Paris Bahnhofsviertel

Am letzten Wochenende war ich zum zweiten Mal in der Ausstellung der Impressionisten der russischen Brüder Morozow im herrlichen Gehry Bau des Vuitton Museums am Bois der Boulogne. Dazu kommt wahrscheinlich noch ein längerer Blog der Nacharbeitung. Hier ein paar andere Eindrücke: Die Franzosen nehmen die Covidkontrollen sehr ernst, in jedem Lokal wird ordentlich kontrolliert und nicht gemotzt. Ankunft und Abfahrt waren durch keinen Pofalla getrübt, also pünktlich, und die Bahnhöfe sind wenigstens zur Gänze regenfrei. Darüber will ich aber gar nicht schreiben, auch keine Vergleiche ziehen, das machen sowieso die Meisten.

Zwei Erlebnisse hingegen machen uns so schnell keine anderen Besucher nach. Nahe unserem Hotel, eine Gebäudereihe hinter der Einfahrt zur Gare de l’Est, am ansteigenden Schüsselrand der Stadt, der sie so kompakt wie übersichtlich macht, also nahe dem Hotel ein Gebäude im typischen neo-palais-artigen Stil des 19. Jahrhunderts, Pompiers, eine frühere Feuerwehrkaserne. Jetzt ein Kulturzentrum, ähnlich dem Potsdamer RZ, nur eben in einem alten Gebäude und in Paris. Mit einem imposanten Innenhof und großen Binnenfenstern, sodass man schon gut sieht, was sich da alles tut. Unter anderem ist gegenüber dem Einfahrtstor ein Restaurant. Von außen normal modern, verglast, auffällig nur, dass keine Speisekarte ausgehängt ist…wir gehen auf unserer Tour weiter und stoßen auf den Namen des Restaurants erst bei der durchforstung der digitalen Stadtpläne, wenn man einaml nicht französisch, nicht indisch, nicht vietnamesisch, nicht…etc. essen will, sondern – ja was? vegetarisch, aber vielleicht nicht ethnisch bestimmt. Und stoßen genau auds Lokal „Ora“ in dieser Pompierkaserne. „Une table végétarienne et festive comme on en a jamais vu à paris“ ​Nina V. Das haben wir natürlich nicht gelesen: „Une table végétarienne et festivecomme on en a jamais vu à paris“​Nina V. Die Bilder im Internet sind auch schön, aber die Realität noch spannender. Wir waren etwas früh (19.00) und gerade einen Tisch haben wir noch ergattert. Ausgelegt mit dünnem, fettabweisenden Packpapier sind die Tische großzügig, kerzenbeleuchtet. Die Inneneinrichtung des Lokals zu beschreiben führt automatisch zu einer Diskussion über Retrokitsch der 70er-Jahre, Verwendung gerade vorhandener Glasflaschen und von Staubfängern, deren Reinigung noch nicht ansteht (bunte Palmwedel). Eine sehr freundliche Influencerin erklärt uns das Prinzip des seit zwei Wochen offenen Lokals: Jeden Tag ein neues vegetarisches Menu, nur eins, und also hat man keine Auswahl. Guter offener Wein, in der Tat, die Bordeaux sind preiswert und sehr gut; wir fragen zwar nach dem Preis (44 € pro Menu), aber der passt zum Niveau des Zentrum, also: was kommt jetzt? Drei Gänge vegetarisch, ein Gemüseberg mit Saucen und Kräutern und Nüssen und und und wird auf den Tisch gekippt, dazu ein dunkler Laib Brot, und der Chef mit dem Sous-Chef-mit dem Sousous-Chef tanzen, wie bei jedem Gang, um das Essen Ballett, da kommt noch Pfeffer drauf, und hier Öl und dort Gewürz, nur beim Salz bedient man sich eines kleinen Häufchens auf dem Papier. Was eben am Markt heute morgen frisch war, Selleriensauce mit Spinat zum Beispiel, Hummus gerade komponiert…Das Hauptgericht lauwarm oder kalt, auch hier Gemüse (Broccoli, Karotten), aber auch eine sehr große, sehr heisse Ofenkartoffel, mit Creme gefüllt und benusst…seltsam, man wird von diesen leichten Dingen trotzdem satt, aber da kommt zum Abschluss der Bratapfel, ein Berg Kuchenkrümel und eine Mousse au chocolat vom allerfeinsten…uff. Viel und gut, zum langsamen Essen. Am Nebentisch ein Mensch, den wir lange Zeit als Restaurantkritiker eingeschätzt hätten, so beobachtet und notiert er rundherum, nach einer Stunde kommen bekannte, und dann wird gefeiert. An den andern Tischen immer mehr Menschen, die genauso essen wie wir. Die sehr laute Retromusik soll offenbar die Gespräche an den Tischen für sich halten. Beim Hinausgehen fragt uns ein Sicherheitsmann, wo wir denn unser Auto haben…erstaunt, dass wir zu Fuß weggehen, denn die Menschen hier kommen nicht aus dem Bahnhofsviertel. Wer weiß, wann man den Hotspot in den Gourmetrubriken der Magazine findet…Gentrifizierung beginnt mit dem Magen.

Das andere Erlebnis ist nicht so deutlich zu beschreiben. Es besteht aus meiner Erinnerung, vielfach überbaut. In den 1970er Jahren, genau 1970-1974, war ich mehrmals im Jahr beruflich für das Wissenschaftsministerium als österreichischer Vertreter in verschiedenen Kommissionen der OECD und des Europarates (weil ich Französisch gesprochen habe, nu, das hat sich ausgezahlt). Und dabei habe ich nicht nur, aber vor allem ganz andere Stadtviertel kennengelernt – und meine Zeit natürlich zu Entdeckungsreisen in die und in der Stadt genutzt. Erinnerung als Erlebnis: dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie ich mit knapp über 20 dazu gekommen bin, das zu machen – zu verhandeln, Hochschulpolitik europäisch und Interessen österreichisch zu vertreten, und noch nicht einmal zu verstehen, was wie hier vor sich ging. Was geblieben ist, neben der beruflichen Erinnerung, bleibt das Gedächtnis der Stadt. Bestimmte Straßen, Schaufenstergestaltung, Aufschriften, Klassenschranken, und endlose weite Gänge, um Arbeits- und Besuchspausen zu überbrücken. Wenig Lust aufs Quartier Latin, auch auf die großen Museen, das kam erst später. Jetzt kommt keine erinnerung an die Erinnerung, dazu könnte ich meine Tagebücher öffnen; das Erlebnis von Paris ist, dass ich es mir gemerkt habe, anders als z.B. London oder andere Städte, unabhängig davon, wie oft ich dort war. Anamnesis, Wieder-Erinnern=Erkennen. Diesmal – und vor ein paar Wochen, als ich mit einem Freund den Christo verpackten Arc de Triomphe und die Morozow-Ausstellung das erste Mal besuchte – kam wieder, was gut verpackt bereit gelegen hatte, nicht auf dem Bord der abgelegten Lebensalter verstaubend. Kann es sein, dass die wenig verdeckte Realität postkolonialer Bevölkerung – alle Farben, alle Geschlechter, alle Habitus, und oft streng nach Stadtvierteln und Häuserblöcken separiert – einem die stereotypen Engramme von Klassen- und Politikanalyse an den Rand rücken lässt. Es ist einfach herrlich, eine solche Stadt mit Radfahrern und E-Rollern stärker als mit PKW befahren zu sehen (stimmt natürlich nicht, aber relativ, und in vielen Bereichen geht es sich besser). Und es holt einen aus der übertriebenen Romantik herunter, wie krass die sozialen Grabenbrüche zutage treten, unverkleidet, und nicht nur in den Bahnhofsvierteln. Ein wenig erinnern auch die Wohnstraßen der Oberschicht an die Vorstellung von Kulissenstädten, Vorbild für Potsdam. Mir ist aufgefallen, dass ich nichts einkaufen will und es auch nicht mache; dass kein Wiedererkennen eine Wiederholung anbietet, als würde ein Stadtführer Weitergehen, Weiterschauen verordnen. Das ist es, der übermäßige Reichtum, besser, die Reichhaltigkeit, lässt keine Privatsammlung an Details zu. Vielleicht es ist esd ganz einfach. Die Stadt war nicht zerstört, da steht noch alles oder es ist zerfallen oder es ist neu.

Impfen, zum STEINER weichen…

Kafka sprach zu Rudolf Steiner:
»Von euch Jungs versteht mich keiner!«
Darauf sagte Steiner: »Franz,
ich versteh’ dich voll und ganz!«

Steiner sprach zu Hermann Hesse:
»Nenn mir sieben Alpenpässe!«
Darauf fragte Hesse Steiner:
»Sag mal Rudolf, reicht nicht einer?«

Steiner sprach zu Thomas Mann:
»Zieh dir mal dies Leibchen an!«
Darauf sagte Mann zu Steiner:
»Hast du’s auch ‘ne Nummer kleiner?«

Robert Gernhardt: Gesammelte Gedichte 1954 – 2006

So unbekannt war Steiner also nicht. Und wenn jetzt in den Medien berichtet wird, wieviele Impfgegner unter den Anthroposophen sind, belebt das die Erinnerung an den Gründer dieser Zweigreligion der gebildeten Mittelschicht.

Was hat die Anthroposophie mit der großen Impfskepsis in Baden-Württemberg zu tun? (SWR 21.10.2021); eine bedenkswerte, wahrscheinlich unvollkommene These vertritt der Antisemitismus beauftragte und Religionswissenschaftler Michael Blume:

Andererseits gibt es historisch eine starke Verbindung zu Verschwörungsmythen. Zum Beispiel zum Antisemitismus: der Austrofaschismus, der italienische Faschismus ab 1919 in Mailand. Die NSDAP entsteht in Bayern. Oder die Anti-Impf-Bewegung. Die Salpeterer-Unruhen im heutigen Baden-Württemberg im 19. Jahrhundert richteten sich gegen die Pockenimpfungen, auch in Tirol gab es Aufstände gegen das Impfen. Dazu kommen noch die esoterischen Bewegungen, zum Beispiel die Anthroposophie. Die erste Waldorfschule entstand in Stuttgart. Oder schauen Sie sich ganz aktuell die Wahlergebnisse der Querdenkerpartei „Die Basis“ an: Die besten hat sie im südlichen Bayern und im Bodensee-Raum.(SZ 19.11.2021). Er führt das auf die kulturautonome Aversion gegen den Zentralstaat zurück. Bedenkenswert, wohl nur Ansatz zu weiterführenden Studien im ethno-geo-kulturellen und nicht im polit-ökonomischen Raum.

Aber man sollte unbedingt auch lesen: Waldorfschule und Impfgegner In Steiners Sekte

Ein autobiografischer Essay von Tobias Rapp (https://www.spiegel.de/kultur/waldorfschule-und-impfgegner-in-steiners-sekte-a-8242889d-190f-479f-bf6d-a22ccab54013). Warum unbedingt? Das gilt auch und nicht nur für mich, weil ich, ohne Waldorfschule, teilweise im anthroposophischen Umfeld aufgewachsen bin und viel von sektenaffinen und sektenskeptischen Seite mitbekommen habe, auch viel Weleda und vor allem ein Bücherregal voll Steinerliteratur. Rapp ergänzend – ein großer Teil von Steiners Werken ist aus der intellektuellen und psychosozialen Situation der Welt vor 100-120 Jahren zu erklären; verstanden hat man immer nur die Hälfte, aber die Vermischung von Wiedergeburt, östlicher Weisheit, Gnosis, lebensphilosophischer Privatisierung und mehr noch war damals anziehend, und nach der Sektengründung auch ein gewisser Protest gegen den Stillstand der beiden großen christlichen Kirchen, Protest, der im Gottesdienst der „Christengemeinschaft“ diese peinlich nachgeahmt hatte.

Ich hatte also viel gewusst, das jetzt, über 60 Jahren wieder hochkommt. Impfgegnerschaft gabs in meiner Apothekerfamilie nicht. Aber sonst eine Reihe von Dingen, die Rapp aufzählt, andere und vielfältige, vor allem widersprüchliche. (Die wenigen Steinerianer, die ich jetzt, eher zufällig kenne, sagen dazu natürlich nichts, und die offiziellen Stellungnahmen winden sich).

Man kann das alles auch von einer ANDEREN: EHER COVID-FERNEN Seite sehen: bestimmte Sekten, die nicht Zivilreligionen sein wollen, versuchen zu beeinflussen (Influencer!) durch eine Mischung von rationalen und esoterischen, traditionellen und hyperrealen Elementen, die die Geschichte der Steinerianer, ihre politischen Affinitäten, ihre Förderer und Kritiker eher rauslassen und dafür aktuell sich anbieten: mehr oder weniger gute Kosmetik, mehr oder weniger kluge Pädagogik – der Übergang in die andere, wirklichere Realität, ist für viele SchülerInnen nicht ganz einfach, aber auch nicht ganz falsch, was z.B. den ästhetisch körperbetonten Aspekt betrifft, geht zurück nach 1900! – und: man muss sich ja nicht Steinerschen Theologie, pardon: Anthroposophie und ihrer Geheimwissenschaft anschließen (Vgl. Die Geheimwissenschaft im Umriss (Rudolf Steiner 1910, Taschenbücher aus dem Gesamtwerk). Aber geht einmal ins Internet, die Zahl der angebotenen Schriften ist beachtlich: Unter „Steiner Geheimwissenschaft“).

Ich konnte später die Form distanzierter Anerkennung bei den mir bekannten Anthroposophen analysieren; sie haben durchaus die Rolle der Religion (glauben konnte man so einen Quirl ja nicht) als sozialer Instanz, die „Gemeinschaft“ fördert, studieren wollen – und man hatte es leichter, schwer zugängliche Quellen der Gnosis und der Ägypter und Inder bereits aufbereitet zu finden.

IMPFGEGNER? Vielleicht. Nicht viel anders als aus anderen Quellen berufen sich viele Impfgegner und -skeptiker auf eine Vorstellung der Eingriffsmöglichkeit spiritueller Kräfte UND eines gesunden oder asketischen Lebenswandels. Das ist nicht weit von den bürgerlichen mittelständischen, oft gebildeten, Zivilreligionen entfernt. Hat mit Steiner nicht so viel zu tun. Den kann man geistesgeschichtlich in der Schublade: vergangen und weitgehend vergessen, rubrizieren. Und seine kosmetischen und pädagogischen Nachwirkungen mit Skepsis nachverfolgen.

Immerhin merkt ihr, es hatte einen gewissen Einfluss auf meine Jugend, zum Missfallen der Gläubigen habe ich es bis zur Kritik durchgehalten. Die kam dann nicht so gut an.

ABER bis heute: ich komme in einem meiner Forschungsprojekte oft in und durch die kleine Stadt Gloggnitz in Niederösterreich. Die hatte mit seinem Leben zu tun (1861-1925), und von dort zur Goetheausgabe, zum Goetheaneum, zu Demeter und Weleda war es sehr weit.

GEGEN IMPFUNGEN WAR ER NACHWEISLICH NIE….nur so nebenbei.

Mit Gegnern reden macht sie nicht zu Freunden

Merkt denn niemand etwas? Die vehemente Unterstützung für Polen im Abwehrkampf gegen wehrlose Flüchtlinge wird dazu führen, dass die angedrohten, ohnedies schwachen, Strafmaßnahmen gegen polnische Rechtsbrüche und Menschenrechtsverletzung nicht angewendet werden, solange es um Flüchtlinge geht. Die EU Außengrenze als Grenze der Humanität.

Merkt denn niemand etwas? Die vehemente Kritik an Lukashenko, und damit an Putin, und damit an den Fluglinien aus Istanbul, und an der zynischen Schlepperpolitik, wäre auch dann richtig gewesen, wenn es nicht einen Flüchtling an der polnischen Grenze mit Ziel Deutschland gegeben hätte.

1:0 für Putin und den neuen Kalten Krieg. 0:1 gegen die Europäische Kälte gegen Flüchtlinge, Menschenrechte, Asyl. Merkt das niemand? Doch, einige, aber: was tun? Ist wichtiger als die Frage: Was nun?               

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Ich bezeichne die polnische Regierung als kleriko-faschistisches Regime, und das Regime in Belarus als wahlweise spätfaschistisch oder spätstalinistisch.

Begriffe sind nicht egal, aber totalitäre Regime folgen selten den untergeordneten Klassifikationsmerkmalen anteilsarmer Beobachter.

Polen wird als weniger diktatorisch als Belarus angesehen, zumindest in der Politik. Was die Bevölkerung beider Staaten angeht, sind die Unterdrückten in Belarus noch härteren Repressalien ausgesetzt als in Polen, wo sie der Unterdrückung effektiver begegnen. In Polen ist es noch möglich, durch demokratische Wahlen das Bündnis aus Faschisten, einem Teil der Kirche und den Populisten am rechten Rand zu beenden. Das kann auch das Ergebnis von EU Politik sein. Mit Donald Tusk kommt ja kein Linker ins Spiel, sondern ein liberaler konservativer Pragmatiker, muss nicht „unsere“ Linie sein, aber wenn wir Polen in der EU behalten wollten, dann müssen die Sanktionen gegen die Justizmissbrauch und die frauenfeindliche Gesetzgebung aufrecht erhalten bleiben, Belarus hin oder her. Dass die Deutschen Flüchtlinge aus Angst vor der AfD verrecken lassen, ist besonders peinigend – aber historisch nicht unerklärt.

Zu Polen heute: Die polnische Regierung hat die Unabhängigkeit der Justiz in den vergangenen sechs Jahren systematisch untergraben. Damit ist die rechtliche Integrität der EU in Gefahr. Von Dariusz Mazur (https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-11-12/page_2.500583/article_1.5461667/article.html): Das lässt Polen noch immer nicht mit Belarus, Putin und seinem Gulag vergleichen. (leider? Gotzeitank? das ist hier nur auf der Vergleichsebene von zwei Gegnern möglich).

Also erstens: keine Gleichsetzung von autoritären Systemen, und zweite Lektion: nicht an den Enden der Lieferkette von Menschenrechten oder Demokratie ansetzen. Die Ursache dafür, dass Geflüchtete aus allen prekären Ländern nach Deutschland wollen, und nicht nach Polen, Ungarn oder Bulgarien, ist leicht erklärt: das Sozialsystem und die Rechtsordnung in Deutschland sind gefestigter, humaner und belastbarer. Gegen ein scheinbar linkes oder radikal-demokratisches Argument: diese Tatsache ist unabhängig davon, welchen Anteil Deutschland an den Fluchtursachen und – gründen hat. In einigen Fällen sind wir außenpolitisch arg in der Verantwortung, in anderen weniger – nehmt nur alle beteiligten Länder, dann wird diese Dialektik bei der Türkei besonders deutlich, aber auch direkt in Afghanistan, weniger deutlich dort, wo unsere Wirtschaftspolitik sich gegen die autoritären Systeme nicht wirkungsvoll durchgesetzt hat, und ganz und gar undeutlich dort, wo wir nur ein indirekter Player sind. Das muss aber egal sein, wenn es um erfrierende und hungernde Flüchtlinge geht. Hier  in Deutschland: Aufnehmen, Asylansuchen bearbeiten, verteilen, zurückschicken oder hier behalten. Dafür gibt es Regeln, die man auch im negativen Ergebnisfall einhalten kann und soll. Das gilt für die gesamte EU. Lassen wir uns doch nicht von den kleinen miesen Diktatoren in der EU auf der Nase herumtanzen, wenn es um die Abwehr der größeren und gefährlicheren geht.

Natürlich ist der Umgang vor allem mit Polen, Ungarn schwierig. Nur mit Druck oder Geldpaketen wird der Konflikt weder in noch außerhalb der EU gelöst. (Mit Verlaub, als wir die exkommunistischen Länder in die EU aufgenommen haben, war dies auch ein Argument jenseits des erfolgstrunkenen Triumphs des Westens). Und bei Lukashenko kommt man nur mit Russland und der Türkei an die Macht heran: Wenn wir Belarus politisch isolieren, müssen wir zugleich an der Basis, die ja demokratisch ist, etwas riskieren: nämlich dort agieren. Das gilt für Russland noch viel stärker, wo gerade an Memorial ein stalinistisches Verbrechen verübt wird, ähnlich wie bei Nawalny. Nun wird dem entgegengehalten, dass man mit dieser Bezeichnung ja den Dialog unmöglich mache. Falsch: Runde Tische haben immer nur funktioniert, wenn man die schlimmsten Gegner auch am Platz hat (wenn man sie ausschließt, wie bei Afghanistan 2001, sieht man noch Jahrzehnte später die Folgen). Mit Gegnern reden, wischt ja nicht vom Tisch, dass sie Gegner sind.

So neo lieber nicht

Nathan Gardels, Noema Editor-in-Chief:

While our species, unique in its capacity to envision a future and plan its behavior, stumbles toward climate action in the misty precincts of Scotland this week, the rest of nature can’t wait. It is moving on in evolutionary resilience, one organism at a time, flexibly adapting to human-induced planetary warming.

This capacity to conjoin “urgency” with “agency,” biologist Thor Hanson writes in Noema, is a lesson humankind needs to learn sooner rather than later if it is going to either avoid the tipping point of no return in despoiling our only livable biosphere, or figure out how to survive after the fact.

“In nature, the responses of individual organisms determine the fate of populations, species and entire ecological communities,” he writes. “The same pattern applies to society. Addressing climate change requires a fundamental cultural shift in our relationship with energy, from how we produce it to how much of it our lifestyles demand. That makes individual action more important, not less so, because it is the collective behaviors and attitudes of individuals that define and change a culture. Yes, we need stronger climate policies and strong leadership to carry them forward, but those things will be the results of cultural change, not the cause of it.”

                                                                                              (NOEMA, NOVEMBER 6, 2021 – Berggruen Institute)

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Ja, die Neoliberalen predigen die Verantwortung für sich selber, dann wird schon alles gut: schließlich willst du ja auch nicht, dass die Welt zu deinen Lebzeiten untergeht oder du stirbst vor der nächsten Dividendenausschüttung und Erbschaft…Und wie trägt man die Verantwortung? das weiß nicht nur der Lindner nicht, da haben sie Probleme, denn das gehört nicht zu den konkreten Dingen die man tut, und wenn diese Vorstellung revolutioniert ist, kann die Wirklichkeit gut standhalten: ich habe halt verantwortlich an dies und jenes gedacht. Greta Thunberg: Blablablah…richtig. Aber das Volk, das hörts gern, denn die „die“ nichts tun, dann brauchen „wir“ auch nicht so schnell zur Praxis greifen.

Geh ich aus dem Haus, stehen da die SUVs in Reihe. Geh ich an der E-Tanksäule vorbei, stehen da riesige Autos; nichts ist einfacher, als diese Klimadeppen zu kritisieren. Aber selber, was macht man selber? Trennt man den Biomüll vom Plastiksack, in dem man ihn gesammelt hat? Dreht man das Licht aus, jedesmal wenn man den Raum verlässt? Verzichtet man auf Rindfleisch wegen des CO2, und weniger weil die Tiere leiden? Wo kippt das eigene Verhalten in sektiererische Vorbildfunktion für all diejenigen, die einem ohnedies nie zuschauen?

Solche Fragen erlebe ich viel häufiger, als ich vor, sagen wir, zehn Jahren, noch gedacht hätte. Oft gibt es leichte, folgenarme Kontroversen unter Freunden – Mülltrennung, Müllvermeidung, das gehört genauso zum Lebensstil wie Kleidungsstoffe, Möbel aus Naturholz, und immer wieder essen.

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Trivial? Alle schimpfen auf die zögerlichen, heuchlerischen Politiker, die in Glasgow nichts wirklich praktisches vereinbaren, die ausmalen, was wir alle wollen, aber nicht entscheiden, was sie tun wollen, wenn sie es können, und was sie können, d.h. wenn sie die Widerstände brechen können und nicht mit Rücksicht auf sie faule Kompromisse machen.

Dies alles ist bekannt, also spinnt diesen Faden weiter und kommt zu den richtigen politischen Schlüssen. Mich beschäftigen noch einige andere Aspekte des gleichen Phänomens: da geht es nicht ums Klima, sondern um Corona, und auch hier wird der Kompromiss mit den Leugnern, Verschwörungsrechten, Verweigerern, Egoisten – leider auch mit den Dummen und Uninformierten, schon angeboten, bevor er verlangt wird. Und auch hier muss man die obige Frage, ob das Verhalten, also die Lebensführung, der Lebensstil die entscheidenden Variablen für das Kollektiv sind, durcharbeiten.

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Natürlich ist die Antwort: „Beides“ immer einfach naheliegend. Aber beides zugleich ist oft sehr schwierig und manchmal rechtlich unmöglich: z.B. individuelles gesundheitsschädigendes Verhalten durch Behandlungsverbote grob fahrlässiger Gesundheitsverweigerer zu steuern. Die Situation verbessern und Gerechtigkeit durchzusetzen sind oft gleichzeitig nicht möglich, und dann muss das Verbessern Vorrang haben, auch vor der Rechtsprechung, auch vor der ständigen Frage nach Schuld & Sühne. Das sage ich mir, und es geht mir nicht gut dabei.

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Das berühmte „…denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern“ (Rilke 1908) kann man gut zu Feiertagen sagen, aber worin das Ändern besteht, kommt nicht einfach aus „Archäischen Torso Apolls“, das heißt, es kommt schon daher, aber da ist erst einmal das Nachdenken, was es heißt, sein Leben zu ändern. Das kann einer allein anfangen, aber nicht fortsetzen. Welche Grenzen wir überwinden müssen, in der Familie, im engeren Umfeld, in der Politik, um auch nur eine Bedingung zu ändern, unter der wir leben, mit der wir so nicht weiter leben wollen… (ja, wir, jeder von uns, könnte sich da schnell umbringen, aber wenn wir nicht so weiter leben können, haben wir wenig Alternativen dazu, etwas zu ändern, das ist noch unser „Leben“, aber es gehört schon dazu, oder wir treten dem Verein der lebendig Begrabenen bei, was eine neoliberale Vorstufe der Hölle ist…

Politik fängt nicht bei der Politik an, sondern bei dir und bei mir, und das Ändern stößt schnell auf Widerstand, und wie man sich dann verhält, das kann entscheidend sein. Beim Klima, bei den Flüchtlingen, bei Corona, auch beim Beenden des Selbstbetrugs, dass es darauf, was man gerade unterlässt, ohnedies nicht wirklich ankommt. Wirklich? Noch einmal anders: man kann sich durchaus dauernd selbst denken, aber man kann nicht immer nur an sich selbst denken. Oder das Man sagt nie „ich“.

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Die Rücksicht auf die Grundrechte der Impfverweigerer, der Klimaverderber, die Vorstellung, man selbst könne die Grenze so einfach ziehen hat den Nachteil, dass diese Form der Selbstverkleinerung dem Großen Ganzen, dem Klima, der Gesundheit vieler, dem Überleben mehr schadet als der immer nur beschränkte Erfolg, den die Praxis von Einzelnen haben kann. Wir werden es nicht mehr erleben, weil wir schon mittendrin sind.

Impfen statt Schimpfen. Ich bin so frei

Ganze Bibliotheken, Studienpläne, Predigten und Kommentare nutzen den Begriff der Freiheit ab wie eine matt glänzende Türklinke. Ich bin so frei…wenn jemand ungebeten ein Zimmer oder einen Körper betritt.

Die Impfverweigerer berufen sich auf ihre Freiheit, und die politischen Schmalhirne nehmen das hin, weil sie zwei Irrtümer dogmatisieren: erstens sei es das Grundrecht eines Menschen, über sich selbst zu entscheiden – das ist ja schon beim Rauchen problematisch, aber dort ist die direkte Ansteckung wohl geringer als bei Covid. Zweitens würden die Einschränkungen, die Ungeimpften angedroht und selten verwirklicht werden, das Risiko der Infektion weit übersteigen.

Reflektierte Liberale würden hier auf die die Verantwortungsfähigkeit von Skeptikern und Verweigerern hinweisen: die werden sich schon impfen lassen, wenn sie überzeugt sind. Dass mittlerweile mehr Menschen sterben als notwendig, nehmen wir im Namen der Freiheit in Kauf.

Die Medien sind voll von allen Varianten des Freiheitsgemurmels, nur weil die Regierungen nicht konsequent handeln und jede Partikulargruppe mit ihren partikularen Interessen sich relative Standortvorteile sichern möchte, – nicht selten im Namen von Freiheiten und Grundrechten.

„Irgendwas muss getan werden, das wird in diesen Tagen immer deutlicher. Aber was? Während der Bund vor einem Jahr noch ohne große Proteste einen Lockdown durchsetzen konnte, ist die Situation mit Geimpften und Ungeimpften heute sehr viel vielschichtiger. Ratlosigkeit und Angst vor neuen Zumutungen mischen sich unter die vielen Stimmen, die sich jetzt melden.“ (tagesspiegel, Morgenlage 3.11.2021)

Das schreibe ich nicht, um eine philosophische Debatte aufzumachen: kann ich gar nicht, bin auch zu müde, – und zu beschäftigt z.B. mit afghanischen Flüchtlingen, meiner Lehrveranstaltung und anderen naheliegenden Problemen. Ich ärgere mich, dass mir dieses Freiheitsgebrabbel die Chance nimmt, meine Argumente für eine unbedingte Impfpflicht zu überprüfen.

In der Tat würde das vielen Personen einiges abverlangen, Widerstand hervorrufen, und echte sowie angebliche FreiheitEN (Plural ist hier ganz wichtig) einschränken. Das kann man nicht „einfach“ damit begründen, dass das Leben, Überleben, noch wichtiger sei als die Freiheiten, weil man diese ja nicht ausleben kann, wenn man gestorben ist. Trivial…? Sagen Sie das einmal Frau Wagenknecht. Würde ich eine Impfpflicht per Gesetz (nicht per Dekret) anordnen, müsste ich Sanktionen benennen, und diese durchsetzen wollen…gar nicht so einfach: wie bestraft man einen maskenlosen grinsenden Trottel, der alle andern Fahrgäste im Regionalexpress provoziert und vor dem die Schaffner kuschen? Zunächst: Sanktionen sind nicht immer Strafen. Aber dann…was tun?

Ich bedaure, dass es keinen breiteren Diskurs zur Ordnung der Freiheiten gibt. Die Brennpunkte der politischen Ellipse – marktliberale Freiheit des Einzelnen oder staatlich verordnete Einschränkung der Freiheit als Ausdruck von ?legitimer? Macht – sind nicht interessant. Im gesellschaftlichen Feld konkurrieren die Freiheiten unablässig und oft nicht koalitions- und kompromissfähig. Und hier liegt eine Schwäche des aktuellen Systems. Die wäre vielleicht geringer, wenns nicht Covid wäre, sondern die Pest. Dann würden die einen ins Decameron flüchten und die andern eben massenhaft verrecken, die Begründungen sind selbst dann egal, wenn sie nicht oberflächlich sind. Aber so erträgt man das Chaos um Covid, weil es ja zunehmend die trifft, die es nicht besser verdienen. Und die auf unser aller Kosten behandelt werden, wie alle Kranken, die ja an der gesellschaftlichen Lebensform im staatlichen Rahmen als krank anerkannt sind.

Die Freiheiten, die anderen das Leben erleichtern oder verlängern…das klingt so karitativ, aber ich meines ganz trocken, fast autoritär, ich nehme mir Freiheiten, die mir zustehen nicht, aber keineswegs als Verzicht, sondern als Politik (wie steht es mit der Reflektion des Rauchverbots? Oder mit den Restriktionen im Namen der Gleichheit zugunsten von Menschen mit Einschränkungen? Aber gerade an Covid toben sich die marktliberalen oder autoritären Wortfetzen aus).

Ja, gut: wie begründe ich den Aufruf zur (gesetzlich) angeordneten Impfpflicht denn nun wirklich? Einfach. Weiter leben, auch leben lassen, ist die Bedingung zwischen Freiheiten auszuwählen, und zwar begründbar – und leider, aber zu Recht, begründungspflichtig. Im Falle der Impfung stößt eine Freiheit an ihre Grenze. Dennis Yücel fordert die Meinungsfreiheit auch für unerträglich dumme Meinungen – implizit: solange sie nicht real schaden, und dann keine Meinung sind, sondern Tat, Gewalt, … Es geht aber nicht um Meinungen zum Impfen. Das gefühlsmäßige Misstrauen oder die Unfähigkeit, eine Statistik zu lesen, erlaubt noch keine populistische Politik zu betreiben oder zu unterstützen. Die nicht mehr überraschende Antwort ist, dass die Aufklärung noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Das gefährdet Freundschaften, Positionen, Beziehungen, Selbstverständnis…aber wer sich einer Pflicht unterzieht, muss ja vielleicht mit seinem oder ihrem Leben etwas anfangen wollen und können.

Aller Seelen Feiertag

Was zu Allerheiligen wirklich gefeiert wird

Zu Allerheiligen am 1. November gedenken Katholikinnen und Katholiken traditionell ihrer Verstorbenen. Seinem ursprünglichen Sinn nach ist der Tag für das Totengedenken allerdings das Allerseelen-Fest am 2. November. Dass sich das Totengedenken mehr und mehr auf den Allerheiligentag verschoben hat, hat vor allem pragmatische Gründe, schließlich ist Allerheiligen ein gesetzlicher Feiertag. (ORF Online 1.11.21)

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Feierliches Gedenken, ist doch schön. Gesetz schlägt Glaubenstradition, noch besser. Richtig auch, dass es um die Verstorbenen geht, und nicht um die Toten.

Stefan George sieht im „Tod der Armen“

Es ist der Tod der tröstet und belebt ·

In dem wir einzig ziel und hoffen sehn ·

Das thor zum unbekannten paradies.

Der ganze Todeszyklus ist weniger erhellend. In diesen Tagen reden viele vom Tod, sie gehen auf die Friedhöfe und kerzeln dort nach Kerzelslust oder räumen das Laub von den welken Blumen. Das alles gilt dem Tod, der ein Speditionsunternehmen für Erinnerungen ist; denn an das Sterben auch der nächsten Menschen kann man sich nur vermittelt erinnern, man sehen dass jemand, leidet, Schmerz empfindet, sich in grausamen Träumen oder schönen Gedanken bewegt, aber man ist nicht dran, noch nicht. Der Tod ist konstruiert wie die Liebe; und deshalb auch eine nicht nur männlich notierte Singularität – vgl meinen Blog zu Marlene Streeruwitz vor ein paar Tagen).  (Wenn er einmal weiblich und nicht so beherrschend ist, wie bei Saramago, da ist die Tod eine wichtige Metapher, uns von der Überhöhung abzubringen. (Saramago 2007).

Mexiko feiert Tag der Toten wieder mit Parade

Mit einem farbenfrohen Umzug in der Hauptstadt haben gestern in Mexiko die Feierlichkeiten zum Tag der Toten begonnen. Hunderte Verkleidete tanzten und musizierten durch das Zentrum von Mexiko-Stadt, teils auf karnevalesk geschmückten Wagen. Tausende Zuschauer und Zuschauerinnen standen am Straßenrand. (ORF ebenda).

Mit dem Tod kann man so was machen, mit dem Sterben nicht. Eine Konstruktion wie Liebe oder Tod kann nur subjektiv glücklich machen, sie hat nur die Bedeutung, die wir geben. Wenn du stirbst, hat das nur eine Bedeutung: es wird dich absehbar nicht mehr geben, es kann dir egal sein, was danach geschieht.

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In diesen Tagen strotzt alles vom Begriff der Erinnerungskultur, und die Totenkulte, die der Verstorbenen gedenkt, der Helden, der Gefallenen, bemüht sich, den Sinn darin zu schaffen, dass sie ausführt für wen oder wofür gestorben wurde. Also für welche Lebenden und Überlebenden, für welche Regierung, für welches Land, bei manchen auch für welchen Gott. Wer mich gerettet hat und dabei gestorben ist, sich geopfert hat, verdient eine andere Erinnerung als jemand, der fürs Vaterland oder dauernden Ruhm geopfert wurde.

Das Sterben wird ausgeblendet, der Tod steht als desinfiziertes Monument auf dem Paradeplatz des Verdrängens (Diskussionen über Covid zeigen das meistens). Hingegen: welche deutsche Politik kümmert sich um das Sterben der afghanischen Flüchtlinge im polnischen Stacheldraht, die von dortigen Klerikofaschisten geopfert werden, nur weil Belarus noch schlimmer ist? Der Tod als Spielzeug der Tyrannen. (Nicht vergessen: die deutsche Politik steht in diesem Punkt an der Seite Polens!).

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Aller Seelen. Weil die Christen Angst hatten, im toten Körper keine Seele zu finden oder davor, dass diese Seele gerade bei dem ersten Sezierschnitt entfleucht, haben sie die Leichenöffnung lange verboten. Jüdische und muslimische Ärzte waren damals besser…Die Auferstehung hat noch wenige Comedians gefunden. Denn wer will eigentlich, dass das ganze Gesindel, das so viele Menschen zum Sterben gebracht hat und auf den Lebenden herumgetrampelt ist, auch noch ewig lebt, neben denen, die sich gerne im Jenseits erholen würden, bevor ihnen das auch langweilig wird?

Bleibt die Erinnerungskultur. Die trennt im besten Fall zwischen der Erinnerung an das Sterben eines geliebten oder sonst wie wichtigen Menschen, an das erzählte Leiden der namenlosen Flüchtlinge, der Katastrophenopfer – und der Erinnerung an den Tod: mit jedem Tod rekonstruieren und verändern wir unsere eigene Biographie, die Erinnerung an uns selbst.  

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Rappelle-toi Barbara
Il pleuvait sans cesse sur Brest ce jour-là
Et tu marchais souriante, épanouie, ravie, ruisselante sous la pluie

…Des chiens qui disparaissent au fil de l’eau sur Brest
Et vont pourrir au loin
Au loin, très loin de Brest
Dont il ne reste rien

(Jacques Prévert)

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Die Erinnerung erweckt das Leben dort, wo es nicht, niemals, zu wiederholen ist (das wäre Philosophie). Weniger lyrisch lässt sie uns nicht los, es sei denn, wir verdrängten, was erinnert werden kann. Darum, auch zu Allerseelen, macht der Tod niemals traurig, denn

Es gibt keinen Tod. Es gibt nur mich, der stirbt (André Malraux).

Saramago, J. (2007). Eine Zeit ohne Tod  Reinbek, Rowohlt.