Am letzten Wochenende war ich zum zweiten Mal in der Ausstellung der Impressionisten der russischen Brüder Morozow im herrlichen Gehry Bau des Vuitton Museums am Bois der Boulogne. Dazu kommt wahrscheinlich noch ein längerer Blog der Nacharbeitung. Hier ein paar andere Eindrücke: Die Franzosen nehmen die Covidkontrollen sehr ernst, in jedem Lokal wird ordentlich kontrolliert und nicht gemotzt. Ankunft und Abfahrt waren durch keinen Pofalla getrübt, also pünktlich, und die Bahnhöfe sind wenigstens zur Gänze regenfrei. Darüber will ich aber gar nicht schreiben, auch keine Vergleiche ziehen, das machen sowieso die Meisten.
Zwei Erlebnisse hingegen machen uns so schnell keine anderen Besucher nach. Nahe unserem Hotel, eine Gebäudereihe hinter der Einfahrt zur Gare de l’Est, am ansteigenden Schüsselrand der Stadt, der sie so kompakt wie übersichtlich macht, also nahe dem Hotel ein Gebäude im typischen neo-palais-artigen Stil des 19. Jahrhunderts, Pompiers, eine frühere Feuerwehrkaserne. Jetzt ein Kulturzentrum, ähnlich dem Potsdamer RZ, nur eben in einem alten Gebäude und in Paris. Mit einem imposanten Innenhof und großen Binnenfenstern, sodass man schon gut sieht, was sich da alles tut. Unter anderem ist gegenüber dem Einfahrtstor ein Restaurant. Von außen normal modern, verglast, auffällig nur, dass keine Speisekarte ausgehängt ist…wir gehen auf unserer Tour weiter und stoßen auf den Namen des Restaurants erst bei der durchforstung der digitalen Stadtpläne, wenn man einaml nicht französisch, nicht indisch, nicht vietnamesisch, nicht…etc. essen will, sondern – ja was? vegetarisch, aber vielleicht nicht ethnisch bestimmt. Und stoßen genau auds Lokal „Ora“ in dieser Pompierkaserne. „Une table végétarienne et festive comme on en a jamais vu à paris“ Nina V. Das haben wir natürlich nicht gelesen: „Une table végétarienne et festivecomme on en a jamais vu à paris“Nina V. Die Bilder im Internet sind auch schön, aber die Realität noch spannender. Wir waren etwas früh (19.00) und gerade einen Tisch haben wir noch ergattert. Ausgelegt mit dünnem, fettabweisenden Packpapier sind die Tische großzügig, kerzenbeleuchtet. Die Inneneinrichtung des Lokals zu beschreiben führt automatisch zu einer Diskussion über Retrokitsch der 70er-Jahre, Verwendung gerade vorhandener Glasflaschen und von Staubfängern, deren Reinigung noch nicht ansteht (bunte Palmwedel). Eine sehr freundliche Influencerin erklärt uns das Prinzip des seit zwei Wochen offenen Lokals: Jeden Tag ein neues vegetarisches Menu, nur eins, und also hat man keine Auswahl. Guter offener Wein, in der Tat, die Bordeaux sind preiswert und sehr gut; wir fragen zwar nach dem Preis (44 € pro Menu), aber der passt zum Niveau des Zentrum, also: was kommt jetzt? Drei Gänge vegetarisch, ein Gemüseberg mit Saucen und Kräutern und Nüssen und und und wird auf den Tisch gekippt, dazu ein dunkler Laib Brot, und der Chef mit dem Sous-Chef-mit dem Sousous-Chef tanzen, wie bei jedem Gang, um das Essen Ballett, da kommt noch Pfeffer drauf, und hier Öl und dort Gewürz, nur beim Salz bedient man sich eines kleinen Häufchens auf dem Papier. Was eben am Markt heute morgen frisch war, Selleriensauce mit Spinat zum Beispiel, Hummus gerade komponiert…Das Hauptgericht lauwarm oder kalt, auch hier Gemüse (Broccoli, Karotten), aber auch eine sehr große, sehr heisse Ofenkartoffel, mit Creme gefüllt und benusst…seltsam, man wird von diesen leichten Dingen trotzdem satt, aber da kommt zum Abschluss der Bratapfel, ein Berg Kuchenkrümel und eine Mousse au chocolat vom allerfeinsten…uff. Viel und gut, zum langsamen Essen. Am Nebentisch ein Mensch, den wir lange Zeit als Restaurantkritiker eingeschätzt hätten, so beobachtet und notiert er rundherum, nach einer Stunde kommen bekannte, und dann wird gefeiert. An den andern Tischen immer mehr Menschen, die genauso essen wie wir. Die sehr laute Retromusik soll offenbar die Gespräche an den Tischen für sich halten. Beim Hinausgehen fragt uns ein Sicherheitsmann, wo wir denn unser Auto haben…erstaunt, dass wir zu Fuß weggehen, denn die Menschen hier kommen nicht aus dem Bahnhofsviertel. Wer weiß, wann man den Hotspot in den Gourmetrubriken der Magazine findet…Gentrifizierung beginnt mit dem Magen.
Das andere Erlebnis ist nicht so deutlich zu beschreiben. Es besteht aus meiner Erinnerung, vielfach überbaut. In den 1970er Jahren, genau 1970-1974, war ich mehrmals im Jahr beruflich für das Wissenschaftsministerium als österreichischer Vertreter in verschiedenen Kommissionen der OECD und des Europarates (weil ich Französisch gesprochen habe, nu, das hat sich ausgezahlt). Und dabei habe ich nicht nur, aber vor allem ganz andere Stadtviertel kennengelernt – und meine Zeit natürlich zu Entdeckungsreisen in die und in der Stadt genutzt. Erinnerung als Erlebnis: dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie ich mit knapp über 20 dazu gekommen bin, das zu machen – zu verhandeln, Hochschulpolitik europäisch und Interessen österreichisch zu vertreten, und noch nicht einmal zu verstehen, was wie hier vor sich ging. Was geblieben ist, neben der beruflichen Erinnerung, bleibt das Gedächtnis der Stadt. Bestimmte Straßen, Schaufenstergestaltung, Aufschriften, Klassenschranken, und endlose weite Gänge, um Arbeits- und Besuchspausen zu überbrücken. Wenig Lust aufs Quartier Latin, auch auf die großen Museen, das kam erst später. Jetzt kommt keine erinnerung an die Erinnerung, dazu könnte ich meine Tagebücher öffnen; das Erlebnis von Paris ist, dass ich es mir gemerkt habe, anders als z.B. London oder andere Städte, unabhängig davon, wie oft ich dort war. Anamnesis, Wieder-Erinnern=Erkennen. Diesmal – und vor ein paar Wochen, als ich mit einem Freund den Christo verpackten Arc de Triomphe und die Morozow-Ausstellung das erste Mal besuchte – kam wieder, was gut verpackt bereit gelegen hatte, nicht auf dem Bord der abgelegten Lebensalter verstaubend. Kann es sein, dass die wenig verdeckte Realität postkolonialer Bevölkerung – alle Farben, alle Geschlechter, alle Habitus, und oft streng nach Stadtvierteln und Häuserblöcken separiert – einem die stereotypen Engramme von Klassen- und Politikanalyse an den Rand rücken lässt. Es ist einfach herrlich, eine solche Stadt mit Radfahrern und E-Rollern stärker als mit PKW befahren zu sehen (stimmt natürlich nicht, aber relativ, und in vielen Bereichen geht es sich besser). Und es holt einen aus der übertriebenen Romantik herunter, wie krass die sozialen Grabenbrüche zutage treten, unverkleidet, und nicht nur in den Bahnhofsvierteln. Ein wenig erinnern auch die Wohnstraßen der Oberschicht an die Vorstellung von Kulissenstädten, Vorbild für Potsdam. Mir ist aufgefallen, dass ich nichts einkaufen will und es auch nicht mache; dass kein Wiedererkennen eine Wiederholung anbietet, als würde ein Stadtführer Weitergehen, Weiterschauen verordnen. Das ist es, der übermäßige Reichtum, besser, die Reichhaltigkeit, lässt keine Privatsammlung an Details zu. Vielleicht es ist esd ganz einfach. Die Stadt war nicht zerstört, da steht noch alles oder es ist zerfallen oder es ist neu.