-seal-on-a-record-of-us-impunity-in-afghanistan/ (20.11.2019, heute). Dem ist nur hinzuzufügen, dass Herr Maas heute ja Gelegenheit hätte, beim NATO Außenministertreffen den Trump-Unterling Pompeo zur Rede zu stellen. Wird er nicht tun, schon, weil ers nicht versteht und kann. Aber lest das noch einmal. Und dafür waren wir Jahre in Afghanistan?

Ich bringe diesen Verbrecherpardon nun mit der neuesten Israel-Entscheidung von Trump zusammen: wenn die Besetzung der Westbank den Israelis sanktionsfrei zugebilligt wird – „not per se against international law“, sagt Pompeo, per se…. – dann ist das ein Zeichen, dass sich die amerikanischen Autokraten ohnedies diesem Gesetz nicht verpflichtet wissen, auch wenn sie es wegen Hongkong gegen China ins Treffen führen. Die Israel-Entscheidung kommt günstig zur Entlastung im Zeitfenster des Impeachment Verfahrens. Trump hat einen kleineren aber wichtigen Teil der jüdischen Bevölkerung der USA hinter sich (da gibt es eine wechselseitige polit-ökonomische Abhängigkeit und eine große Habitus-Affinität zwischen dem großen und dem kleineren Gauner, zu Lasten von Menschen und von Frieden). Innen politisch hilft ihm der Schachzug.

Und er ist, in gewissem Sinn, konsequent, auch wenn es uns nicht passt. Er befördert die Einstaatenlösung mit einer innerstaatlichen Opposition. Die – und das ist Trumps Stärke, und wurde heute von Wolfssohn kaum verhüllt so akklamiert – besteht darin, dass diese Opposition sich je nach politischer Beleuchtung als palästinensisch, arabisch, islamisch, oder einfach unterdrückt und enteignet schwer zu einer politisch und moralisch tragfähigen Kraft zusammenfinden kann. Also wird es Guerilla und Blut, mehr Blut geben; es wird den Nationalismus auf beiden Seiten wachsen lassen (was für Israel besonders fatal ist, weil dieser demokratische Staat ja gerade nie richtig national sein kann, will er nicht im ethnischen, gar völkischen Morast der Vergangenheit versinken, darin übrigens der negativen Prognose für die Palästinenser gar nicht unähnlich, nur dass die nicht die demokratische Plattform als Gegengewicht haben). Und für Trumps Logik spricht natürlich, dass die Zweistaatenlösung in 40 Jahren nicht weitergekommen ist. Jetzt, jetzt!, meint Wolfssohn, es sei doch nicht möglich 650.000  Siedler umzusiedeln, nach Israel, oder wohin? Das war unter Begin, ausgerechnet, noch anders. Als ob es keine anderen Lösungsmöglichkeiten gäbe.

Nur eines ist auch klar: Der Gnadenfürst Trump, Freund der Mörder und Folterer, bringt weiteres Unglück über Afghanistan und den Nahen Osten. Speichellecker aller Länder, mögen eure Zungen vertrocknen!

Jüdischer Einspruch XIII:Die USA und Netanjahu sind ANTISEMITEN

Netnjahu ist ein Antisemit. Und warum sollte ein halbirrer amerikanischer Despot wie Trump nicht einen Vasallen wie Pompeo zum Sprachrohr antisemitischer Politik machen:

Die erste Meldung dazu habe ich gestern gelesen:

Siedlungsbau in Israel ORF 18.11.2019

USA: Israels Siedlungsbau kein Verstoß gegen Recht

Die US-Regierung sieht im israelischen Siedlungsbau im Westjordanland keinen Verstoß gegen internationales Recht mehr. US-Außenminister Mike Pompeo verkündete die Kehrtwende heute in Washington. „Es gibt keinen Zweifel am Recht des israelischen Volkes am Land Israel“, sagte Außenminister Israel Katz laut einer Mitteilung. Er dankte der Regierung von US-Präsident Donald Trump für ihre „anhaltende und starke Unterstützung“.

Schon vor der US-Ankündigung Pompeos hatte die israelische ultrarechte Ex-Justizministerin Ajelet Schaked auf Twitter dazu aufgerufen, die israelischen Siedlungen im Westjordanland zu annektieren. „Das jüdische Volk hat das gesetzliche und moralische Recht, in ihrem historischen Heimatland zu leben“, schrieb Schaked. „Jetzt ist die Zeit gekommen, unsere Souveränität auf diese Siedlungen anzuwenden.“

Israel hatte 1967 im Sechstagekrieg unter anderem das Westjordanland, Ostjerusalem und die Golanhöhen erobert. Die UNO stuft die Gebiete als besetzt ein und beruft sich auf internationales Recht. Im Westjordanland und Ostjerusalem leben mittlerweile mehr als 600.000 israelische Siedler. Die Palästinenser fordern die Gebiete für einen eigenen Staat – mit Ostjerusalem als Hauptstadt.

Der UNO-Sicherheitsrat hatte 2016 einen vollständigen Siedlungsstopp von Israel gefordert. Siedlungen wurden in der Resolution 2334 als Verstoß gegen internationales Recht und als großes Hindernis für einen Frieden in Nahost bezeichnet.

Das wurde heute früh im O-Ton noch schlimmer. Der ORF hat das Verdienst, die rechtsradikale Ministerin Shaked zu zitieren, die ist wegen ihrer Zensurpolitik und ihrer Angriffe auf jüdische Intellektuelle ein besonders widerwärtiges Exemplar von Bibis antisemitischer Politik.

WIESO SIND NETANJAHU UND SEIN KABINETT ANTISEMITISCH?

Das bedarf in der Tat der Erklärung. Man könnte ja auch sagen „rechtsradikal“  oder auch „rechtsbrecherisch“ oder auch einfach „dumm“, aber dann kommt man wieder in den Verrohungsdiskurs. Hier geht es um mehr.

Gerade weil ich Israel unbeirrt unterstütze, es in seiner Reaktionspolitik auf Djihad- und Hamasraketen aus den Nachbarländern verteidige, gerade weil ich das Kollektiv der Palästinenser nicht als Einheit oder staatliche Vorfeldorganisation erkennen kann, finde ich, dass die Unterwerfung des angeblich jüdischen Staates unter die Vorherrschaft der USA nicht nur widerwärtig, sondern auch politisch falsch ist.

Der Westen hat sich, menomale, für die Zweistaatenlösung entschieden.  Die ist vorbei. Ich war immer schon, im Gefolge von Tony Judt und andren eher für eine Einstaatenlösung – aber nicht so, dass dieser EINE STAAT ein Besatzungsregime – völkerrechtswidrig – beinhaltet. Darf ich allerdings an Blog Einspruch XII und meine Frage nach den Ursachen der idiotischen Grenzregelungen erinnern? So leicht ist das alles nicht. Mir geht es nur darum, dass mit Trumps/Pompeos zunächst folgenloser Rhetorik nur mehrere Konflikte verschärft werden. Keine Zweistaatenlösung, erst recht Kennzeichnung der Siedlungsprodukte, Misstrauen gegen Israel.

Das Argument der frühen Besiedlung des Landes durch jüdische Menschen ist ungefähr so haltbar wie die Frage, wem Schlesien gehört oder die Krim, vor allem aber wie der Völkermord an den Indigenen die USA zum Souverän über ihren Kontinent macht usw. Also lassen wir das lieber. Der religiöse Kontext ist besonders schlimm,  weil er die jüdische Religion angreift und unglaubwürdig macht, wo sie es nicht ist: aus ihr kann so etwas wie staatliche Souveränität über Territorium nicht abgeleitet werden, außer bei den Ewiggestrigen und Ultra-Orthodoxen – oder Leuten wie Shaked).

Antisemitisch ist die Haltung der USA, weil sie dem Antisemitismus auch dort Auftrieb gibt, wo er gar nicht politisch sich artikuliert hat, nämlich Menschen gegen den jüdischen Staat, den es so, als jüdischen, nicht gibt, aufzubringen. Das ist scheinbar ein Widerspruch. Ist es aber nicht, wenn man das jüdisch richtig interpretiert, nämlich dass Israel das einzige Land der Welt mit einer demokratischen Verfassung und einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit ist (dann ist es ein jüdischer Staat); ansonsten gibt es jüdisch als Staatsbezeichnung so wenig wie islamisch für eine islamische Republik oder auch christlich (außer beim Vatikan?).

Die Knechtschaft der Israeli unter die Amerikaner ist vergleichbar einem neuen, anderen Babylon. Sie geht vorbei. Aber jüdische Menschen überall auf der Welt sollten sich noch einmal daran erinnern lassen, dass die USA kein Verbündeter in Fragen der Menschenrechte und des Völkerrechts sind.

Grüne Freude und Medienschelte

Naja, jetzt wissen es alle: was, die Grünen streiten nicht? So, dann wird wohl sie, die Baerbock, Kanzlerin, bei dem Stimmenvorsprung? Nein, das ist abgekartet, er wird’s, der Habeck. Und der Medienhype, und der Umfragehype, und der populäre Hype – alles ist nach diesem Peak vorbei.

Folgt man den Medien (ich meine, den seriösen), dann ergibt sich folgendes Szenario:

Habeck und Baerbock amalgamieren ihre Namen: Habock und Baerbig. Sie kandidieren als Duo für die Kanzlerschaft, und erlange diese mit einem Wahlergebnis von 27, 53 %, gefolgt von der CDU/CSU mit 26,54 % und der SPD 22,99 % und den anderen Parteien. Sie regieren so: Mo, Mi, Fr – Habock, Di, Do, So – Baerbig, Samstag zur Kinderbetreuung und Freizeit, striktes Netz-Twitter-Facebook-Telefonverbot.

Apropos Verbot: haben wir heute im DLF den seriösen Versuch eines Journalisten gehört, dem Habeck abzupressen, dass wir doch eine Verbotspartei sind. Der hat das natürlich souverän widerlegt, aber es zeigt, wie die Verbotsangst von Lindner Eindruck auf Verbotsängstliche macht. („Und vor allem, Lindner, hör, lutsche nicht am … Daumen mehr“). Es fehlt noch, dass man bei ROT wieder über die Straße gehen darf, weil Ampeln im Naturrecht nicht vorgesehen sind. Andererseits wird GRÜN dann doch nicht erlaubt, weil es parteiisch ist, und das soll der Markt nicht sein. Ach Lindner… Außerdem haben Verbote einen gewissen Charme: man kann die Gegner gut in Stellung bringen. Ich meine Denkverbote, Sprechverbote, Kleidungsverbote, Essverbote…solange es für die Neoliberalen ein Gräuel ist, brauchen wir nichts zu befürchten. Aber dass wir Gebote aussprechen, für die zivilisierte Demokratie, versteht sich von selbst, und verstehen die Demokraten.

Na, und wie schaut dann so ein Kabinett aus?  Kurzfristig wird es mit rätedemokratischen Elementen gemischt, damit immer anlassbezogene kleine Arbeitsgruppen von 143 Menschen ein Thema bearbeiten (z.B. Urananreicherung in Gorleben, Bienensterbeverbot in der Eifel, Mercedessternumwandlung in Benzolringe in Türkheim, pardon, in Mittelostheim etc.), das Problem lösen und wieder im Volk verschwinden. Die Ministerinnen und Minister sind voll mit Delegiertentagen ausgelastet.

Genug der Medienschelte: die den Grünen einen Abschwung voraussagen oder wünschen, sollen bei der nächsten Redaktionskonferenz die Alternativen durchdenken…heulen und Zähneklappern wird sein bei manchen Visionen des Weiter SO.

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Genug der Satire, lacht bitte niemals über den Erfolg der richtigen Politik, konzentriert euch auf das Verbot, die falsche weiter zu dulden oder gar zu fördern. Da kann natürlich meine Lesegemeinde (wow, geschlechtsneutral) sagen: jetzt wird er wieder ernst. Richtig.

Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die zwischen der Ablehnung von Streitkultur und der Ablehnung von kompromissfähigem Dialog schwankt, ist das Demokratie-bezogen nicht normal. Normal wäre, durch Konflikte zu Ergebnissen zu kommen, die machbar, tragbar, legitim sind. Das heißt aber, dass man nicht schon mit einem erwarteten Kompromiss in die Debatte geht, und der jeweilige Diskurs nicht schon die Mühen der Ebene ausstrahlt. In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod (Kluge/Reitz 1974). Dann freut euch, dass der Grünenparteitag von Bielefeld am Wochenende diesen Weg nicht beschritten hat. Das Gejammere, dass wir nicht mehr nur Opposition sind, ist ja seit Jahren verstummt.  Das Gejammere, dass wir nicht nur grün sind, ist aber noch nicht abgeebbt. Der Hintergrund ist deutlich: als Juniorpartner bei einer der Volksparteien sind wir so etwas wie das grüne Gewissen und die ethische Schuldenbremse. Aber das sind wir bei den jetzigen Regierungskoalitionen auch nicht…

Also: diesbezüglich geht’s mir gut.

Was wirklich auf uns zukommt, hat mit der K-Frage nur indirekt zu tun, auch nicht mit dem erneuerten Parteiprogramm. Wir haben wenig Zeit. Für die Klimakatastrophe maximal, MAXIMAL, 20 Jahre, das ist nichts. Für die Welternährungspolitik wahrscheinlich weniger, vielleicht 10 Jahre. Für effektive Abrüstung, ein Verbot (s.o.) von Rüstungsexporten nach fast überall hin, vielleicht 1 Jahr. Nun kommt keine Lehre von den letzten Dingen, die ist in Finis terrae sowieso regelmäßig vertreten. Sondern es kommt die Frage, die viele Endzeitpolitik-, Religions-, Sozial-, Ethik-, Wissenschafts-Wissenschaftler immer häufiger stellen: kann man diese Krisen mit Demokratie, mit mehr Demokratie gar, bewältigen, oder muss es zur autoritären Überlebensherrschaft kommen?

Die Frage ist nicht trivial, sie hat Vorläufer, Mitläufer, und ist Teil einer autoritären Neigung,  (die Verbotsdebatte ist nur das Vorfühlen, mit wieviel weniger Demokratie sich etwas durchsetzen lässt, egal ob richtig oder falsch – siehe China, Russland, Trump und Orban, Seehofer). Wir können das am Beispiel des Widerstands gegen die Windräder durchspielen. Demokratie muss aber hier die Akteure und nicht nur deren unmittelbare Interessen (zB. Lärm) abwägen, sondern vielmehr Habitus, Kultur, Opportunismus und den plebejischen Gelbwestenhabitus, es seien ja nur die elitären Städter, die dem guten Landvolk die Windmühlen aufzwängen. Nur hinhören reicht da nicht. Die Demokratie besteht nicht nur aus Partizipation, sondern aus dem Übergang von Meinung zu Politik. Eines meiner wichtigsten Argumente klingt grausam, nicht so gemeint: die meisten Protestierer gegen die Windanlagen werden längst tot sein, wenn sich ihr Widerstand an den Kindern und Enkeln auswirkt.

Ich gehe jetzt gar nicht in die konkrete Debatte, die werden wir wohl ausstehen mit mehr Windkraft und weniger Altmeier. Es geht darum, dass es neben den Grünen kaum eine demokratische Partei gibt, die diesen Konflikt aushält, die nicht an den darin enthaltenen Widersprüchen zerbricht (SPD) oder erstickt (CDU) oder sich paralysiert (FDP, Linke).

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Wer meint ich mache Propaganda für die Partei, der ich funktionslos angehöre, irrt. Die Tatsachen aussprechen, die für uns sprechen, so schnörkellos wie Harbock und Baerbig, ist eine Kunst, die durch die Menschen zum Leben erweckt und am Leben gehalten wird. Ach, das ist jetzt pathetisch? Gehe zurück auf Feld 1.

Trump begnadigt!

Man sagt, dass Trump begnadigt wird, wenn er sich im Gefängnis gut aufführt. Macht doch keine Vermögensprüfung draus…seid menschlich! Psychiater, Geheimdienstler und wahllos aus dem amerikanischen Volk, weiße, übergewichtige NRA-Mitglieder und evangelikale Lautsprecher, haben sich in einer Petition für die Begnadigung des amerikanischen Despoten ausgesprochen. Hintergrund ist seine Verurteilung wegen sexueller, rassistischer und wirtschaftlicher Straftaten. Auch habe er – ständig angegriffen und nicht wirklich in der Lage sich zu verteidigen – selbst ein Beispiel gegeben, dass auch Verbrecher begnadigt werden können. Kennen wir ja aus der Bibel…Warum sitzt Trump im Gefängnis? Ach, Kleinigkeiten, Hochverrat, Beleidigung echter Menschen, Grapschen an unzumutbare Körperteile, Betrug beim Notieren von Golf-Resultaten (Golfkrieg), Krieg und Diskriminierung an der Grenze, Klimasünden und weitere Missetaten, nicht zuletzt hat er über 50 hohe Staatsbeamte im Lauf von nur drei Jahren arbeitslos gemacht. Also hatte ihn das oberste Bezirksgericht von Washington zu 3 Jahren 5 Monaten und 4 Tagen schwerem verschärftem Kerker mit Fasttagen und Dunkelhaft an jedem Jahrestag einer Untat verurteilt (Quelle: Kellyanne Conway, berühmte Nachweiserin alternativer Fakten). Anlass meiner Recherche ist die folgende  Meldung:

Aus orf.at 16.11.2019

S-Präsident Donald Trump hat einen wegen Mordes verurteilten und einen des Mordes angeklagten Soldaten begnadigt. Zudem nahm er die Degradierung eines weiteren Militärangehörigen zurück, wie das Weiße Haus heute (Ortszeit) mitteilte. Die Entscheidung wurde von ehemaligen US-Militärvertretern scharf kritisiert. Oberleutnant Clint Lorance war zu 19 Jahren Haft verurteilt worden, weil er 2012 in Afghanistan den Befehl gab, auf drei unbewaffnete Afghanen zu schießen. Zwei von ihnen starben. Sechs Jahre seiner Haftstrafe hat Lorance bereits abgesessen.

Dem ehemaligen Elitesoldaten Matt Golsteyn war vorgeworfen worden, 2010 einen mutmaßlichen Bombenbauer der Taliban vorsätzlich erschossen zu haben. Auch er wurde nun von Trump begnadigt.

Kritik von ehemaligen Militärangehörigen

Zudem hob Trump die Degradierung des Navy Seals Edward Gallagher auf, dessen Fall für Aufsehen in den USA gesorgt hatte. Er war beschuldigt worden, einen gefangenen Kämpfer der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) im Irak ermordet zu haben. Gallagher wurde auch vorgeworfen, auf Zivilisten geschossen zu haben. Im Juli sprach ein Militärgericht ihn weitgehend frei. Der hochdekorierte Elitesoldat wurde lediglich schuldig gesprochen, neben der Leiche des toten IS-Kämpfers für ein Foto posiert zu haben.

Belohnt die Milde und bestraft nicht die Engherzigkeit!

Alle, die Trump für einen bösen, hartherzigen Tyrannen halten, sidn widerlegt. Mörder muss man begnadigen, Folterer, Vergewaltiger, Räuber….kurz alle, die von der Justiz unbarmherzig verfolgt werden. Trump ist barmherzig, that’s all. Und deshalb sollten wir ihn erst einmal ins Gefängnis bringen, damit wir ihn dann begnadigen können. Weihnachten steht vor der Tür.

 

Der Große Krieg. Eine Rezension.

Eine meiner seltenen Rezensionen. Soviel Krieg und Unglück wird auch privater verarbeitet, berichtet und beschwiegen. Wenn man einmal Einblick erhält in das Leben von Menschen, die vom Krieg umgeben sind, kann das zu nachhaltigen Erkenntnissen führen. Mit meiner Kollegin Gunilla Budde hatte ich viele Diskussionen zu diesem Thema, jetzt hat sie ein Buch herausgegeben und geschrieben, das viel Bewusstsein von Zeit und Geschichtsbewusstsein vermittelt.

Gunilla Budde: Feldpost für Elsbeth. Eine Familie im Ersten Weltkrieg. Göttingen 2019 (Wallstein). ISBN 978-3-83533526-4

Briefe aus der Kriegszeit, noch dazu aus der eigenen Familie, sind so wenig selten wie stets Anlass, die eigene Position zu überprüfen. Was habe ich damit anderes zu tun als wenn diese Briefe von völlig Fremden geschrieben worden wären? Wie verändert sich die Forschung an ihnen, schon von Anfang an?

Diese Fragen der Subjektivierung und ihrer Grenzen sind interessant, weil ja Krieg und Überleben der eigenen Familie in einen Zusammenhang gebracht werden müssen, der jenseits des persönlichen Bezugs eine Botschaft oder wenigstens Bedeutung für nachkommende Generationen deutlich machen soll, wenn die Sammlung und Forschung über bloßes Dokumentieren hinausgeht.

Briefe aus dem Krieg gibt es genug, auch Vergleichendes. Aber die subjektive, genalogische Edition ist da schon etwas anderes. Zugleich geht es, so seltsam es ankommt, nicht so sehr um den konkreten Krieg, als um seine (sekundären) Eingriffe in das bürgerliche Leben. Das mag daran liegen, dass ja keine ausländischen Truppen in Deutschland gegenwärtig waren, aber auch daran, dass zwischen Kargheit, die allenthalben zu spüren war, und Not, die die Familie noch nicht erlebt hatte, ein großer Unterschied war. Briefe schreiben als Tugend, aber auch als Selbststütze, ist ein wichtiges Element. Der Brief bindet an die engsten Verwandten und an das Milieu. Was an den Briefen auffällt ist die häufige Erwähnung des Todes von Verwandten und Bekannten, aber wenig Empathie und gar einen Bezug zum Sterben. Der Tod ist eine Art ritueller Konstruktion. Nur Ernst, der früh gefallene ältere Sohn, ist da in Mutter Elsbeths Briefen eine Ausnahme, was wiederum den jüngeren Bruder kränkt, in den zurückgenommenen Bahnen des habituellen Benehmens.

Gunilla Budde, Historikerin an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und einschlägig ausgewiesen, veröffentlicht und kommentiert Briefwechsel ihrer Urgroßmutter (Elsbeth) mit ihren Söhnen – Ernst, dem Gefallenen, und Gerhard, dem Überlebenden, ihrem Großvater. August 1914 bis November 1918 umfasst die Zeitspanne, und hier liegt ein wichtiger Aspekt: es geht nicht um die Familienchronik „an sich“. Um uns zu orientieren, tun wir gut daran, mit dem Ausblick zu beginnen (S. 563 ff.); Elsbeth und Gerhard werden sich auch im zweiten Weltkrieg Briefe schreiben, aber die sind hier nicht dokumentiert. Es geht um die vier Jahre, in denen sich eine wirklich schlafwandlerische Privatheit (vor allem bei Ernst) in eine wache, resignierte, aber nicht „hoffnungslose“ Klarheit wandelt. (Wir müssen fast zwangsläufig an Clarks „Schlafwandler“ (2013) denken, und wie sich ein schlafwandlerischer Habitus in einzelnen Personen so ganz anders ausdrückt als in der Strukturgeschichte).

Der erste Teil des Buchs ist mit „Ernst“ überschrieben. Ein Jahr nach Kriegsausbruch fällt der ältere Bruder Ernst in Polen, nachdem er den Krieg erst in Belgien und Frankreich begonnen  hatte (Ich schreibe bewusst, er hätte ihn „begonnen“, weil sich sein Habitus in einem selbstbewussten Erfassen von „allem“ um sich herum beginnen lässt, was nach kurzer Zeit diese Ganzheit nicht mehr erlaubt). „Die Kirche und die umliegenden Häuser waren vollkommen zerstört. Die Gegend wird immer schöner“ (17.9.1914). Unmittelbar nach Ernsts „Feuertaufe“, im selben Brief, schreibt er: „Die Stadt ist wundervoll“: Er requiriert für sich wertvolle Kleidungsstücke: „Ich lebe hier wie im Schlaraffenland“.  Von solchem Realismus finden sich viele Stellen. Bevor ich verurteile, stelle ich nur trocken fest: Habitus schlägt ethischen Subjektivismus.

Gunilla Budde schaltet sich immer wieder zwischen den Briefen ein und kommentiert nicht nur, sie schreibt sozusagen einen Basso continuo zur Melodie der Briefe.  Knapp und genau beschreibt sie, was die Befindlichkeit von Ernst verallgemeinern kann: „Anders als die Propaganda verhieß, vertiefte der Weltkrieg die Klassengräben, klafften Welten zwischen den einfachen „Feldgrauen“ und den Offiziersrängen“ (S. 36). Man wird nie einfach ins Familienschicksal hineingezogen, oft tritt die mögliche Empathie hinter die Sicht auf die Systemumgebung zurück.

Buddes große Leistung besteht darin, textnah an den Briefen das Eindringen des Bewusstseins vom Krieg (Diskurs) und seiner sozial-ökonomischen Realität zu vermitteln, und damit auch die zunehmende Brüchigkeit und Elastizität der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben und zu erklären. Das Erklären ist eine besondere Stärke von Gunilla Budde, und es erleichtert auch den Durchgang durch viele stereotypische Passagen der Briefe. Es lohnt, im Briefwechsel von Ernst in den ersten Kriegsmonaten, so etwa bis Ende Oktober 1914, ganz versteckte Subtexte zu entdecken, die sich unter das „Es geht mir gut“ mischen bzw. in die retardierten Briefe sich einschleicht. Die ersten Toten, die vielen Toten, die Schuldzuweisungen (an England) und die stereotypen Vaterlandsanrufungen können noch eine Zeitlang täuschen. Wie sie überleben und nach 1918 wieder auftauchen, ist auch eine Lektion (Bei Mutter Elsbeth und Bruder Gerhard). Und Gott: die Anrufung ist nur mehr knapp über der Grußroutine. Dass der Subtext einen gespenstischen Pragmatismus trägt, kommt dazu – wäre der Sohn gefallen, bräuchte er keine Wäsche mehr, und ähnliches (S. 138). Krieg als Normalität. Und Stunden vor seinem Tod wiederholt ein häufiger Eingangssatz von Ernst „Es geht mir ausgezeichnet“. Und dann die mehrfache Einrahmung der Erzählung vom Tod des Sohnes. (Hier ist wichtig anzumerken, dass das Sterben etwas anderes ist als die festgeschriebene Notation der Konstruktion „Tod“ , die wie eine Barriere dazu dient, die ganze Wirklichkeit nicht an die Mutter, an die Familie, heranzulassen).(215ff.) – bis hin zum dauernden Gedenken an den Toten in den Briefen an den lebenden Gerhard (248ff). Das Muttersohn (Ernst) und Vatersohn (Gerhard)-Motiv ist eine kluge Introspektion der Familie, man hätte es gerne weiter ausgeführt gesehen. Beide Brüder übrigens haben einen zunehmend markigen, fast unhöflichen Ton gegenüber den Eltern angeschlagen, wenn es um Forderungen von Geld, Ausrüstung, und Nahrungsmitteln ging: das kann man auch erklären mit der Mittelstellung, die die beiden in einer militärischen Formation hatten, die noch nicht nach „oben“ (Adel, Offiziersrang), aber auch nicht weiter nach „unten“ (einfache Soldaten) ausgerichtet war. Ich lese da auch einiges unterdrückte Klassenbewusstsein hinein, aber es ist schwierig zu präparieren. Zugleich sind der oft brüsk fordernde Ton von Gerhard und die Reaktionen der Eltern kein Grund, die Brief- und Paketfolge weniger intensiv zu gestalten. Was sich gehört und was man will, sind zwei verschiedene Sachen (323-324). Der Briefverkehr geht auch nach Gerhards Verwundung (Dezember 1916), er verliert das rechte Auge, unvermindert weiter. Überlebt zu haben wird zur Rechtfertigung der Routine genommen, am Rahmen nichts zu ändern. Die Heilung geht überraschend schnell voran, am Habitus und Duktus der Briefe hat sich nichts geändert. Nach wenigen Wochen, im Februar 2017, steht aber da, wie ein Resümee: „Ich habe mich entschieden, Landwirt zu werden, da ich dazu nicht das Examen brauche und trotzdem als Offizier eine sehr gute Stellung überall einnehmen kann. Und allgemeine Bildung lerne ich in den Jahren auch nicht dazu“ (444). In der Monotonie des Ersuchens um Pakete und Briefe und gelegentlicher Verhaltensmodifikation mischt sich immer häufiger ein Subtext des bald verlorenen Kriegs hinein: jetzt soll der Sohn für die Eltern hamstern (474).  Der Sommer 1917 ist die Zeit der Reife zum Erwachsenen, und jetzt zeigt sich, wie breit der Korridor der persönlichen Konfliktregelung beim Militär ausgenützt wird, und wo die starren Klassen- und Milieuschranken noch haltbar sind. Nunmehr als Leutnant, holt Gerhard seine Gymnasialzeit nach, das liest sich teilweise unfreiwillig komisch, und Gunilla Budde versäumt in einem Kommentar auch nicht, auf die „Feuerzangenbowle „ hinzuweisen (508). Die Monate in Oldenburg lesen sich nicht wie Krieg. Gerhard kommt in die „richtige“ Umgebung, erhält das EK I, hungert nicht. Auch zu Hause, in Herford, scheint sich das Leben weiterhin angemessen leben zu lassen. Die Dienstmädchengeschichten, die Vorbereitung der Silbernen Hochzeit der Eltern, die lokalen „Umstände“ klingen so, als ob der Krieg wie ein Panorama vorbeizöge bzw. gezogen wäre. Das Coming of Age des Gerhard, der 21 Jahre alt ist, mit den mütterlich eingeholten Erkundigungen und der massiven Kränkung des Sohnes sind Ausdruck auch einer Gesellschaftsschicht, an der die Zeit etwas vorbeigegangen ist, oder die sich um sich selbst dreht. Gunilla Buddes Zusammenfassung dieses Zeitabschnitts spricht Bände: „Im September ist der Haussegen wieder im Lot. In Herford steht eine reiche Birnenernte an. Ernsts Einziehung jährt sich zum vierten Mal, auch junge Frauen sterben, Waldemar Heckmann, der rührige Warschauer schickt Speck. Diese bizarre Mischung von Profanem und Tragischen ist im Kriegsalltag zur Normalität geworden“ (550). Das könnte Karl Kraus so kommentiert haben. Der letzte Brief der Sammlung endet unfreiwillig komisch in seinem Pathos: „Nun soll es mich gar nicht wundern, wenn die Engländer hier oben zu landen versuchten. Wir sind jetzt zum Sklavenvolk geworden“ (561). Aus Oldenburg, 7. November 1918.

Nun sollten die LeserInnen wieder zum Ausblick zurückkehren, der sich jetzt  profunder und erklärungsreicher liest. Gunilla Budde hat sparsam kommentiert, was den Briefen mehr Aufmerksamkeit zukommen lässt, und mir jedenfalls, ein großes Erschrecken über den schmalen Weg, den das Bürgertum damals noch so selbstbewusst mit seinen Scheuklappen gegangen ist. Ich fand im Übrigen die Briefe der Mutter weit informativer und anregender als die der Söhne. Ein Lehrbuch erster Klasse.

 

 

Jüdischer Einspruch XII: Israel, schon wieder?

Mir reicht es…aber was will man tun?

Ich halte es für ANTISEMITISCH, wenn Ereignisse und Sachverhalte zusammengebracht werden, deren Verbindung entweder besteht, aber hochkomplex und auf verschiedenen Ebenen abgehandelt werden müssen, wenn sie wichtig sind; oder aber wenn diese Ereignisse zufällig oder nicht im Zusammenhang stehen.

Wichtig sind die Ereignisse allemal:

  • Die Kennzeichnungspflicht von Waren aus den besetzten, nicht zu Israel gehörenden Gebieten
  • Die gezielte Tötung eines Djihadführers, der für Bombenangriffe verantwortlich ist, nebst seiner Frau
  • Die dauernden Bombardements, die vom Djihad und nicht von Hamas kommen dürften, und zwar vor und nach der Tötung des Djhihadführers

Die Kommentare sind auch dann antisemitisch, wenn sie genau das als Anlass und Perspektive von sich weisen. Infam etwa die Stellungnahme ausgerechnet der Frau von Storch von den Nazis der AfD. Fangen wir dort an: das Internet weist zahlreiche Stellungnahmen „pro Israel“ von dieser AfD Abgeordneten nach, und die sind allesamt überprüfenswert. Denn worum geht es bei der pro-israelischen Position von Rechtsradikalen? Erst macht euch selbst ein Bild von Storchs Position, die Glaubwürdigkeitsprüfung kann nur aufgrund der Analyse ihrer Aussagen erfolgen: https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=von+storch+israel

Dann aber zur Beantwortung der Frage: Israel ist kein Judenstaat. Es ist im Rahmen einer konstruierten, meist ethnisch, oft ethnisch-religiösen Notierung ein jüdischer Staat.  Die jüdische Bevölkerungsmehrheit ist noch keine Definition dessen, was jüdisch ist und was es in der Meinung verschiedener Parteien sein soll. Da kann, muss sich einmischen, wer sich als jüdisch versteht, aber sich nicht von Antisemiten zum Juden machen lassen will.

Warum man sich die Weinproduktion im besetzten Gebiet aussucht, um das Urteil der Kennzeichnungspflicht zu sprechen, hat zwei Seiten: polit-ökonomisch, marktwirtschaftlich, auch ethisch ist das Urteil nicht nur korrekt, sondern überfällig. Westjordanland ist nicht Israel. Übrigens wurde es ja durch die Klage eines dort tätigen Winzers provoziert (nachprüfen, bitte); die andere Seite ist fatal: wieder einmal Israel. Es gibt n+1 Territorien, die gegen die marktwirtschaftlichen Handels- und Ethikprinzipien verstoßen. Das ist so ähnlich wie die menschenrechtliche Verurteilung Israels durch die Vereinten Nationen: ja, Israel bricht Völkerrecht, und das tun n+1 andere auch, aber Israel exemplarisch zu verurteilen, ist antisemitisch. Mit dem Kennzeichnungsurteil ist es sogar weniger aufgeladen als mit der Handhabung der Menschenrechte, aber klar: Wein aus den besetzten Gebieten ist so wenig Made in Israel wie Sekt von der Krim aus Russland kommt. Dass ich oder andere ihn trotzdem kaufen können, setzt nur einige Entscheidungen voraus, die kann man dann rechtfertigen oder auch nicht. Aber nicht sich selber dumm stellen.

Zufällig geschieht das am Tag der gezielten Tötung von al-Ata. Vom Zufall kann man abstrahieren. Gezielte Tötungen sind immer – nein, meistens – unzulässig, moralisch falsch, meist mit eskalierenden Konsequenzen, und politisch dumm. Ich sage: meistens, denn es gibt Fälle, da macht das Attentat nachweisbaren und exzeptionellen Sinn, um eine unverhältnismäßig größere Untat zu verhindern. (Im vorliegenden Fall muss man die Raketenbeschüsse analysieren, um darüber nachdenken und sprechen zu können). Dass nach einem Tag eskalierender gegenseitiger Gewaltakte heute (14.11.) offenbar eine Art Waffenstillstand vereinbart wurde, mit Ägyptens Hilfe, ist ein Hoffnungszeichen. Aber zu den gezielten Tötungen, in die Israel miteinbezogen ist, sollte man Ron Bergmans „Schattenkrieg“ (Bergman 2018) lesen, um von den Dimensionen eine Vorstellung zu bekommen. Und dann weiterdenken: warum gerade vom Gaza aus so heftig geschossen wird? Warum der Iran hier aktiv beteiligt ist, obwohl gerade diesem Land an der Hilfe des europäischen Westens gegen die USA gelegen sein müsste, woher die Grenzziehung des Gaza stammt und wie die Verantwortung dafür über die Jahrzehnte verdrängt wird usw.

Ich kann gar nicht heftig genug Netanjahu als Person und seine Politik kritisieren. Aber wenn ich das außerhalb der antisemitischen Klischees (es gibt mehrere) mache, dann muss ich die als Mantel für Beurteilungen aufheben.

*

Warum mögen manche Rechtsradikale Israel so sehr? Wenn sie das Land nicht als jüdischen Staat im Sinne des antisemitischen Paradigmas begreifen, sondern als starken, wehrhaften Staat gegen zB. den Islam, die Herkunftsländer der Migranten, oder aber als Ort, der aus Minderheitspositionen Heldentaten  produziert (so links wie rechts 1967 mit Moshe Dayan geschehen). Das ist eine Globalisierung des David vs. Goliath-Modells. Hieraus erklärt sich, warum viele Linksradikale und Linksmitten Israel wahlweise ablehnen oder auch mögen, ziemlich unabhängig davon, ob und wie antisemitisch sie sich verstehen. Dieser Satz relativiert nicht. Er ist nämlich auch auf die Palästinenser anzuwenden, selbst wenn die sich nicht als „semitisch“ begreifen, aber auch das hat seine Geschichte und seine Folgen. Ich werde nicht müde darum zu bitten, die „Palästinenser“, also die Palästinenser, so zu dekonstruieren wie Israel und die Israelis. Dann und nur dann wird man verstehen können, dass der Konflikt auf der weltpolitischen Ebene seine Schuldigen Generationen weit zurückverfolgen muss, aber der sozio-kulturell-politisch-ökonomische Konflikt zwischen Gruppen sich abspielt, die nur sehr vermittelt mit dem ersteren zu tun haben. Da muss man Ein versus Zwei Staatenlösungen, da muss man die Rollen und Funktionen der PolitikerInnen, die Demokratie und den Willen zu ihr, die Gewalt und den Willen zu ihr verstehen können…und, das ist die Pointe, dann und nur dann kann man den Antisemitismus der rechten Israelfreunde auch erklären, nicht billigen.

 

Bergman, R. (2018). Der Schattenkrieg. München, DVA.

 

Wir machen den Kalender

Der 9. November ist vorbei. Ich empfinde eine gewisse Erleichterung, und, im Anschluss an meinen letzten Blog zum Thema, auch ein Bedürfnis, mit dieser Ambiguität des Datums weiter zu leben. Das hat mich lange verfolgt.1996 habe ich in einem Schulbuch einen Essay beigetragen: Schicksalstage in der Geschichte werden gemacht: (Daxner 1996). Ein Leitmotiv übertrage ich: die übersetzte Gedichtzeile des Mordechaj Gebirtig (1977-1942):“..Und ihr steht und schaut zu mit verschränkten Händen“. Gestern und vorgestern waren die Medien voll von Berichten über Veranstaltungen, über Aufrufe, Erinnerungen, glückselige Momente, gute Reden (Kanzlerin, Marianne Birthler,, Steinmeyer etc.) und allen Arten von Erinnerungskultur….30 Jahre zu 1989. (für mich wirklich erschreckend, wie nahe 1968 („Wir“) zu 1945 war, und 1938-1968 sind auch 30 Jahre.

Für mich war 1968 oder Willi Brandt das Ende der Nachkriegszeit, nicht1989. Das Glück des Mauerfalls sollte nicht lange anhalten, vor allem weil es nicht übertragbar war auf die, die kein Glück empfanden, wenn sie die Gesichter derer sahen, die sich an diesem Abend in die Arme fielen. Nicht nur in der DDR hatten vieler Menschen (ob Mehrheit oder nicht) verlernt, Befreiung als Schritt in die Freiheit zu begreifen, das war auch im Westen so (ob Mehrheit oder nicht). Für alle, die den Systemwechsel als solchen hinnahmen, von einer Sicherheit in die nächste, oder von einer Form abgegebener Selbstständigkeit in die andere, war das Glück von kurzer Dauer. Ich rede von an den Anderen (Mehrheit oder nicht? Wahrscheinlich bis heute eine Mehrheit im Osten und im Westen). Ich spreche vom Glück des „Gut Gelungenen“. (Ein zentraler Begriff des großen Utopie-Philosophen seit dem Geist der Utopie 1918). Da haben Menschen einmal gemacht, was sie glücklich macht. Hätte „man“ ihnen nur dieses Glückgebracht, wäre es anders gekommen. Aber ganz ohne die Anderen ging es auch nicht, deshalb hat sich viel von diesem Glück übertragen, auf diese Anderen. Nicht nur uns, auch Menschen in anderen Ländern, die an der Vorbereitung und den Umständen mitgewirkt hatten…

Man konnte also nicht mit verschränkten Händen zuschauen, weder 1938 noch 1989; nicht beim unfassbaren Unglück, noch beim fasslichen Glück. Der schrecklich tiefe Satz von Goethe doch, „verweile doch, du bist so schön…“ gilt eben nicht für das Schöne, sondern nur für das Schreckliche, das immer zu lange dauert. Immer. Dass die Freiheit nicht automatisch aus der Befreiung folgt, ist so deutlich und wahrscheinlich wie kaum anderes, aber das macht die Befreiung nichts schal oder gar wertlos. Das war gestern ein Bestandteil einer Erinnerungskultur, die man in Erinnerung an den 30. Geburtstag durchaus so bewahren kann, 2019 ist wenisgtens für uns besser als vor 1989. Die Weltbürger bedenken das Umfeld des Deutschlands von heute, und dann stehen wir weiterhin eher auf gutem, wenn auch nicht gesichertem Terrain. Für Bloch ist die Heimat vollendete Demokratie, nicht stammesgeschichtliche Reduktion, wie bei den neuen alten Nazis und Identitären.

Aber dann gab es ein anderes Gestern. Der eigene Standort ist ja sich selbst gegenüber blind: ich schaue auf die Welt und sehe mich nicht gleich darin. Rund um uns, und wahrscheinlich mehr in uns als uns lieb ist,, kommt die Bedrohung. Freiheit gegen Sicherheit eintauschen – das fängt nicht bei der NATO an, sondern bei Seehofer und seinen Schreibtischtätern), das Einfamilienhaus nicht gegen Solidarität eintauschen, schon gar nicht die Lebensumstände gegen das Ungesicherte. Wer an das Rettende glaubt, das bei höchster Gefahr erscheint, soll sich das Ersticken seiner Enkel im Klimawandel vorstellen (der wird ja längst tot sein, wenn das geschieht), und wissen, dass es kein Rettendes aus sich heraus gibt. Wer meint, den Frieden zu bewahren, in dem Heckler&Koch,  Krauss-Maffei und andere Tötungsfabriken den jeweiligen Verbündeten aufrüsten, wird seine eigenen Bomben auf den Kopf bekommen (AKK spielt nicht mit dem Feuer, sie ist eine Funzel). Andererseits ist das nicht notwendig pazifistisch, sondern nur darauf ausgerichtet, seine eigene Freiheit an die von anderen zu binden, nicht an deren Unfreiheit. Dazu braucht man Politik. Ich fühle mich tatsächlich bedroht, nicht um meines Lebens willen, sondern um dessen begrenzte Aussichten und den Vorstellungen, was dann hier folgt, für Kinder, Enkel, Urenkel: immer wieder der Augenblick, der aus seinem „Dunkel“ (Bloch) ausbricht und bei der geöffneten Mauer so etwas wie Zukunft verspürt, wo sie noch nicht eingetreten ist. Das war auch das Bewusstsein all derer, die vor dem Mauerfall demonstriert hatten, die in den sozialistischen Nachbarländern sich aufgewärmt hatten für den Ernstfall, die Gefahren kommen sehen konnten, und mit der Bedrohung so etwas wie ein zweites Leben im ersten führen mussten. Dreh den Satz von Hölderlin um: wo man das Rettende anstrebt, wächst die Gefahr auch… zeitgemäße Risikoabschätzung ist zu wenig.

Wenn wir Politik machen, um Finis terrae abzuwenden (Klima+Weltkrieg), so machen wir doch auch Politik in dem Umfeld, in dem zwar die Gefahren wachsen, aber konkret sind; obwohl es um die ganze Welt geht, geht es doch auch um den Rahmen, der unser Leben zusammenhält, um das hier: Now here, nicht nowhere.

Und dann höre ich, wenn die Menschen berichten von den Tagen, Wochen und Jahren vor dem 9. November.

Mein Vater war unmittelbar danach durch etliche Länder zum Schwarzen Meer geflohen, um von Costanza Palästina zu erreichen, um erstmal im Gefängnis der Engländer zu landen. Und bald daruf mit ihnen gegen Hitler zu kämpfen. Das war nach dem 9. November.

Heute sehen viele zurück auf den 9. November und analysieren, was wer alles falsch gemacht hatte, danach. Richtig meistens, manchmal blödsinnig falsch. Aber die meisten haben ihr eigens und das Gesicht vieler anderer vor sich, den endlosen Augenblick zu bewahren. Die neuen Zeitzeugen haben schon 30 Jahre hinter sich, diesen Augenblick wachzuhalten, wohl wissend, dass auch er Vergangenheit wird, wie der 9. November 1938, wie der 9. November 1918 (der nur 20 Jahre brauchte, um zu vergehen; eigentlich nur 15…). Aber die Vergangenheit dieses letzten Augenblicks 1989 sollte nicht genauso vergehen, sondern auch eine andere Geschichte repräsentieren, verkörpern, und heute sind wir noch nah genug daran, das Gut Gelungene weiter leben zu lassen (Pathos) bzw. die Ärgernisse der Vergangenheit in einem anderen Museum aufzubewahren als das Lachen des durchbrechenden Augenblicks (Ironie).

Die Gefahren wachsen zur Zeit,  schnell und unkontrolliert. Das wird uns noch zu schaffen machen, deshalb wäre es falsch, sich resigniert auch noch schwächen und Rettung zu erwarten, wo sie noch nicht gerüstet ist.

 

 

 

Daxner, M. (1996). Schicksalstage in der Geschichte werden gemacht –  Der 9. November. Geschichtsbuch Oberstufe. H. Günther-Arndt. Berlin, Cornelsen: 354-357.