Finis terrae VII

Finis terrae VII

 

Zwischenstück für Carolin Emcke.

 

Mut

Fliegt der Schnee mir ins Gesicht,
Schüttl‘ ich ihn herunter.
Wenn mein Herz im Busen spricht,
Sing‘ ich hell und munter.

Höre nicht, was es mir sagt,
Habe keine Ohren;
Fühle nicht, was es mir klagt,
Klagen ist für Toren.

Lustig in die Welt hinein
Gegen Wind und Wetter !
Will kein Gott auf Erden sein,
Sind wir selber Götter !

(Wilhelm Müller, aus der Winterreise.Nirgendwo ist Schubert trauriger als in diesem Zyklus, aber die eine Unterbrechung musste sein: Mut!)

Bevor sie noch ihre Rede am 23. Oktober zum Friedenspreis hält. Bevor sie noch die  Glückwünsche zur angemessenen Auszeichnung bekommt: ich verbeuge mich vor Carolin Emcke, die so unbeirrt, nie zweifelsfrei, aber immer bestimmt ihre Botschaft gegen den Hass schreibt; die auch dann noch sich in die Hassenden und Gefährlichen hineindenkt, wenn der Hochmut der sich besser Wähnenden die schon längst abgeschrieben hat, die aber auch verloren geben, was verloren ist, nicht diejenigen, die verloren sind.

*

Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, aber wir können dankbar sein, dass Carolin Emcke in unserem Land eine derartige Auszeichnung erfährt. Sich dankbar fühlen ist nicht das gleiche wie aus Dankbarkeit handeln, das wäre immer zu wenig. Aber dankbar und mit Empathie handeln heißt den Schritt von der Meinung zur Politik, von der Stimmung zur genaueren Wahrnehmung der Wirklichkeit gehen und Widerstand leisten gegen die Predigt des Unvermeidlichen.

Im „Nachdenken über die RAF“ wünscht Emcke den Innenministern die Einsicht, „dass es kein Leben wäre, was wirklich beschützt wäre“. Aber „Die (Innenminister) Sicherheit versprechen und sich danach verzehren wie nach einem Fetisch. Die überwachen und strafen, als ob sie damit ihre Angst vor Kontrollverlust kontrollieren könnten…Das ist das sonderbare an diesem Versprechen der Sicherheit, dass es nicht mehr fragt, was eigentlich gesichert werden soll. Wir sollen beschützt werden vor etwas, aber was da noch beschützt werden soll, wird zunehmend unklar. Wenn die Freiheit erst einmal geopfert ist auf dem Altar der Sicherheit, bleibt nicht mehr viel übrig, das wir als unser Leben erkennen“. (C.E. 20016 (2008), S. 45). (Viel früher hat Hannah Arendt gesagt, der Sinn der Politik sei Freiheit – von Glück war nie die Rede; aber dass Kretschmann diesen Sinn auch so sieht und begründet, ist wichtig festzuhalten für die politischen Auseinandersetzungen, die jetzt wohl verstärkt kommen werden).

Das gilt für jede Form von Sicherheitsdiskurs, für den Fall von Terrorismus, von Terror, von Gewalt, damals wie jetzt. Gibt es denn überhaupt eine Sicherheit, die es erlaubt, loyal zu bleiben und unsere Freiheit nicht nur zu bewahren, sondern zu leben, vielleicht zu erweitern? loyal zum Beispiel zum Rechtsstaat, zur Sozialverpflichtung des Eigentums nach dem Grundgesetz, aber auch zur Selbstbeschränkung der Ausschöpfung von legalen, aber unmenschlichen Machtmitteln?

Eine philosophische, eine ethische Diskussion will ich hier nicht weiterführen, aber vielleicht eine politische, soweit ich im Nachdenken über die Verzweiflungen am Ende der Welt ja bin.

*

Mit Mitmenschlichkeit kann man ganz viele Menschen in ihrer Beharrung auf Freiheit und Empathie, auf dem tätigen Leben und der Praxis bestärken; aber sie sagt wenig darüber, wie wir unser Leben, das von anderen verteidigen, wie wir es schützen, ohne uns in die Fänger der Versicherheitlichung zu begeben. Mit diesem monströsen Wort, securitization ist nicht besser, wird der Politikansatz bezeichnet, der den Sicherheitsdiskurs in den Mittelpunkt der politischen Konstruktion stellt – und fast naturgemäß wenig Raum für Freiheit hat.

Unsere republikanische Ordnung ist geschwächt, in vielen Ländern, bei Nachbarn und global ist sie geschwächt. Diese Schwäche kann man beschreiben: wir halten uns nicht an die Regeln, die wir uns selbst geben, oder wir geben uns Regeln, an die sich nur solche andere halten müssen, die unsere Interessen nicht beeinträchtigen. Das ist noch VOR jeder Demokratie-Korrektur. Beispiele: Die Handelsregeln zu Lasten armer und rohstoffreicher Staaten hat Deutschland lange vor CETA und TTIP bilateral oder im Verein mit dem globalen Norden aufgestellt; jetzt wird teilweise Kritik daran geübt, dass diese Regeln globalisiert werden und der Investorenschutz auch nicht-deutschen Unternehmen zu Gute kommt. Das ist etwas anderes als die Globalisierung zu kritisieren. Oder: unser Parlament, die große Koalition, hat sich ohne Not noch mehr von den Lobbys abhängig gemacht, die in den Ministerien und anderen hoheitlichen Bereichen den Beamten die Feder führen, damit die res publica den Interessen anderer untergeordnet wird, keineswegs nur Unternehmer. Ich empfinde noch viel gravierender, dass die Meisten von uns aktiv und mehr noch wohlwollend passiv daran mitwirken, dass ein Teil der Gesellschaft „abgehängt“ wird, um diesen Teil dann, wenn er abgehängt ist, als an die Rechtsradikalen ausgeliefert zu betrachten – die im Übrigen selbst nicht abgehängt sind. Das gilt in Deutschland (Skandinavien, Westeuropa etc.) nur deshalb so „maßvoll“, weil es uns hier unglaublich gut geht, in fast jeder Hinsicht, demokratisch, ökonomisch, rechtlich. Genau das Gleiche in weniger begünstigten (und sich begünstigenden) Ländern wie den ost- und südeuropäischen Staaten führt schneller zum Verlust der Republik, und damit zum Leerlaufen nicht entwickelter Demokratie. Nicht nur für die Abgehängten ersetzt der Nationalismus die Demokratie.

Hier eine Schleife einbauen zu den Sätzen von Carolin Emcke am Anfang: Sehr oft beschützen Innenminister auch das Nationale Erbe, die Geschichte, das Tümliche, das Türkentum, das Polentum, zum Beispiel über die Strafbarkeit der Herabsetzung bestimmter Geschichte, bestimmter Potentaten, bestimmter Deutungen des Platzes in der Welt, den die Nation einnehmen will (natürlich schaffen das die Putins, Erdögans, Orbans nicht, sie machen sich lächerlich – bei uns; in ihrem Land heißt das aber: Haftstrafen, Entlassungen, Diskriminierung, und wer bei uns Leitkultur predigt, ist dieses Geistes Balg ebenso). Freiheit in diesem Kontext ist nicht so sehr, sich eine eigene Meinung bilden zu dürfen, sondern laut und öffentlich darüber zu denken, zu sprechen, was entweder noch der Klärung bedarf oder aber was gerade verdeckt, geleugnet oder vergessen werden soll. Freiheit besteht auch darin, jemanden dazu zu bringen, etwas zur Kenntnis zu nehmen, das ist oder war. (Jemanden zum Sprechen bringen, dazu bringen etwas „zu sagen“ zu haben, wie es mein Freund Bodenheimer ausdrückte. Zu sagen hat man erst, wenn gleichberechtigt im Raum um Deutungen, Bedeutungen verhandelt wird, und da müssen Erfahrungen, Entscheidungen und Fehlentscheidungen, Wahrnehmungen und Blindheit zur Sprache kommen. (Bei Emcke gilt das für Täter und Opfer, in der großen Politik gilt das für ganze Gesellschaften, ausdifferenziert ja nicht nur funktional und in Interessengruppen, sondern auch in die Unsicherheit der Antworten auf die Fragen: wie leben wir? und wie sollen wir leben?).

*

Es gibt ganz viele, einander entgegenstehende Strömungen der Kritik an der Demokratie. Manche empfinden die Wahlmechanismen geradezu förderlich zur Herstellung einer abgehobenen Elite; für andere ist es genau dieser Mechanismus, der ein mittelmäßiges, egoistisches Establishment hervorbringt oder abgehobene Herrscher. Teilhabe soll nicht durch Repräsentation ab- und umgelenkt werden. Und überhaupt, wenn das Volk Ausgangspunkt der legitimen Staatsgewalt ist, warum kann man es zur Ausübung in ganz anderen, weiteren Maßstäben bringen? Für viele Interessengruppen ist die Demokratie ein Bremser geworden, vom Erfolg ihrer Feinsteuerung unpraktisch geworden. Und so weiter…Die fatigue de democracie ist keine bloße Behauptung, sie lässt sich vielfach genau nachweisen, vor allem, wenn es keinen Widerstand, wenn es kein republikanisches Moment gibt, das dann nach Demokratie verlangt (nicht umgekehrt).

Wenn ich viele und auch sehr gute politikwissenschaftliche Grundsätze für einen Augenblick beiseite lasse und ganz einfach sage: die Staatsform soll demokratisch sein, aber die Gesellschaft muss sich republikanisch verfassen, damit Demokratie begründet werden kann, so klingt das wie Schulstoff, einfach. Wenn ich den Satz ernsthaft praktisch wende, ist es mit der Einfachheit vorbei. Was ist unser?

Was unsere öffentliche Domäne ist, lässt sich nicht raumzeitlich festlegen, eingrenzen. Globales wird am Küchentisch verhandelt (jede Diskussion um das richtige Essen), Lokales erschüttert globale Politik (Wallonien mit CETA), die Repräsentanten der Politik vermitteln nicht zwischen zwei, sondern vielen Schichten; und die, die so vehement für ihre individuelle Person als Ausgangspunkt der Lebensform eingetreten sind, finden sich da so wenig wie die, die eben diese Person an ein unbestimmtes Kollektiv, das rhetorisch meist nur „Wir“ heißt, abgeben. Dass manche das Wir auch noch gleich wieder verengen und eingrenzen, in ein Volk, in eine Artung und Gesittung, in den Käfig einer kulturellen Korrektheit sperren, kommt zunehmend und erschwerend dazu. Aber so weit müssen wir im Abwehrkampf gegen den Verlust der öffentlichen Sache hier gar nicht gehen – noch haben wir dagegen eine starke Widerstandskraft, noch besetzen wir hier auch einen öffentlichen Raum; der aber ist schon kleiner als er jetzt noch sein könnte, weil wir diesen Verfechtern der Käfighaltung auch noch unsere knusprigen Randschnitten des Rechtsstaatskuchens anbieten (vgl. Sachsen-Blog); aber keine Hysterie, noch leben wir im Bewusstsein der Notwendigkeit von Widerstand, wir verweigern uns der Legitimität der Macht über den Ausnahmezustand. Das wäre vielleicht in Ungarn oder Polen schon anders, in der Türkei oder Russland gewiss, in Thailand, oder Saudi-Arabien oder dem Sudan oder Venezuela sicher…fast überall. Hier nicht, also rücken wir auch nicht ans Ende der Welt vor. Aber viele einzelne Bereiche, Sektoren der geschützten Sphären, strecken sich schon zu den steilen Klippen von finis terrae, wirtschaftlich, juristisch, kulturell, vor allem sozial.

*

Will kein Gott auf Erden sein / sind wir selber Götter! Natürlich ist das mehrdeutig – kein Gott will mit uns zu tun haben, obwohl er es könnte; oder so kein Gott auf Erden ist, müssen wir uns unsere Hoffnung bei uns, für uns halten. Den Satz werden meine Leser*innen immer wieder erfahren, er begleitet mich. Denn wenn es stimmt, dass uns durch Gewöhnung lieb gewordene Strukturen – Städte, die ihr nicht erbaut habt,… Brunnen, die ihr nicht gegraben habt[1] – zerfallen, dissoziieren, ihre Kraft verlieren, dann nützt es nicht, sie mit Worten zu verteidigen, damit sie sich wunderbarer Weise wieder zusammensetzen, retro sozusagen. Dann muss man etwas tun, das heißt Politik. Und man sollte einsehen, dass fast alle Krisenursachen analog sind, aber fast alle Konfliktregelungen davon unabhängig, und unterschiedlich sind. Mit dieser Einsicht werde ich mich auf dem Weg nach finis terrae weiter, und immer wieder beschäftigen.

Manchmal mit mehr Mut, heute.

[1] So ähnlich heißt es in 5 Mose 6.

Sachsen ist das Bayern Deutschlands

 

 

  • …, ich möchte Politiker werden
  • Bist deppert?
  • Wieso? Is des leicht Bedingung?

(Geflügelte Kurzfassung eines berühmten österreichischen Dialogs)

(man kann auch http://cbp.at/blockflyers/VG_2008.html nachlesen, da geht es auch nicht um Sachsen).

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Für gewöhnlich halte ich die hetzerischen Ausbrüche des CSU-Vorstands für so ziemlich das Schlimmste jenseits der Neuen Rechten. Aber was sich im Zusammenhang mit dem Tod von Al-Bakr in Sachsen abspielt, lässt vermuten, dass sogenannte Freistaaten besonders anfällig für die Mischung aus Dummheit und Gefährlichkeit sind.

Der Innenminister Gemkow (AfD) weist jede Schuld und jedes Rücktrittansinnen von sich; der Gefängnisdirektor Jacob (Pegida) hat alles vorschriftsmäßig erledigt. Die Sicherheitsorgane haben alle Hände voll zu tun, der Pegida Erfolg bei der Denunziation unserer Verfassungsorgane zu wünschen und ihn durch Schutz und Schild zu garantieren; die Fahndung und Arrestierung von Terrorverdächtigen überlassen sie lieber den Flüchtlingen, die können sich mit diesen wenigstens verständigen, man hat zu wenig Übersetzungskapazität in der Justiz. Hat man nun Azubis bei der Überwachung des Gefangenen eingesetzt, damit die Hauptamtlichen im Justizdienst nicht gestört werden? Ist die Psychologin überhaupt befugt, das zutreffende Urteil des Haftrichters (Suizidgefahr) durch ihre mangelhafte Kompetenz in Frage zu stellen? Herausgerissene Steckdosen und Glühbirnen verweisen auf Vandalismus, sagt die JVA, obwohl der Gefangene laut Psychologin ruhig und am Schicksal der Anstalt sogar Anteil nehmend war.

Ministerpräsident Tillich (angeblich noch CDU) deckt seine Beamten und Minister. (Siehe oben)

Nur ganz wenige Kritiker dieses Skandals stellen zunächst fest, dass ein Mensch durch Fahrlässigkeit oder unbewusste (?) Absicht der Innen- und Justizbehörden zu Tode gekommen ist. Wer erstattet jetzt Anzeige, Anfangsverdacht gibt es ja hinreichend?

Nur zur Warnung: wenn das Schicksal Al-Bakrs im Gefängnis eines anderen Landes sich ereignet hätte, wären die Medien schon voll der Anklage gegen das dort herrschende Regime. Bei uns geht alles nach Vorschrift. Der Freistaat scheint frei von Moral und Menschenwürde zu sein.

Für Geld zurück in die Zukunftslosigkeit

STERBEGELD UND ABLASSHANDEL.  Afghanische Flüchtlinge werden abgeschoben, dafür gibt es Entwicklungshilfe für das unsichere Afghanistan. So einfach ist das? Nicht ganz.

„Salahuddin Rabbani, Minister of Foreign Affairs, told the house, “European countries told us: you should either receive our aid [in the form of aid] to Afghan refugees in our countries, or for development projects in Afghanistan; you can choose between these two options. They asserted very clearly that they cannot help Afghanistan in both areas.”  AAN 6. Oktober 2016. Bitte den ganzen Artikel lesen: EU and Afghanistan Get Deal on Migrants: Disagreements, pressure and last minute politics by Jelena Bjelica (https://www.afghanistan-analysts.org/eu-and-afghanistan-get-deal-on-migrants-disagreements-pressure-and-last-minute-politics/)

These

14 Jahre hat Deutschland in Afghanistan an einem Krieg mitgewirkt; man hat eine begründbare und vielleicht aussichtsreiche Intervention durch die Fehler der Amerikaner, eigene Fehler und wohl auch die der afghanischen Regierung in ein Desaster münden lassen, unbeirrt, unbelehrbar.

Jetzt werden ca. 50.000 Afghanen von der Europäischen Gemeinschaft, das heißt in diesen Tagen und im konkreten Fall aus Deutschland abgeschoben, damit man sich leisten kann, dem maroden afghanischen System weiterhin Geld  nachzuwerfen, damit man sich seiner moralischen und politischen Haftung entledigen kann. Es geht nicht darum, die Betroffenen wirklich abzuschieben, da ist der Rechtsstaat vor, sondern darum, neue Flüchtlinge abzuhalten. Und das ist nirgendwo leichter als mit einem Land, das dringend auf Hilfe, und nicht nur Zusammenarbeit angewiesen ist.

Abdullah Abdullah, der „CEO“ der afghanischen Regierung behauptet, es hätte keinen Deal gegeben. Mogherini behauptet, es hätte keinen Deal gegeben, Abschiebung gegen Entwicklungshilfe. Steinmeier, den ich sonst überaus schätze, fällt in die gleiche Rhetorik. Der Choleriker Erös wird als Eideshelfer benutzt: Afghanistan ist sicher, kein Krieg, nur ein paar Anschläge (5.10. DLF). (Wie sicher, kann man am besten in ausländischen Medien nachlesen, gerade jetzt in der INYT: „Voices from Afghans caught up in a worsening war“, 10.10.2016, S.7.

Klartext: wenn 50.000 Afghan*innen, darunter viele unbegleitete Jugendliche, abgeschoben werden, wird das für viele das Ende des Lebens oder ihrer Lebenshoffnung oder ihrer Emanzipation aus einem unerträglichen Lebensumfeld, oft schon jahrelang im Iran oder Pakistan,  armselig, oft als Minderheit bedroht, bedeuteten.

Was mit diesen Heimkehrern geschieht, ist ungewiss. Familien, die viel Geld in die Flucht investiert hatten, werden enttäuscht oder feindselig sein; Familien, die froh sind, ihre Angehörigen wieder zu bekommen, werden jedenfalls nicht besser leben als zuvor; wer abgeschoben wird, wird in die Arbeitslosigkeit, im Falle vieler Hazara und anderer Minderheiten auch in die Stigmatisierung geführt. Und wer politisch denken kann, wird die Verantwortung der Deutschen für dieses unnötige Drama erkennen – vielleicht wird das auch eine Gefahr für die wenigen Deutschen in Afghanistan, die aus ihren Bunkern dürfen. (Dieser Aspekt wird auffällig standhaft geleugnet, ich möchte nicht Recht behalten).

Von wegen sicheres Herkunftsland: es gibt keinen Ort im Land, der vor Anschlägen geschützt ist. Die Deutschen beurteilen meist die Lage aus den Sehschlitzen ihrer Hotelbunker oder den Treppenaufgängen gesicherter Ministerien (beide sind auch nicht wirklich sicher). Natürlich wird nicht jeder, der sich vernünftig bewegt und die Umstände erkennt, immer und sofort ermordet oder entführt. Erös vergleicht das mit den Verkehrstoten in Deutschland. So denken Realpolitiker ohne Moral und Verstand. Aber für die Abgeschobenen besteht Lebensgefahr, mehr noch als für die, die im Land leben.

Antithese

Es ist richtig, so viele Afghan*innen wie möglich abzuschieben, wenn sie keinen Anspruch auf Asyl oder Duldung haben (und dass die nicht zu viele werden, dafür kann man, wie man täglich sieht, sorgen). In Afghanistan herrscht der Normalzustand aufgegebener intervenierter Staaten: die Intervention (Besatzung, Militäreinsatz) hat ihre Ziele weitgehend verfehlt, jetzt haben die Lokalen die Verantwortung. Und aus der Haftung haben wir (die Intervenierenden insgesamt) uns doch mit hunderten von Milliarden Dollars herausgekauft (selbst wenn man militärische Ausgaben und Selbstschutz abzieht, bleibt eine gewaltige Summe).

Wir verkennen nicht, dass die Lebensumstände in Afghanistan nach wie vor schlecht sind, dass die Regierungsführung trotz aufwändiger deutscher Projekte nach wie vor nichts taugt, aber wo auf der Welt ist das anders? Man kann Deutschland nun wirklich nicht vorwerfen, dass es bei den humanitären und technischen Hilfen geknausert hätte; dass die Regierungen in Kabul weder Beratung noch Geld bekommen hätten, um ihre Governance, ihre Regierungsführung zu verbessern. Das müsste doch auch den aus Deutschland mit einem Reisepakt versorgten und stabilisierten Schubhäftlingen zugute kommen, die ja vielleicht sogar der darbenden Wirtschaft Afghanistans einen Impuls geben können. Eine Analyse der sozialen und kulturellen Kapazitäten der ankommenden Afghan*innen wäre dringend notwendig. Damit könnte man genauer auf den ambivalenten Wunsch der Regierungsmehrheit in Kabul eingehen, sehr wohl Abgeschobene zurückzunehmen und in eine wirtschaftliche Dynamisierung zu integrieren (und zusätzliche Leistungen zu erhalten). Und Maizière, Erös und andere Fachkundige wissen, von den Geheimdiensten und der Botschaft instruiert, wo es sicherer ist als anderswo, wo es unsicher ist und wohin man ruhig abschieben kann. Ich weiss es doch selbst…und Anschläge gibt’s bei uns auch.

Wenn wir die Afghanen abschieben, können wir den wirklich Hilfsbedürftigen besser helfen, und es wird ja schon geredet, dass man auch nicht alle Syrer behalten muss. (A8ußer denen, die in Sachsen die Aufgaben der deutschen Polizei erfüllen, so nebenbei).

Politik

Der Konstruktivismus lässt politische Entscheidungen nach normativen Maßstäben aktiv werden, die nicht einfach an der Oberfläche der Welt erkennbar sind, sondern gewollt eine bestimmte Richtung einschlagen. Z.B. Abschreckungspolitik, z.B. humanitäre Interventionen, z.B. menschenrechtsbasierte Außenpolitik usw. Es wird konstruiert, was nicht einfach aus der Situation und den Machtverhältnissen gefolgert wird, die ohnedies anarchisch und nicht geordnet erscheinen. Soweit für den Beratungstisch. Afghanistan war und ist eine Katastrophe in der Umsetzung an sich sinnvoller und vertretbarer politischer Aktionen. Nicht die Intervention hat die Katastrophe bewirkt, sondern die Fehler und Versäumnisse, die in ihrer Umsetzung und Politik bis heute geschehen. Deshalb ist der Abschiebungsdeal so unfassbar schäbig, weil er diese eigenen Versäumnisse damit zu tilgen scheint. Aber nichts bleibt auf Dauer verborgen.

Viele Afghan*innen sind keine Flüchtlinge, sondern Migrant*innen aus Not und Zukunftslosigkeit, viele flüchten nicht vor dem, was ist, sondern vor dem, was kommt.

Synthese

Der Deal Geld für Abschiebung ist dann ein Skandal, wenn man moralische und auch praktische Maßstäbe an Politik anlegt. Bezogen auf eine Beruhigung der deutschen Hysterie ist der Deal gut, weil er die bedenkt, die bei jeder Meldung über afghanische Krakeeler, Rechtsbrecher und Unangepasste auch ihr Unverständnis für das deutsche Engagement bestätigt sehen (für dieses Engagement habe ich selber mehr als zehn Jahre eher regierungsfreundlich gedacht und geschrieben, auch gearbeitet…).

Ein Versäumnis der deutschen Regierung: die Diaspora wurde nie ernsthaft in die Flüchtlingspolitik einbezogen. In den Ministerien weiß man über sie zu wenig und nicht immer das Richtige; die Kommunikation zwischen Asylbewerber*innen, Flüchtlingen, Migrant*innen und der afghanischen Bevölkerung wurde nicht tragfähig ausgewertet; hier könnte multikulturelle, friedensfördernde Kooperation liegen, die auch Rückkehrende vom Stigma der Deportation und Abschiebung ins Unerträgliche befreit.

Die deutsche Regierung haftet für genau die Lebensumstände mit, die es eigentlich verbieten, auch nur eine Afghan*in abzuschieben.

Nachsatz: das gilt natürlich auch für das gerade entdeckte „Afrika“ (das ist kein Land, sondern ein Kontinent, bitte).

Radikalisierung, Jihad & Europa

Dies ist ein Tagungsbericht von einer hilfreichen und gut platzierten Konferenz in Brüssel, die auch unaufdringlich zeigt,welche Programme und Vorstellungen die Europäische Union zum Thema Terrorismus oder auch „Radikalisierung“ entwickelt (hat) und welche Perspektiven sich für die Forschung ergeben. Intellektuell durchaus anregend und ohne große Hierarchien der Vortragenden – wenn man die ständige und aufmerksame Anwesenheit von Gilles Kepel ausnimmt, der nun auch eine besondere Rolle in diesem Themenbereich spielt – hat die Tagung Blickwinkel erweitert. Sie hat auch ein Problem deutlich gemacht: die Fixierung und Konzentration auf den Jihad, also eine Facette des Islam.Aus aktuellem Anlass – IS, Taliban, Paris, Brüssel, … – ist das verständlich, aber ein wenig verkürzt. Die Frage nach Radikalisierung in und durch RELIGION und nicht in und durch eine bestimmte KONFESSION, wurde nur sehr am Rande angesprochen. Aber immerhin: es war wieder so ein Tag, an dem man über die Europäische Union und die Leichtigkeit, mit der sie Expert*innen aus vielen Mitgliedsländern zusammenbrachte, froh sein konnte. Also

ADDRESSING TERRORISM – European Research in social sciences and the humanities in support to policies for Inclusion and Security.

Eingeladene Tagung in Brüssel, organisiert durch DG Research and Innovation, Unit B.6 Open and Inclusive Societies

Brüssel, 26.9. 2016

Anlass war die Vorstellung der Policy Review durch Gilles Kepel und Bernard Rougier, die im Auftrag der DG einen Bericht zum Forschungsstand verfasst haben. (Kepel/Rougier 2016). Die eingeladenen Panelisten haben vor allem Berichte und Programme der von der EU geförderten Forschung zur Terrorsimus, religiöser Gewalt und aktuellen islamistischen Aktivitäten vorgelegt. Alles stand unter dem Stichwort RADIKALISIERUNG.

Unter den ca. 100 Teilnehmer*innen war ich offenbar der einzige aus Deutschland.

Ich werde hier die Review nicht wiedergeben, sie ist hochkondensiert und gibt die Forschungslinie von Kepel weitgehend wieder (seine Kontroverse mit Olivier Roy wurde am Rande angesprochen, der ja nicht-religiöse Legitimation für Gewalt in den Vordergrund rückt; Kepel und Rougier erklären den Jihad durchaus auch mit soziologischen, kulturellen und lebensweltlichen Erfahrungen, aber nicht ohne die Religion als Ausgangspunkt bzw. Katalysator). Die meisten Panelbeiträge waren forschungsbasiert, die Daten bzw. Dateien werden zur Verfügung gestellt. Die folgenden Überlegungen sind eine erste Reflexion von Inhalten und Format der Tagung:

Über das Leitwort Radikalisierung gab es zu Recht einige Diskussion, die auch auf unterschiedliche Sprachgebräuche und Diskurse hinweist. Im Französischen und im „republikanischen“ Kontext bedeutet R. eher positiv konsequente Verfolgung von Ideen, was besonders von Keridis hervorgehoben wurde. Kepel verwendet den Begriff eher indikativ für eine übersteigerte Transgression, einen Bewusstseinszustand. (Das verwundert, wird aber klar, weil er den Begriff letztlich auf den Islamismus und seinen Diskurs verengt). Kritik: die Abgrenzung zum Extremismus fehlt. Konkret wichtig: Nicht alle Jihadis sind radikal, viele sogar „konservativ“ oder retro-positioniert. Von hier wichtige Brücke zu Analogien mit der neuen extremen Rechten (Inta Mierina, MYSPACE Untersuchung zur europ. Rechtsextremisten). Methodisch nehmen die Jihadis oft Rhetorik und Systematik der Linken (1960-80) in Anspruch, aber mit zeitgenössischer Repräsentation in den sozialen Medien.

Zu überprüfen das Phasenmodell Kepels: Das große Scheitern des Jihad im 8. Jh (Tours&Poitiers) und 1683 (Wien); zwei in jüngster Zeit gescheiterte Phasen des Jihad (in der Region und far enemy (USA); dritte Phase maßgeblich von internationalen Jihadis nach dem Erfolg in Afghanistan 1989 (Abzug der SU, Berliner Mauer) eingeleitet: nun wird Europa (mittlere Reichweite) zum Zielgebiet. Europa als

„weiches Einfallstor“ gegen den Westen zeigt bestimmte Analogien mit Houellebecq (FAZ 27.9.2016), aber andere Intention. Mir ist aufgefallen, wie Symboldaten analog zur Drei-Reiche-Theorie verwendet werden (Anschlag von Toulouse 2012 u.a.). Lohnt zu überprüfen.

Die Medien spielen noch eine wichtige Rolle in Kepels zentraler These von der vaterlosen Jugend – nicht nur der Jihadi-Familien, sondern auch im Rekrutierungsfeld der Konvertiten. Peers ersetzen den Vater (père), vermittelt über die Medien, dezentral (anders als bei Al Qaida). Dem stimme ich weitgehend zu: hier sollte man die Milieustudien von Pilkington (Manchester) verfolgen und sich stärker interdisziplinär, v.a. soziologisch und sozialpsychologisch befassen.

Rougier setzt zurecht auf Kontextualisierung, die Gefahr von Vergleichen mit früheren Phasen der politisierten/enden Religion (Text-Reinheit, Fundamentalismus immer unter dem Aspekt von „Verrat“, der auch aus der Marginalisierung folgt). Hier gibt es eine komplizierte Brücke zum Schutzraum Religion und der Selbstaufgabe in der dogmatischen religiösen Praxis. Mit der kontextarmen Dogmatik wird eine „irrational choice“ getroffen.

Weil die jihadistischen Narrative (aus Religion) nicht alles abdecken, was man zur Praxis braucht, werden Leihnarrative, v.a. die Kolonialgeschichte, Jugend- und Sozialstrukturen herangezogen (Kepel). Das ist m.E. richtig und zielt auch auf die Auseinandersetzung mit Roy).

Für das Verständnis der muslimischen Radikalisierung wäre es hilfreich gewesen, religiöse extremistische Bewegungen und Politiken im Christentum und im Judentum kontrastiv aufzuzeigen (Beispiele: Ermordung von Izhak Rabin, Pegida, Identitäre…).

Ich empfand drei große Defizitbereiche:

  • Keine Diaspora-Diskussion (habe ich angemerkt, wurde positiv aufgenommen, ich bleibe da dran);

  • Keine Diskussion über den Körper (aus religiöser, aber auch persönlicher Perspektive: hier sterben meist junge Menschen, hier gibt es komplizierte sexualisierte Anwerbeversuche, hier wird Gender politisiert: eine Menge auch symbolischer psychischer Dispositionen)

  • Keine Diskussion der Differenz von religiös unterlegtem Staatsterror und Terrorismus. Das ist diplomatisch verständlich, aber im Kontext nicht zu rechtfertigen.

Mit allen drei Bereichen verbinde ich defizitäre Wahrnehmung der Heimatdiskurse und der daraus entstehenden Bias.

  • Ich habe eine Methodendiskussion angeregt, weil viele der Forschungsprojekte empirisch arbeiten und schon auf Gebieten tätig sind, die teilweise bei uns nur sehr partiell bekannt

Die wichtigsten EU Projekte sind RAN, IMPACT Europe, EURISLAM, RELIGARE, ReligioWest, MYPLACE, EuroPublicIslam, CITYSPICE, SAFIRE und PRIME.

Mein positives Resümee ist die Ernsthaftigkeit, mit der Sozial- und Kulturwissenschaften zu transdisziplinären Forschungen und auch quantitativen Grundlagen aufgefordert werden und wie vielfältig die Forschungsansätze der entsprechenden DGs sind, oft auch nicht so gut koordiniert.

Wenn ich die Dokumente erhalte, können sie bei mir abgefragt werden.

Die Review von Kepel und Rougier findet sich als PDF unter KI-02-16-450-EN-N, ISBN 978-92-79- 58268-4

2 Euro, 5 Euro …

Das Kindergeld wird in den nächsten Jahren in vielen Fällen um 2 Euro bzw. 5 Euro angehoben. Damit bleibt es im Zeitraum von fünf Jahren sogar unter niedrigen Inflation.

Karl Kraus hat in seiner „Fackel“ oft bizarre Meldungen unkommentiert stehen lassen, weil damit keine Ironie die Wirkung dieser Nachrichten überbieten hätte können.

Man schämt sich ja, wenn man bei einer Rechnung von über 10 € nur 5 Cent Trinkgeld gibt, oder einem Bettler weniger als dies in den Becher wirft. Wir sind unserer selbst so gern  zugeschriebenen Grosszügigkeit „Mindestbeträge“ schuldig. Das ist übrigens gar kein schlechtesRegulativ, um nicht vor sich selbst lächerlich zu erscheinen, auch wenn das Motiv nicht so ganz strahlend ist.

2 Euro. Bestenfalls zwei Kugeln Eis, meist reicht es dafür nicht. Anders als bei der Beschaffung von Kampfgerät für die Bundeswehr oder bei der Stützung von Aktionären im Bankensektor sind Kinder nicht systemrelevant.

Ich halte nichts von dem modischen „Fremdschämen“. Aus Kritik kann Ablehnung, Widerstand, Resignation kommen…Scham für jemand anderen zu entwickeln, setzt schon eine besondere Anthropologie voraus, die zugleich aber eine Verbindung zum Beschämten, zum „zu mit-Beschämenden“ herstellt, für die man sich nicht schämt, sondern schlicht dreckig fühlt. Auch das ist hintegründig, weil es nicht ausschliesst, wie nah dem Grund für das Schämen selbst sein könnte; oder eben ganz weit davon ist.

Schäuble, Nahles, Gabriel, sie und viele andere werden biographisch so modelliert, dass sie gerade keinen Platz bei den ererbten Eliten haben, so kommt man an sie nicht ran. Nein, diese Menschen handeln nicht bösartig, sondern aus erfahrungsgesättigter Reflexion.

2 € Kindergeld sind ein Symbol dafür, dass der moralische Diskurs wirklich an der Macht abprallt.

Dennoch wird dieser lumpige Betrag, der den Kindern nichts, aber auch gar nichts nützt, sich jährlich auf hunderte Millionen Steuergelder summieren und plötzlich systemrelevant für die Herrn der schwarzen Null erscheinen. Das wird dem Volk auch nicht passen. Aber schämen tut es sich auch nicht, dazu sind die Beträge zu klein.