Der Riss geht durch die Kontakte

Der Riss zwischen Deutschland und Österreich, zum Beispiel. Wie im letzten Blog (Wien weint anders) beschrieben. Und es ist nicht so, dass das jeweils andere Land das bessere oder schlechtere ist, je nachdem, wo ich mich gerade aufhalte. Dazu sind die Unterschiede zu subtil und zu groß, gleichzeitig.

Ich kann nur andeuten, was mich seit drei Tagen beschäftigt, Arbeit und an ihrem Rand Kommunikation mit Freunden und Bekannten. Dabei wird, nicht zufällig, die zwar unterbrochene, vielleicht auch gebrochene, Kontinuität des Faschismus in Österreich aufgezeigt, bisweilen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Das ist nicht banal, weil der Austrofaschismus des jetzt wieder exhumierten Dollfuss (+ 1934, von den Nazis ermordet) offenbar kaum entstaubt werden muss, um als solcher bekannt und erkannt zu sein. In vielen Diskussionen sehe ich mich bestätigt, dass a) Faschismus und Nationalsozialismus nicht deckungsgleich sind, und der erstere viel weitere Spielräume eingenommen hat, dass b) das Überwechseln von Austrofaschisten zu den Nazis und das Rückwechseln zu den Konservativen (nicht nur in der ÖVP) die Aufarbeitung und reale demokratische Umkehr geradezu blockiert hatte, weshalb c) meine subjektive gute Erfahrung mit 68, Kreisky, Firnberg usw. in vielen Fällen nur Milderungen und illusionäre Verallgemeinerungen waren, und ich mich heute freue, wenn es noch einige unangetastete Idole gibt. .

Natürlich sprechen viele Fakten und Erscheinungen der Politik, Nachkrieg, Nach-68, gegen diese Sicht. Nach-89 hingegen macht sie wieder diskursfähiger, schaut euch doch Kurz, Nehammer & Konsorten an. Aber das wäre zu personalisiert, zumal das faschistoide Rhizom auch bei den Sozialdemokraten durchaus seine Organe gefunden hatte und hat. Bei den Nazis von den Post-Nazis von der FPÖ ist es komplizierter, weil da noch die Spaltung in deutsche und österreichische Faschisten, in den retro- und den präsenten Faschismus eine Rolle spielt. Aber zurück zum Hauptstrang.

Warum, fragen meine klugen, traurigen, entmutigten Freunde, warum hat sich das so gehalten, wo doch eine nicht nur intellektuelle Opposition dagegen, vor allem in Wien, glaubwürdig dagegen aufgestanden ist und weiterhin die Stimme erhebt? Und warum ist es so, trotz der Belege für das andere, das demokratische, das nicht auf eine Ethnie geschrumpfte Österreich?

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Ich würde gerne die Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich weiter ausdifferenzieren: warum eigentlich? Naja, der doppelte Staatsbürger hat gestern im Erdgeschoss des herrlichen Schlosses Mirabell seine Personaldokumente unbürokratisch, schnell und kostspielig erneuert; das herrliche Schloss, natürlich für eine Freundin eines Bischofs etwas zu groß, war auch Schauplatz meiner Hochzeit vor zehn Jahren; bei früheren Hochzeiten war ich auch schon dagewesen, und es steht, was Lokalität und Ambiente betrifft, 1:0 für Österreich. Danach laufe, ich, Bekannte, Freunde, Nachtquartier aufzusuchen, und trotz aller Gewichte der Erinnerung (da war ich so oft, so lange, und die Sommer waren damals viel länger…., und die Wochenenden), trotz aller Regression nutze ich den langen Fußweg, in drei Etappen 8 km, zum Bedenken des anderen, gegenwärtigen Drucks auf mir. Wenn das Thema „rechtsradikales Erbe“ aufkommt, fallen zwar die negativen Vergleiche leicht, aber die Verdrängung dessen, wovon man weiß, dass es unter der dünnen kultivierten Oberfläche ganz wach ist, ist so unvollkommen, dass man auch von der Verdrängung weiß.

Da sage ich einmal, beiläufig, dass ich einige Gedichte von Weinheber gut gefunden habe, wurde zurechtgewiesen, ein Nazi. Unerträglich. Heute lese ich, dass das in einem neunen Buch (Einem kultivierten Wienführer: Ilsa Barea, Wien. Edition Atelier 2021. In den konservativen Salzburger Nachrichten wird eben dies gerügt, dass Weinheber hochgelobt wird, aber seine NS und antisemitische Vergangenheit abermals unterschlagen wird. Diese Routine, nicht nur anhand W., wird von meinen GesprächspartnerInnen am schärfsten gerügt, es hat sich so wenig geändert. Und ich könnte n+1 Beispiele bringen, sie sind übrigens bestens dokumentiert (da nehmen sich die beiden Länder nichts), aber etliches ist „anders“. Darum geht es mir auch und zuvörderst. Die Österreicher, bis auf einen kleinen Nazirest innerhalb der Rechten) wollen sich ja nicht „deutsch“ verstehen, während die Deutschen Rechten und nicht nur die, ganz deutsch sein wollen. Das Vielvölkergemisch  der alten Habsburgermonarchie hat einiges an nationalen und nationalistischen Identitäts- und Authentizitätspirouetten geschlagen, aber man wollte nicht sein, was man nicht sein konnte (kulturell, genealogisch) und durfte (Deutsch-Österreich nach 1919). Das hat erstaunlich Progressives hervorgebracht und fürchterlich Faschistisches. Aber das Eine hebt niemals das Andere auf, und es gibt auch keinen Durchschnitt. Da unterscheiden sich die beiden Länder erheblich.

Egal, könnte man sagen, wenn eine dritte Dimension, also weder D noch A, dazukommt: dass in allen Gesellschaften Residuen von Faschismus aufzufinden wären, dass sie wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, religiöse Intoleranz etc. nicht auf die ethnische Zusammensetzung und kaum auf das gesellschaftspolitische Modell zutreffen bzw. aus ihm abzuleiten sind. Sozusagen eine Konstante, die überall auftreten kann, über all auftritt, nur unterschiedlich wirkungsvoll, intensiv und erkennbar.

Zu diesen Thesen habe ich mehrere Regalmeter zuhause, auch viele digitale Quellen und noch mehr Gespräche, und es ist alles, auch im besten Fall, unabgeschlossen. Der Faschismus ist langlebig und ubiquitär, wie ein Spötter in meiner Jugend sagte, wie der Fußpilz. Also, folgert der Berater, keine übergreifenden Theorien, in der Praxis und im Konkreten reagieren.

Ein schwerbehinderter Sterbender sagte seinem Sohn kurz vor dem Tod, dass er, wäre er kein Krüppel gewesen, auch Nazi hätte werden können – er war zeitlebens ein linker Widerstandsgeist, kein Held. Eine Tante sagte mir, dass jeder von uns auch ein Faschist hätte werden können, wenn wir nicht ohnedies jüdisch gewesen wären[1]. Davon gibt es  unzählige Varianten. Ich nähere mich dem Unbehagen dabei aus der Perspektive, dass ich das in immer neuen Varianten über die Vergangenheit so sagen kann, aber wenn es um die Zukunft geht, wird es heikler: können Sie sich vorstellen, in Zukunft Faschist zu sein? A so a Bledsinn, sagt ein österreichischer Freund. Ich kenne aber Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, Konversion vom Faschismus zur demokratischen Praxis, auch in der anderen Richtung.

Und obwohl ich den größten Teil meines erwachsenen Lebens, also vor allem meines Berufslebens, in Deutschland und als Deutscher gelebt habe, erkläre ich mir dieses Phänomen in Österreich viel aufwändiger und mühseliger. Wie sind die mehr oder weniger offenen Faschismen der Naziparteien AfD oder FPÖ und der mit ihnen affinen Ränder demokratischer Parteien zu erklären, zusätzlich zur intellektuellen und moralischen „Rückständigkeit“, die ja auch der Deutung harrt. Bildung ist nicht alles.

Wie ich dazu komme, das jetzt, heute, in der coronaschwätzigen Vorweihnachtszeit, zwischen D und A reisend, hautnah zu bedenken? Eine kurzfristige Erklärung wäre, dass das Gleiche in den beiden Ländern doch sehr unterschiedlich in die Gesellschaft hineingetragen wird, Diskurse und Narrative prägt, mit einem Wort, derselbe Faschismus tritt gut verkleidet jeweils an die ihn umgebende Kulisse angepasst auf.

Eine Antwort ist so trivial, wie für die Differenz absolut bedeutsam. Dass Österreich zwei Faschismen hintereinander durchlebte, und dass der Austrofaschismus und die Nazis zwar kontrovers und konflikthaft, aber ideologisch nur teilweise antagonistisch waren, erklärt vieles, das man sonst nicht verstehen kann.

Dass der radikale Umschwung westlicher Lagermentalität vom glaubwürdigen Antinazismus zum ambigen Antikommunismus im Kalten Krieg das neutrale Österreich besonders erwischt hat, darf man ebenfalls nicht vergessen. (Im hervorragenden Sammelband zur Amerikanisierung/Verwestlichung Österreichs von Bischof und Pelinka 2004[2] wird dieser Aspekt so gut wie nicht bearbeitet, am ehesten noch kulturell, aber dann nicht explizit – für Außenstehende also rätselhaft.

Eine dritter Aspekt ist geradezu schmerzhaft präsent: die dünne Haut des Verdrängens und Vergessens wird andauernd und teilweise brutal aufgerissen, auch wenn wenig realer Anlass besteht: die Ursachen sitzen tief, ein unvollkommen eingehegtes Geflecht nicht absterbender Vergangenheit, Präterito-Präsens. Das kann man gut am neunen Innenminister Karner, einem Lokalpolitiker der dritten Reihe mit einem wenig erbaulichen Lebenslauf studieren: dass er aus dem Dorf des Dollfuss-Museums kommt, das er von seinem Vorgänger übernommen hat und sogar modifizieren wollte, zählt nicht. Dollfuss ist wieder da, obwohl er nie weg war[3]. Wie nun die Faschismen zusammenhängen, ist eine Frage; die andere ist, was die unbewältigte Vergangenheit bis heute transportiert, abgesehen von der föderalen Opposition gegen das „rote“ Wien allenthalben, v.a. aus Niederösterreich – ein Nebenstrang, eine Angina politica.

Die vierte Frage weckt nur bei den Älteren Aufmerksamkeit. Österreich war einmal ein sehr katholisches Land, anders als Polen – hier wären Vergleiche interessant, wieder eine Differenz. Die katholische Erbschafdt des Austrofaschismus wiegt wirkungsvoll schwerer als die des österreichischen Katholiken Adolf Hitler (Friedrich Heer), der darüber sich weniger definieren lässt als durch andere Attribute. Aber da habe ich selbst die Spaltung bis in die Schulen, Universitäten erlebt, vom Kardinal König bis zum abtrünnigen Adolf Holl, den ich noch ganz gut kannte, und bis zum Neuen Forum des Günther Nenning, wo ich eine Zeitlang arbeite und eine frühe Alice Schwarzer und Ivan Illich und die tschechischen Demokraten von 1968 kennenlernte… (hier hängt alles mit allem zusammen). Zwar hat sich die Mitgliedschaft der Kirche halbiert, vor allem wegen Missbrauchs, aber das katholische Substrat ist nach wie vor in dieser Gesellschaft wirksam, Mainstream und Widerstand. Wie es in meiner Jugend gewirkt hat, konnte mich zwar nicht langfristig prägen, aber es hatte mich beeinflusst – und damals den Faschismus ausgeklammert. Der kam später ins Bewusstsein, zugleich mit dem realen und nachgeholten Jüdischen. 

Diese Fragen beantworte ich nicht, schon gar nicht hier im Blog. Aber die Differenz zu Deutschland wird schon an der faschistischen Doppelgeschichte deutlich, im basso continuo der völlig anders gestrickten Sozialdemokratie, nach dem Ersten Weltkrieg, fast bis heute. Dass es diese Fragen gibt, wirkt aber in die Politik hinein, einschließlich meiner Erinnerung von früher Kindheit an, einschließlich Kardinal Innitzer, studentische Widerstandsrhetorik auf der Linken, unverschämte Offenheit der Rechtsradikalen, von den Burschenschaften bis hin zu den Freiräumen, die dem verhüllten Faschismus gewährt wurden, weil und obwohl wahrscheinlich die kulturelle Opposition in Österreich viel aussagestärker war als in Westdeutschland, und sich auch vom vereinten Deutschland unterscheidet – Thema für viele wissenschaftliche und kulturelle Arbeiten.

Aber im Kern quält mich die Beobachtung, dass sich auch ansonsten eher vorbildliche Sozialdemokraten lieber mit Ex-Nazis verbündeten um gegen die Ex-Austrofaschisten zu arbeiten. Und dass der Austrofaschismus natürlich von Seipel vorbereitet und von Dollfuss initiiert und von Schuschnigg exekutiert wurde, aber viel weiter zurück wurzelt in der Monarchie in all ihren kontroversen Stadien – das wissen wir alles, und doch folgt so wenig daraus. Obwohl, und das ist mir wichtig, ich kaum eine bessere und kritischere und genauere Aufarbeitung aus der Sicht demokratischer Politik und Kultur kenne als in Österreich (Befreundete Namen nenne ich hier nicht, um niemanden wichtigen auszulassen).

Obwohl, so müsste ich diese Überlegungen übertiteln.

Hier liegt das Unbehagen daran, dass und was ich an Österreich um so viel besser, nicht nur anders, als in Deutschland empfinde – und wenn ich es nenne, kommen die VertreterInnen des Obwohl zum Vorschein und sagen mir: der war doch auch…

Aber das war auch: nach 1933 und vor dem Anschluss (nicht sog. Anschluss, angeschlossen werden…1938) fanden viele jüdische Deutsche wenigstens zeitweilig eine Bleibe in Österreich, auch unter den Austrofaschisten. Also mitten in einem konkreten Antisemitismus, der bloß kein überwiegend naturwissenschaftlich gestützter war. Wie das? (Und vergessen wir nicht, in beiden Ländern diffamieren jüdische Extremisten jeden Kritiker der korrekten Position als Antisemiten, weil das alles in der Israelkritik und der Religionskritik und der Kritik als Vernunft ja so angelegt ist, als wäre die Wirklichkeit eine jüdische Erfindung…schön wär’s).

Dann die letzten Jahre, erst beherrscht von SPÖ Medien-Untergebenen wie Klima, Faymann, und dann der schreckliche ÖVP-türkise Sebastian Kurz, der solange es ging mit den Faschisten von der FPÖ zusammenregierte, und dann…türkis-grün ist schwer zu vermitteln, ich weiß, Obwohl. Jetzt ist wieder die Rückschwärzung im Gange. Vergleiche dazu die erste Bilanz des Kanzlers Nehammer, nach einer Woche: Karl, der Nächste[4].

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Werte LeserInnen dieses Blogs: fragen Sie sich, was ich mit diesem Blog „eigentlich“ sagen wollte? Als Gegner der Eigentlichkeit wohl eher die spracharme Erkenntnis, dass die Rhizome des Antisemitismus, der faschistischen, also gegendemokratischen Weltanschauungen sich in Österreich ganz anders gehalten haben als in Deutschland (von der Differenz bin ich ja ausgegangen), und dass mich das seltsamerweise ermutigt, nicht resignieren lässt, weiter auch hier in Österreich in Projekten, Diskussionen und mit Freundschaften zu arbeiten, die dieses absurd nie-abschließbare, unabgeschlossene Kapitel eines Landes, das nie Staat, Nation oder Volk war noch sein wird, weiter einzuschreiben, auch in meine Biographie. *

Drei Tage zu früh für Festtagswünsche, und wer weiß, was dazwischen noch alles geschieht.


[1]  Ein Pendant sagte noch deutlicher, dass die Austrofaschisten schlimmer gewesen seien als die Nazis, wenn es die Shoah nicht gegeben hätte. Hier die Begründung zu suchen, nicht den unsinnigen Satz selbst zu dekonstruieren, ist wie ein klimatischer Wind, der durch Österreich weht.

[2]  Bischof, Günther und Pelinka, Anton (eds.): The Americanization/Westernization of Austria. Contemporary Austria Studies, Vol. 12, New Brunswick 2004

[3] https://www.derstandard.at/consent/tcf/story/2000131835189/rot-gruener-druck-auf-innenminister-karner-wegen-dollfuss ¸ https://zackzack.at/2021/12/19/die-oevp-und-der-austrofaschismus-karner-und-dollfuss/ (alle 20.12.2021 u.v.m.)

[4] Klenk, Florian und Toth, Barbara: Karl, der Nächste. Falter 49/21, 12

Wien weint anders…

Nicht zufällig bin ich gerade in Wien, zwei Projekte führen mich für eine Woche her, und ich leide darunter, dass mir kaum Zeit bleibt, die Menschen auch nur anzurufen, die mich mit dieser Stadt noch, wieder, seit damals verbinden; nicht erst neuerdings. Kein Gejammer allerdings, ein paar Besuche sind möglich, und ein langer Weg von Freunden zu meinem Domizil beim Freund und Forschungspartner. Anders als bei der letzten Parisreise sehe ich in Wien fast alles von Außen, und die Erinnerung muss dichtes Gewebe von Vergessen und Verschieben durchbrechen, um dann wie gegenwärtig zu erscheinen. Straßennamen, unzählige, drücken mir die Hand und erinnern mich daran, was hier, oder auf dem Weg oder von jemandem an dieser oder jener Ecke sich ereignet hatte oder gerade nicht, wenn es doch erhofft war…nichts davon heute. Schnee liegt, wenig Schnee, es ist kalt, nicht sehr kalt, der Himmel ist klar, die Restaurants und Cafés sind geschlossen, nur die take aways und Dönerbuden und Weihnachtshütten sind offen, womit man eine ethnische Vielfalt in Augenschein nehmen kann, die sonst nur in bestimmten Gebieten anzutreffen ist, jetzt anscheinend eine Mehrheit: bei einem Flüchtlingsfeind als neuem Bundeskanzler und einem Dollfuss-Wiederbeleber als neuem Innenminister und dem CoVid-Genesenen Anführer der Nazipartei als Anführer großer Demonstrationen…von all dem bekommt man in der großen Stadt nichts mit, wenn man nur von der Senke des 6. Bezirks am Wienfluss durch den leicht ansteigenden 5. Bezirk (Margareten) zum Gürtel hochgeht, und von dort steiler ansteigend den Schüsselrand der Großstadt bergauf nach Hause läuft: Längst sind die bürgerlichen Mietshäuser durch die Gemeindewohnungen und Genossenschaftsblöcke ersetzt, früher war der 10. Bezirk wirklich rot, heute schweigen wir darüber, und die vielen Ausländer sind daran nicht schuld, dass sich das alte, das rechte Österreich im linken, im besseren Wien ausbreitet wie eine neue Variante politischer Infektion. Wie gesagt, in dieser einen Stunde 6-5-10 habe ich von Politik wenig mitbekommen, kaum Sprays und Plakate, aber mehr Einzelhandelsgeschäfte auf diesen drei Kilometern als in ganzen deutschen Großstädten, und mehr Einblicke in das, was „urban“ heissen kann, im Alltag als in Berlin (Außerdem wird eine neue U-Bahn gebaut, heute….). Ich muss also bei den Abendnachrichten die Politik nachholen, kommentieren mag ich sie so wenig wie die deutsche, in langsamen Wellen bricht sie sich am Sandstrand der schnellen Vergänglichkeit; wenn mich nicht nur dauernd die Mails aus Deutschland für die afghanischen Flüchtlinge erreichten, wo immer ich gehe. Es sind die Fliegen der Tragödie, wenn ihr wisst, was ich meine.

Das müsste ich nicht im Blog berichten, wenn nicht die Wirklichkeit die Nostalgie des Wieners erodieren ließe (ich bin ja einer der wenigen Wiener, die wirklich hier geboren wurden; schon die Umstände dieses Zufalls binden mich an diese Stadt). Also mache ich heute früh einen PCR Test, weil ich morgen einen Krankenbesuch im Haus der Barmherzigkeit machen will: Man registriert sich (mehr Umsicht und Datenschutz, nichts für Analphabeten, schade), folgt der Gebrauchsanweisung, vom Gurgeln ins Röhrchen, von da ins größere Gläschen, verschließen, codieren, abgeben, und sechs Stunden später sind alle Befunde im Mail, wehe dem, der kein Handy hat, da wird es zwar auch möglich, aber komplizierter. O schönes negativ, aber ab morgen wird „gelockert“…

Natürlich frage ich nach den alten Bekannten, die am Anfang meines beruflichen Werdegangs standen, der mich ja aus der Uni Wien herausgelöst hatte, bevor andere noch sich entscheiden konnten für oder gegen Wissenschaft oder Lehramt. Die mich damals dirigierten, sind alle um die 85 oder gar älter, und die gleichaltrig Gedachten sind zehn Jahre jünger als ich und bereiten sich auf die Pension vor. Viele der Wohnviertel, Caféhäuser, Treffpunkte verbinde ich nicht mit diesen Menschen, sondern umgekehrt: plastisch treten Orte und Ereignisse vor mein Gedächtnis, und die Personen, die einen so verschwunden wie die andren, nur wenig Schwankungen in den Emotionen, keine Zeit für den Realismus der Vergangenheit, eher für die Abstraktion. Nur vergessen sich die meisten Namen nicht so massiv wie die jüngst abgelegten…auf diese Weise rekonstruiert sich Wien anders als andere Städte, die ich/=man dann doch erinnern muss. die wichtigen oder beiläufigen Menschen formen den fliegenden Teppich, auf dem man sitzt oder durch die Gassen läuft und weiss, man wird nicht mehr erleben, dass sie endgültig der Zeit zum Opfer fallen. Wenn Freunde mir heute erzählen, was sie in letzter Zeit gehört oder in der Oper genossen haben, was die Theater natürlich nicht mehr so hergeben wie früher, dann werde ich nicht nostalgisch, sondern fühle mich eher jünger als die so viel Jüngeren. Getraut Jesserer ist gestorben, verbrannt in ihrer Wohnung, Ernie Mangold lebt noch, ein paar ganz Gute sind jetzt in Berlin, aber das ist schon alles: hier wird gespielt und gesungen.

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Von meinem Krankenbesuch mag ich nicht erzählen, und dieser Widerwille unterscheidet mich von vielen österreichischen Schriftstellern, die solche Gelegenheiten zum Ausbreiten ihrer Philosophie benutzten. Nur so viel, auf dem Weg zum und vom Krankenhaus kann man eingehend studieren, wie in einem Mischgebiet auf der einen Straßenseite noch die kleinbürgerliche Ärmlichkeit hinter ganz schönen Fassaden der Gründerzeit verbergen, während gegenüber die Gemeindebauten der Nachkriegszeit glatt und stereotyp die Wiener Variante der wirtschaftlichen Stabilisierung zeigen, nicht annähernd so schön wie die Bauten der Zwanziger Jahre, aber „sozial“ hatte damals schon seinen verständlichen Sinn und macht Wien heute zur Ausnahme in der postmodernen Wohnungsnot. Ich wandere auch an Sozialeinrichtungen vorbei, die gibts in Deutschland auf), aber hier sind sie offen, erkennbar, oft schäbig, aber frequentiert, wie die Wärmestube.

In der Straßenbahn nach Hause bin ich für einige Zeit der einzige Wiener deutscher Muttersprache, umso bemerkenswerter die Wiener Familien balkanischer und türkischer Herkunft in einer Normalität, die ich in Berlin vermisse. Das ist keine Idealisierung, weil zu dieser Normalität die austrofaschistische Neigung der „Anderen“ gehört, die contra Rationen zu zehntausenden gegen die Coronamaßnahmen demonstrieren, gewaltbereit die Saat aufgehen lassen, die durch Jahre hindurch im schwarzbraunen Populismus angelegt wurde. Jetzt, ja jetzt, ist man dagegen, sieht aber keinen Zusammenhang wischen der Flüchtlingspolitik, der Nähe der Innenpolitik zum deutschen Seehofer, einer immer schon dagewesenen Ethnophobie im kleinsten sozialen Maßstab neben der oben zurecht gelobten Normalität. Bei meinen deutschen Freunden, engsten und diskutierenden ferneren, stößt das „Österreich ist anders“ von mir auf eine seltsame Abwehr, als ob die scheinbar gleiche Sprache Deutschösterreich wahrscheinlicher machte als ein Riss zwischen zwei Kulturen. In Gedanken mache ich eine Stadtführung…

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Eines unserer Projekte führt mich in ein Kreativzentrum, wo Versammlungen, Workshops und Projektunterstützung zusammenkommen. Das wird nicht öffentlich gefördert….bietet aber trotzdem eine synergetische Zusammenarbeit…so steht im Hof des Gebäudes, einer ehemaligen Schule, ein Modellholzhaus für ökologische Demonstration…Wir besprechen und bearbeiten unser Startup-Projekt (nicht wir sind ein Startup, sondern versuchen, solche mit etablierteren Unternehmen zusammen in eine neue Form von geteilter Ausbildung zu organisieren (in Ö heißen die Lehrlinge noch nicht Auszubildende, sondern Lehrlinge…). geht man aus dem Gebäude raus, erkennt man schnell die „Dialektik“ des 3. Bezirks, der hat eine feinere Seite, Botschaften rund ums Belvedere, Konzertsäle, oberes Bürgertum, und Richtung Osten alte Industrie, jetzt überbaut durch Bürohochhäuser; seltsamerweise denke ich an ähnliche Konglomerate in Queens, es passt zusammen, was nicht zusammenpasst und -gehört.

Die Abendnachrichten ernüchtern. Corona, Omikron, Skifahren, Rechtslastigkeit und Augenreiben der Kultur…immerhin fordert eine konservative Zeitung Gegendemonstrationen der Geimpften und eine Eröffnung der Dollfuss-Debatte. Gar nicht schlecht, Geschichte aus den Subtexten zu holen.

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Macht es Sinn, die Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften aufzuspüren, zu analysieren, und auszuwerten? Sicherlich, weil man beiden Differenzen verpflichtet ist, nicht nur als Doppelstaatsbürger, sondern auch wegen der durchaus umbalancierten Bezugsschaukel: nicht ich allein „pendle im Bewusstsein“ zwischen Wien und Berlin…im Alltag sind das Trivialitäten. Was ist wo „besser?“. In Wien die Öffis, die Bundesbahn, die Wohnbaustruktur,…aber um etwa die Wohnungspolitik der Hauptstadt zu erklären, bedarf es vieler geschichtlicher, ethnischer Rückblicke, bis weit ins späte 19. Jahrhundert zurück. Und dann wird es sofort politisch, weil man sich schon des staatlichen Vorzugs der Donausmonarchie vor dem deutschen Reich nach 1871 bewusst sein muss, um zu erklären, was wo jeweils wie geworden ist und was eben nicht.

Unser Entwicklungsprojekt „Wohnen im Alter“ nimmt mit dem Abschlussbericht an die auftraggebende Landesregierung von Niederösterreich konkrete Formen an (dann erst kommen die wirklichen Mühen der Ebene, Ergebnisse „Vor Ort“ umzusetzen. Und was das „Alter“ mit den Zeitläuften, vom Klimawandel bis hin zur rasanten Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zu tun hat, fasziniert mich – auch wegen der Unterschiede zu Deutschland.

Aber erst einmal unterbreche ich diese Arbeit, fahre zu meinem Verlag, überquere die Hohe Brücke an der Wipplinger Straße, die ich als Kind schon kannte, weil es dort die Lotterie-Agentur gab mit dem Rauchfangkehrer als Symbol der Glücksbereicherung durch die Klassenlotterie. Später wurde der Wortwitz der Linken mit dem „Klassenlos“ daraus.

Und wieder fahre ich durch die Stadt und lerne mit jedem Blick auf ihre Geschichte auch ein Stück meiner Geschichte. Beruhige mich, dass ich nicht berühmt bin; wäre ich es, würde Wien erst nach meinem Tod etwas für mich tun.

(Übrigens muss ich ja übermorgen nach Salzburg, weil ich dort gemeldet bin und neue Papiere rauche. Zu Salzburg fällt mir diese Geschichte nicht ein, ob eine andere sich mit mir so verbindet ist wahrscheinlich…).

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Zu den Unterschieden zählen auch Gestalt und Vermittlung der Abendnachrichten im Fernsehen. Hier geht es nicht um besser oder schlechter. Aber weil Österreich nicht so wichtig ist wie Deutschland, erfährt man hier mehr von der Welt – und von lokalen Ereignissen.

Aufwachen…in Kabul? In Berlin.

Aufwachen in Kabul? In Berlin.

Ich hatte versprochen, den Blog nicht mehr zu Afghanistan zu füllen. Aus dem Kampf gegen das Vergessen der deutschen Beteiligung und auch Schuld in der Intervention seit 2002 wurde ab Mai 2021 ein Kampf um die Rettung von Menschen. Über 20.000 stehen auf den genehmigten deutschen Ausreiselisten, grad einmal 7000 hat man bisher gerettet. Es sind tatsächlich noch sehr viel mehr Menschen, die rauswollen und müssen aus diesem Land, und dass jetzt Tauschgeschäfte mit der nicht-anerkannten Regierung angestrebt werden, sollte nach einer militärischen Niederlage nicht ironisch oder gehässig kommentiert werden – immerhin lässt es für einige hilfsbedürftige Menschen hoffen. Aber wie schon Bloch sagte: Weil es lang dauert, bis man Gefängnisse abschafft, sollte man in der Zwischenzeit die Gefängnisbetten verbessern.

Ohne Zweifel wird es völkerrechtliche Nachwirkungen geben, gegen die Taliban, gegen die USA, vielleicht gegen die Mujaheddin, vielleicht gegen die Russen davor, vielleicht gegen die Begleitorgane, deren eines Deutschlands ist. „Vielleicht“ heißt, dass natürlich auch die Missetaten und Vergehen früherer Zeiten nicht vergessen sind, aber die Zeit spielt, oft: leider, eine böse Rolle bei der globalpolitischen Vergessenskultur, das wissen wir seit dem Kalten Krieg, den wir gerade wieder ansteuern.

Dass der neue Bundeskanzler kein Wort des Bedauerns und der Selbstkritik äußert darüber, wie er und seine Partei den Rettungsversuch durch Grüne und Linke verhindert haben, ist schandbar. Aber auch dazu haben wir, juristisch und moralisch, noch mehr Zeit als zum gegenwärtigen Vorrang: Retten, helfen, in der Diaspora integrieren. Das heißt konkret: Alle, die zu Recht Visa beantragt haben, nicht nur Ortskräfte und verfolgte Intellektuelle, vor allem aber Frauen und Angehörige von Minderheiten aufnehmen, versorgen, stabilisieren, hierbehalten.

Das ist heute: „An estimated 22.8 million people — more than half the country’s population — are expected to face potentially life-threatening food insecurity this winter. Many are already on the brink of catastrophe.“ NYT 20211209

Die unmenschlichen Vergehen der alten Bundesregierung – aus welchen und wie vielen Gründen auch immer – werden als Schuld auf der deutschen Innen- und Außenpolitik lasten, in dieser Reihenfolge, bitte. Es gibt, wie so oft, keine Opfer-Täter-Balancer, aber die wird noch eine Rolle bei der juristischen Aufarbeitung spielen – siehe oben. Wichtiger ist, sich aus der einseitigen Unterwerfung unter die amerikanische Zentralasienpolitik zu befreien, und zugleich auf größeren, nicht opportunistisch kleineren, Abstand zu Russland und China zu gehen. Das ist nicht einfach ein unfrommer Wunsch. Konkret heißt es, militärisch nicht der Kellner im Sternelokal NATO zu sein, sondern als europäische Macht – Macht! – diesem Verein etwas entgegenzusetzen haben, bevor man sich loslöst. Distanzieren kostet nichts, Wortgeklingel. Und eine moskaugesteuerte politische Rhetorik verkennt die Wirklichkeit der Aggression auch von dort; auch mit China ist es im Kontext ähnlich, und die kleinen Akteure sind de facto sehr groß: Iran, Pakistan, Indien.

Wer Afghanistan nur ein wenig besser kennt als diplomatisch-mediale Ebene, wer Thomas Ruttig, Christoph Reuter und ihresgleichen liest und nachvollzieht, der muss wissen, dass es keine einseitigen, moralisch gepolsterten Lösungen gibt, um einen großen Teil des afghanischen Volkes am Verhungern zu hindern (und so eine Flüchtlingswelle im Vorfeld zu unterbinden….). Als Unterlinge der amerikanischen Militärmacht haben wir eben die Niederlage mit eingefahren, die wir nur politisch, humanitär und kulturell abfangen und umkehren können (das nennt man Entwicklungspolitik, und Maas und Seehofer hören das gottseidank nicht mehr). Das heißt nicht einfach und naiv: abrüsten; das heißt, diese Umkehrung auch beschützen und verteidigen können. Aber eben nicht „umgekehrt“, dass man das militärische Versagen dann auch noch soziokulturell abfedert.

Man kann – abgesehen von einer weiteren Programmschrift, dem Koalitionsvertrag, solche Umkehrung von der neuen Regierung erwarten und erhoffen. Wir, also die Zivilgesellschaft und der politische Strahlenkranz einer kurzzeitigen Sonnenfinsternis – wir können dazu einen Beitrag leisten: nicht in die komischen Kritikchöre einstimmen (Kritik der kritischen Kritik, die Pubertätsmelodie der Linken, wie man sich wieder den bösen Großen unterwirft und nichts ändert, wie die USA noch böser sind als…), und nicht den bis weit in die Mitte der Gesellschaft ragenden rechten und faschistoiden Ausländerhass, Ethnophobie, Frauendiskriminierung und Gleichgültigkeit gegen Kinder damit transportieren, dass wir Deutschen uns selbst genug sind. Sucht euch die Hilfsprogramme, Kontonummern, Personen vor Ort (auch in Potsdam gibt es zB. mehr als 50 gerettete Ortskräfte, teilweise mit Familien, und das ist fast überall so….). Sich „kümmern“ heißt nicht Kummer teilen, sondern empathisch die Schwelle von Wir und Sie schleifen.

Das erfordert Zeit, das erfordert Information und Lernen, Kommunikation, und nicht ideologiekritische Abwägung, wem man damit noch einen Gefallen tut oder ihm schadet. Wir können handeln.

P.S. Doch ein grimmer analytischer Nachtrag: Der hat mit Afghanistan zu tun, dem Land, der Gesellschaft, die zum Proxy der hier beschriebenen Politik gemacht wird. Die AfghanInnen müssen seit langem ausbaden, was sich die großen Akteure nicht direkt sagen können. Darum kommt Afghanistan auch nicht in den folgenden dri Punkten vor.

* Die scharf antagonistische Einstellung zu den USA, zum „Westen“, zur NATO, zur Doppeldeutigkeit der Expansion von Wirtschaft und Beeinflussung ist so unsinnig wie die russophile Blindheit gegenüber einer post-stalinistischen Diktatur, die in ihrer Vergangenheitsverzerrung unbeirrt die Fakes als Wahrheiten verkauft, schon weil man es mit den westlichen Fakes ja leichter hat.

* Das Ausblenden der Binnenstruktur, der Würgegriff gegen jede Form demokratischer Opposition (eine bloße Meinung ist noch kein Widerstand!) macht die USA-Kritik zu einem Instrument der vom Kreml effektiv gesteuerten Beeinflussungspolitik, weil ja der Westen nicht über die Vertikale der Macht und die Allgegenwart des Gulag verfügt, sondern nur über autoritäre Vielfalt und ebenso vielfältige Opposition. Die Schwächen der Demokratie auszuspielen gegen die homogene Oberfläche der Diktatur – siehe oben den Text – ist ebenso einfach wie zynisch. Damit wird aber – leider, sage ich – jede Form der berechtigten und scharfen Kritik an den USA und der westeuropäischen Globalpolitik entwertet, weil diese Politik für uns noch immer – hoffentlich immer – ein leichteres Leben bedeutet als für die Kritiker in Russland, nicht nur Nawalny, nicht nur Memorial.

* Weil immer wieder die Entspannungspolitik von Brandt, die verloren gegangen ist, angedeutet wird: damals hat es auf allen Seiten eine Einsicht in die Notwendigkeit gegeben, die heute auf allen Seiten fehlt. DAS ist der Ausgangspunkt tragfähiger politischer Analysen.