Pyrrhus, Lindner Scholz und Wissing

Ja, jetzt wälzen sich die Feinde der Grünen unter den politischen Parteien, aber auch die so genannten Umweltorganisationen in selbstgerechter Diffamierung der Grünen. Logisch. Wer nicht regiert und keine Verantwortung trägt, hat leicht furzen. Bei der Opposition ist das anders, die CDU/CSU hat am Umweltdesaster 12 Jahre lang mitgewirkt, ihre Schuld ist noch lang nicht abgetragen, aber Merz und Söder sind halt etwas retro.

Nein, der Koalitionskompromiss ist nicht gut, selbst wenn er einige tragbare Ergebnisse mit sich bringt. Er ist schlecht, und scheinbar haben die neoliberalen Marktdepopen im Verbund mit dem umweltblinden Kanzler über die Grünen gesiegt. Scheinbar, denn der Kampf für Klima und Umwelt wird sich nicht nur IN, sondern zunehmend AUSSERHALB der Koalition abspielen. Aber nicht im Tonfall und Programm der Umweltverbände, die jetzt schimpfen, aber ohne Politik nichts machen können, selbst wo ihr Programm gut ist. Politik muss in die Gesellschaft getragen werden, und nicht einfach verordnet. Das gilt für Wärmepumpen, Windkraft und neue Bahngleise. Dass Herr Wissing noch nicht in eine Betonwanne eingepflegt wurde, in die ihn Lindner mit seinem teuren Sportwagen reingetrieben hat, ist schade, kommt aber noch. Und dass Herr Scholz die Genossen der SPD desavouiert, indem er lieber seinen Stall zusammenhält als an die Zukunft der Menschen zu denken, passt einfach zu ihm, cum ex, cum opportunitate ex intelligencia.

Die Grünen sind nicht weg, also müssen sie nicht wiederkommen. Man muss die neoliberalen Marktdeppen wegräumen, und sich darauf verlassen, dass die nchste Klimakrise vor der Tür steht, auch wenn das so genannte Volk es noch nicht spüren will bei den Urlaubsfahrten und Flügen. Oh nein, kein Opportunismus der Rhetorik. Die Lage ist ernst genug. Der um sich greifende Faschismus kann rhetorisch die Umwelt zu seiner Agenda erklären, aber er kann sie nicht zu seiner Sache machen ohne Einbußen an Macht und Klientel. Aber das heißt natürlich für uns alle, Politik muss gemacht werden, so wie die israelische Opposition gegen die faschistoide Regierung Netanjahu, so wie alle demokratische Opposition mit einem klaren Ziel. Und das ist ja beim Klima wohl so deutlich wie bei der Hilfe für die Ukraine gegen die russischen Aggressoren. Dass es uns dabei wirtschaftlich, wohlständisch schlechter gehen wird, kann und MUSS die jetzige Regierung nicht nur verkünden, auch plausibel erklären. Der Kuchen bleibt nicht ganz und schmeckt auch nicht.

Nachtrag, einen Tag später: der FDP Fraktionsführer Dürr verteidigt die Verkehrsblödheit von Wissing und meint, alle Beteiligten müssten ighre Verantwortung ausgleichen. Das heißt, Wissing darf das Land zubetonieren, und die andern müssen das kompensieren. Pyrrhus bedeutet hier, noch mehr außerparlamentarische Opposition und Druck auf die Entscheidungen, auch der einzelnen BürgerInnen, die natürlich ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, nicht bloß sollen. Wenn Dürr vom Markt spricht, denke ich an den Jahrmarkt einer letzten Generation. Gut, dass die FDP keine Nachwuchs hat. Den ersticken zu sehen, wäre für Liberale vielleicht nicht marktgerecht.

Selbst kritische jüdische Position ist nicht gleich israelisch

Russlands Krieg gegen die Ukraine liegt mir schwer auf dem Denken und den Gefühlen. Aber, das ist wichtig, es gibt neben diesem Krieg auch andere schreckliche Ereignisse, und will man sich vom Terror der Aktualität nicht unterkriegen lassen, muss man wohl wie ein Aufmerksamkeitsradar beobachten, wo die anderen besonderen Terrorien sich entwickeln und abspielen. Ich hatte vor jeder Anwanzung an Netanjahu gewarnt, nur weil er angeblich Israel vertritt. In dieser Fortsetzung der gestrigen Analyse geht es um unsere Wahrnehmung der israelischen Geschichte und ihrer Rückbindung an „uns“.

Tagesspiegel 22.3.23 (Israelischer Minister verschärft Rhetorik: „So etwas wie Palästinenser gibt es nicht“

Artikel von Mareike Enghusen • Vor 6 Std. )

Israel: „So etwas wie Palästinenser gibt es nicht, weil es so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt“, sagte Israels Finanzminister Bezalel Smotrich am Sonntagabend auf einer Veranstaltung in Paris…Die Idee von einem palästinensischen Volkes sei von Arabern erfunden worden, „um die zionistische Bewegung zu bekämpfen.“ Wenn es wahre Palästinenser gebe, fuhr Smotrich fort, dann seien dies seine Vorfahren, schließlich lebe seine Familie seit 13 Generationen in der Region…Es ist das zweite Mal innerhalb weniger Wochen, dass Smotrich, der Vorsitzende der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus, mit provokanten Äußerungen von sich reden macht. Anfang März hatte er gesagt, das palästinensische Dorf Hawara, in dem kurz zuvor ein Palästinenser zwei junge Israelis erschossen hatte, müsse „ausgelöscht“ werden.

VORSICHT: bevor jemand sagt, so ein Blödsinn, aufmerken. Wie die NAZIS benützt Smotrich eine Form des Konstruktivismus, um sich rhetorisch und populistisch Gehör zu verschaffen. So umfassend wir alles Mögliche konstruieren, so müssen wir doch das Muster verstehen, in dem das geschehen kann. Das heißt nicht, dass Smotrich Recht hat, aber es heißt, dass wir sein Argument und die implizite Konstruktion des Zionismus prüfen müssen. Wenn er seinen faschistischen Hass gegen die Palästinenser richtet, dann sind wir bei einem heute gern geübten Muster: Putin + Russland –> die Ukraine gibt es nicht. Motrich und die Siedler (seit 13 Generationen, wie war das unter den Ottomanen?) –> die Palästinenser gibt es nicht. Dabei helfen immer die religiösen Extremisten, Kyrill oder hier die ultraorthodoxen Götzendiener. „Religiöser Zionismus“ (Smotrichs Partei) ist ein Widerspruch in sich. Immer gewesen. Das führt genau zu dem Nazispruch des Wir oder Sie der Endlösung, und natürlich haben Wir mehr Recht usw. Er bleibt aber Unsinn. Denn Feind erst verbal töten und dann vernichten. Smotrich ist ein Nazi. Übrigens wäre es egal, wenn eine andere Seite einfach das Blatt umkehrt und dann das Gleiche sagt und tut, was ja geschieht.

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Der vom Gauner Netanjahu angebotene Kompromiss ist so frech, dass man ihn dafür allein schon absetzen und einsperren müsste. Aber viel Pöbel stützt ihn noch, zu wenig Widerstand droht ihm noch.

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Ich ahne schon die Kritik, Juden sind doch nie Nazis, und der Vergleich hinkt, und überhaupt. Ich habs nicht nötig mich zu verteidigen, aber ich bin geradezu froh darlegen zu können, dass a) jüdische Menschen genauso gut, böse, klug, dumm sind (und waren) wie alle anderen Menschen – also nicht unter den Exzeptionalismus fallen, incl. „Auserwählung“ und b) dass der Preis für den jüdischen Staat Israel war und ist, dass es ein demokratischer Staat und keine religiöse Gemeinschaft ist.

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Mir geht’s auch um das „Überhaupt“ des Arguments. Vor allem für Deutsche ist es einfacher, alles Israel-Bezogene durch die diskursive Brille der Shoah betrachten zu wollen oder zu lassen. Für viele Israeli der letzten Generationen ist das auch der Fall, oft und schrecklich nach den eigenen Erlebnissen und Überlebensgeschichten. ABER für eine andere Gruppe, weniger? Andere GruppeN? stimmt das so nicht, ihre Herkunft hat andere Schrecken, Verfolgungen, Ausgrenzungen zu erleiden gehabt, aber eben nicht die Shoah, und deshalb sind die Legitimationsdiskurse zwischen den Gruppen nicht gleichmäßig gewesen, und bis heute nicht. Was dürfen jüdische Israelis in einem multiethnischen, jüdisch majorisierten demokratischen Staat? Das ist mit Demokratie, mit Menschenrechten, mit Republikanismus, mit vielen historischen Erfahrungen zu legitimieren, unter denen die Shoah eine ist. Da könnte man dem Smotrich z.B. die Geschichte des Zionismus unter die Nase halten.

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Und immer gilt: wenn man die eine Seite, die jüdische, in Israel, korrigiert und kritisiert, entlastet man nicht an die andere, anti-israelische und antisemitische. Das nämlich gehört zur Demokratie, dass man mehr als einen Feind haben kann. Jetzt wollen beide das demokratische Israel zerstören.

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Zurück zu „Uns“ nach Deutschland. Die Spuren der Trennung von Antizionismus (links) und Antisemitismus (rechts) in allen Varianten sind aktiv und treiben Hybride. Oft unehrlich, so wie DDR und BRD einander begegnet sind, so wie die Frage jüdischen Identität dauernd mit der fragwürdigen politischen Position innerhalb der Staatsräson vermischt wird. Mischkulanz, möchte ich sagen. Und wenn überhaupt zu raten ist, beschäftigt euch einmal etwas genauer mit diesen Herkunftsargumenten der israelischen Rechtsradikalen, schaut auf Netanjahus Verbündete, nicht nur Trump, schaut auf die Analogien ultra-orthodoxer Gottesanbeter jeglicher Konfession, und schaut auf die gar nicht selbstlosen Unterstützer von Siedlern im Westjordanland und den Quartieren der Palästinenser in den angrenzenden Staaten. Das bringt die Lösung der Probleme nicht gleich ganz nahe, aber es macht sie erwartbarer, durchsichtiger.

Keinen kleinen Finger für Netanjahu

Es gibt viele Gründe, Israel zu mögen, manche meinen, man dürfe ein Land sogar lieben. Es lässt sich säkular begründen, ethnisch, religiös, solange die entsprechenden Narrative präsent sind, verankert in der eigenen subjektiven Kultur und in der gesellschaftlichen Umgebung. Die Zuneigung zum Heiligen Land hat lange Traditionen – und die Abneigung gegen alles Jüdische ebenso. Das geht weit über den religiösen Antijudaismus hinaus, auch über den unsterblichen Antisemitismus. Die dazu angelegten Bibliotheken und Veranstaltungen sind endlos gefüllt, das Thema füllt alle Bildungsebenen und politische Schnittstellen. Interessant ist auch, welche Tabuthemen jeden Diskurs zur jüdischen Identität von Israel begleiten und beschränken, oft deformieren.

  • Israel, identisch mit dem STAAT ISRAEL, ausgerufen am 14. Mai 1948? Im Alltagsdiskurs, in der religiösen wie kulturellen Auseinandersetzung, ist die Antwort nicht so eindeutig, wie die Frage vorgibt.
  • Ich denke gar nicht daran, mich hier auf eine n+1 Version der Sicht auf Israel, und seine Umgebung, und den Nahostkonflikt, und alle politischen Interjektionen zur derzeitigen Situation einzulassen. Dazu weiß ich zu viel, dazu liegt zu viel Information und Wahrheit auf dem Tisch. Ich leide darunter, dass die rechtsradikale, in Teilen faschistische Regierung Netanjahu den demokratischen Staat Israel deformiert und demontiert und den undemokratischen Kräften der näheren und weiteren Umgebung des Landes die scheinbare Legitimation gibt, Israel endlich als seinesgleichen (undemokratisch und feindlich) oder als legitimes Angriffsziel auszurufen. Um das zu sagen, muss man und kann man einiges wissen, nicht nur politisch, auch kulturell, religiös und sozial. Ich nehme das in Anspruch.

Das demokratische, plurale Israel, das bis vor kurzem Wirklichkeit war, nicht fehlerfrei, nicht vollkommen – es ist ja eine menschliche Gesellschaft und ein Staat – hat nicht nur zusammengefasst, was schon an ein Wunder der jüdischen Emanzipation nach Jahrhunderten der Judenverfolgung grenzt, an die Möglichkeit, nach der Shoah einen eigenen Staat zu gründen und nicht nur auf Emanzipation in einem anderen Staat zu setzen, und – was mich an Israel besonders gefreut hat, aber auch an anderen Gesellschaften, – sich vom ethnischen, religiösen Exzeptionalismus wenigstens ein Stück weit fern zu entwickeln. Der Quatsch vom auserwählten Volk ist endgültig beim Übergang vom Judenstaat zum jüdischen Staat zerronnen. Das hat lange vor der Shoah begonnen und wurde im Staat Israel, wie alles andere unvollkommen, realisiert, und scheinbar befestigt. Scheinbar. Leider. Aber natürlich gibt es auch keinen jüdischen Staat, weil gerade der Staat ja es nicht zulässt, ethnisch determiniert zu sein. Der Jüdische Staat meint, geschichtsfortschrittlich, dass jüdische Menschen dort ohne Antisemitismus und Verfolgung als normale Menschen leben sollen und können, leben lernen nach all dem Schrecken. Sie müssen nicht herkommen, sie können. Sie müssen nicht bleiben. Sie müssen sich nicht Jüdisch definieren, um sich israelisch zu verstehen.Wenn man hier angekommen ist, dann stehen zwei Antworten außer Frage: zum einen die Beurteilung von Netanjahu und seiner Bande als religiös-nationalistischen Schurken, faschistoid und en Frieden und die Sicherheit von mehr Menschen gefährdend als gerade in Israel leben; zum andern die Gedankengänge derer, die die rechtsradikale Politik Netanjahus als Replik auf die kriminellen, oft religiös, immer nationalistisch verbrämten Handlungen der Israelfeinde in der Region und weiter her verteidigen. Nicht mein gegenwärtiges Problem.Was mich interessiert, ist wie es dazu kommen konnte. Seit wann der undemokratische Idiotismus sich ausbreiten konnte, und warum. Viele Hinweise gab und gibt es dazu seit langem, aber eben nicht seit je her.Im Lesestoff zur Situation gibt es schon Andeutungen, aber zu wenige, zu schmerzlich ist die akute Zerstörung des geliebten Landes. Auch Forschung und Nachdenken kann zu Widerstand führen und der ist nicht auf das fiktive Land beschränkt.Nur eines ist jetzt schon klar: Judentum ist in seiner Wurzel intentional und nicht in seiner Form verordnet. Deshalb gehören Bibi und seine Halunken nun wirklich nicht zu uns. Das soll uns nicht abhalten, ihn nicht anzuerkennen.(Zweiter Teil folgt)

Strahlen

Niedersachsen Protest gegen russischen Uran-Transport

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/uran-transport-lingen…

Von Rotterdam aus solle das Uran mit einer niederländischen Spedition nach Lingen gebracht werden, so die Atomkraftgegner. Die dortige Brennelementefabrik beliefert Kraftwerke in mehreren europäischen Ländern. Die Anlage ist vom deutschen Atomausstieg ausgenommen. 

Klar, da reden die nicht gerne drüber. Dass wir mit der Anlage Putins Krieg gegen die Ukraine und uns mitfinanzieren. Klar, dass die Ökonomie Felder besetzt, bei denen die Politik immer zu spät kommt. Nicht nur Öl und Halbleiter. Es geht schon um mehr, und die Weiterentwicklung der politischen Ökonomie ist auch ziemlich verdrängt, Zygmunt Bauman und alle anderen. Als hätte Covid, CO² und der Krieg der Russen jede Beweglichkeit zusammenfassenden Denkens behindert, keine Ironie: selten war so viel Klugs zum Thema in den Feuilletons zu lesen, und so wenig tiefgreifend, als würde das Lesen schon die politische Praxis befeuern. Was wiederum ein Problem ist, Gebildet ohne Praxis.

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Der EINZELFALL SAGT WENIG; er ist eine Ausnahme. Aber so wie die verquere Ökonomie die Bestrebungen der Politik nach einer Wende unterminiert, so muss die Politik zumindest in Deutschland nicht wirklich befürchten, durchschaut und kritisiert, angegriffen zu werden. Lingen ist der Regelfall des sogenannten pragmatischen Realismus, der Realpolitik. Und wenn die Russen Nuklearangriffe machen, und wenn die westlichen Kernkraftwerke uns bestrahlen, und wenn…UND WENN ist die Hingabe an das Schicksal, und das zu beeinflussen, zumindest es beeinflussen zu wollen,  hieß schon bei den Griechen HYBRIS. Dass die Russen dabei für ihren Vernichtungskrieg gegen die Ukraine profitieren, ist nicht Sache der deutschen Realpolitik.

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Man könnte einwenden, es gäbe bessere, d.h. moralisch und lebenspraktisch wirkungsvollere Realpolitik und eben schlechtere. Philosophisch ist das interessant, wirklich aber nicht. Denn Lingen gibt’s ja. Ob verstrahlt das Ende der Welt leichter zu ertragen sein wird, steht dahin. Ein spannender Stoff: stirbt man früher als der Klimawandel es eigentlich vorsieht, das kann mehr als eine Generation sein? Oder sind die Strahlenschäden so nachhaltig, dass man lieber ein echtes Ende hätte als eine neoliberale Beschwichtigungspolitik. Überhaupt, was ist ein echtes Ende? Fahrt nach Lingen.

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In einer Zeit einander überbauender Katastrophen, nein eigentlich KatastrophenMELDUNGEN, ist die Abwendung von der Wahrnehmung von Politik gut erklärbar, man will einfach keine Nachrichten mehr hören. Amérys TERROR DER AKTUALITÄT ist keine Fantasie gewesen. Man klammert sich an eine Vertikale der Macht, die nicht Putin meint, sondern gleich von Gott absteigt oder wenigstens die CSU oben lässt und den Pöbel unten, und das beruhigt bis zum nächsten Schock. Und dann kommt es wieder… aber mal aufrichtig: DENKEN braucht Zeit, wenigstens so viel, bis sich der Gedanke festigt und verteidigen kann. Das Ordnen von Meldungen kann ein erster Zeitgewinn sein.

Deutschland im Mittelfeld

Dass man nicht Spitzenreiter beim Verein der Diktaturen sein möchte, ist den Menschen verständlich zu machen. Was aber, wenn eine große, wirtschaftlich ganz schön starke Nation, anfängt sich zu fragen, wo sie denn vorne sein will, wo sie das kann, und wo ihr Platz ist unter lauter Unsympathen.

Diese Fragen wälzen sich mehr oder weniger verkleidet und haarig im Bewusstsein und in der Aufmerksamkeit eines vom Krisenüberhang geschüttelten Volkes.

Gehen wir davon aus, dass alle Selbstzuschreibungen FIRST, ZUERST, OBEN etc. entweder diskriminierend oder blöde oder falsch sind. Das stimmt nicht für gemessene oder wahrgenommene Reihungen, aber immer für die Eingliederung in ein oberstes, bestes, wichtigstes Kollektiv. „Ich gehöre „DAZU“…wozu? Na, dazu, zu den Deutschen, zu den Besten, zu den …“.

Beispiele aus dem Sport (IOC, UEFA), der Religion (alle Konfessionen, die national Einfluss auf die Politik haben), auch innerhalb der Familie, der Clans etc. gehen aus von der Vertikale der Macht, und die ist nicht nur eine Erfindung von Putin, Orban und Konsorten. Es gibt dazu wissenschaftliche Studien und Kritik, z.B. zum amerikanischen Exceptionalism (Danner 2011, Danner 2022), und Deutschland war immer schon vorne…oder etwa nicht?

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Wer vorne ist hat andere hinter sich, wer oben ist hat andere unter sich. Viele wollen niemanden über sich haben. Darum der Wettkampf um Reihungen, Platzierungen und relative Suprematie. WIE GUT SIND WIR „EIGENTLICH“ und wie gut sind wir „WIRKLICH“, und warum wollen wir gut sein, besser sein, oben sein?

(Man könnte in der Anthropologie und Sozialwissenschaft ganze Institute zur Beantwortung dieser Fragen einrichten).

Nun sagt der von mir sehr geschätzte Alexander Kluge, einer der letzten Großintellektuellen der älteren Generation, in Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod , (https://de.wikipedia.org/wiki/In_Gefahr_und_größter_Not_bringt_…). Aber das ist der Weg und nicht der Platz im System.

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So, worum geht es mir jetzt? Um Deutschland. Das Bildungssystem ist seit Jahrzehnten miserabel, die Universitäten sind in der Lehre und der Nachwuchspolitik schlecht, das Gesundheitssystem zerbricht, die Briefzustellung funktioniert nicht und die Deutsche Bahn erst in 30 Jahren, von kleinen Patentzahlen und IT-Entwicklung gar nicht zu reden (das Internet funktioniert in weiten Teilen Deutschlands schlechter als in vielen Drittweltstaaten).

Na und?

Der Mittelweg, das dauernde zentral-föderal-lokale Gequacke, angeblich verfassungskonform, in Wirklichkeit entscheidungsfaul, und undemokratisch, bringt Deutschland in die Misere. Man muss schon nach oben, zum Besseren, zum Richtigen sich entscheiden, es beschließen und durchsetzen. Es ist undemokratisch, wenn die neoliberalen Motortrotteln weiter Autobahnen bauen, das Land zupflastern, CO² produzieren wollen, nur um ihre Klientel zu behalten (nach last, sondern LOST GENERATION), und leider ist das nicht nur die FDP.

Es ist undemokratisch, auf der Jugendauslese durch das teutsche Gümnasium zu setzen und die Kinder der Ärmeren in schlecht ausgestatteten und unterbesetzten Schulen vergammeln zu lassen.

Es ist undemokratisch, ein Zweiklassensystem im Gesundheitswesen zu fördern, nur damit die Privatzahler angeblich bessere, de facto nur teurere Behandlung erhalten.

Und es ist grauenvoll, den armen Ländern gut ausgebildete Arbeitskräfte abzupressen, anstatt hier eine effektive und ständig erneuerte Berufsausbildung zu machen.

Die Liste ist länger, ich weiß. Man kann nicht alles zugleich machen? DOCH, MAN KANN. Z.B. mit Demokratie, und zu der gehören Entscheidungen.

Und das hat auch damit zu tun, dass wir keiner Hinsicht eine Ausnahme sind.

Warum nicht Annalena statt neoliberal?

Manchmal ist es gute, Bekannte aus früheren Zeiten und von anderen Planeten wieder zu treffen. Christiane Lemke, vor Jahrzehnten Harvard, New York, Hannover…und immer kollegial verbunden. Und jetzt das: Annalena Baerbock wird weiter an die amerikanische Denkszene vermittelt, mit Recht zum Frauen Tag.

No Vodka for Lunch

Christiane Lemke

Leibniz University Hannover

Germany’s Feminist Foreign Policy as Part of the Zeitenwende

Reports about German foreign minister Annalena Baerbock’s first visit to Moscow on January 18, 2022, recorded that she told Russian foreign minister Sergei Lavrov that she did not need vodka for lunch as a test of stamina, because she had given birth to two children, adding that 100,000 Russian soldiers at the border of Ukraine presented a vital threat and that the West would react accordingly.[1] This clear warning came right before Russia’s invasion of Ukraine and demonstrates her bold and principled approach to foreign policy.

A year after chancellor Olaf Scholz’s proclamation of the Zeitenwende, new guidelines for a feminist foreign policy add to the sweeping changes encountered in German politics. The guidelines, announced jointly by Baerbock and SPD-Development Minister, Svenja Schulze, emphasize the value-based approach prevalent in the SPD-Green-FDP government coalition. The goal is to increase women’s representation in external relations, to support the rights of women and children worldwide, and to dedicate resources to promoting equality of women and men. While this move did not come entirely unexpected since the coalition agreement of the “Ampel-Koalition” in 2021 already included a subchapter on feminist foreign policy, its proclamation in the middle of the brutal war on the European continent raises questions about its feasibility and chances of implementation. How effective can this policy be when security issues dominate the political agenda? What are the goals and which consequences follow for Germany’s position in global politics?

While Baerbock is certainly in favor of women’s representation and their rights, and she strongly supports a rules-based approach in external relations based on international law and human rights, her approach is principled but also more pragmatic.

To be sure, the concept of feminist foreign policy is not new. In fact, it has become a crucial strategy in international organizations, above all the United Nations, where UN-resolution 1325 adopted in the year 2000 called for a new strategy to protect the rights of women and girls worldwide, increase women’s representation in international organizations, and include women in peace negotiations, reparation settlements, and transitional justice processes. Following this resolution, several UN-member nations have implemented guidelines for an increasing inclusion of women in the realm of foreign policy and the strengthening of women’s rights globally. Swedish foreign minister Margot Wallström is credited with introducing the first encompassing policy guidelines for a new feminist foreign policy on the national level in 2014 and several countries followed suit, including Canada, Chile, France, Mexico, Spain, and now Germany.

This move, however, has sparked highly controversial debates in the German parliament and media even before the guidelines were published. While foreign minister Baerbock stressed that introducing a decisive concept to promote women’s rights is not a “revolution” but a self-evident move (Selbstverständlichkeit), the framing of the policy as “feminist” was quite controversial. For example, the Free Democrats, the smaller coalition partner, were so irritated that they insisted on using the English term rather than German in the coalition agreement.[2] Shortly thereafter, the leader of the center-right opposition party, Friedrich Merz (CDU), fiercely attacked feminist foreign policy in a parliamentary debate exclaiming that no money should ever be spent for this policy. It is reported that Minister Baerbock was not too happy about this term because of its ambiguity and ideological connotation.[3] While she is certainly in favor of women’s representation and their rights, and she strongly supports a rules-based approach in external relations based on international law and human rights, her approach is principled but also more pragmatic.

According to empirical studies, peace settlements including women prove to be more durable than those negotiated by men only. This finding could be crucial for a peace settlement in Ukraine. Women not only bear the brunt of taking care of children and the elderly during the war—the overwhelming majority of the more than one million Ukrainian refugees in Germany are women and children—but many of them also fight at the front to defend their country. There is no question that their representation in peace talks is essential. Another important feature is reporting on and following up on war crimes committed in Ukraine. Reports about the systematic rape of women and children in cities such as Bucha are already being chronicled so the perpetrators can be prosecuted. German political representatives, including the foreign minister, have supported these efforts calling for an international tribunal to investigate the gruesome war crimes, including rape as a weapon of war, and to bring perpetrators to justice. Baerbock was the first member of the German cabinet to travel to Bucha calling for an international investigation of Russian war crimes.

In relations with countries of the Global South which are in the jurisdiction of German development policy, many projects supporting the needs of women and girls and promoting women’s life chances, including their health and education, are already underway. In other cases, changes based on feminist foreign policy may be much harder to accomplish. What about those countries where women’s rights are openly rejected, such as Qatar, or, even more difficult, countries with clerical-patriarchal power structures such as Afghanistan, Iran, and Saudi-Arabia? How can German foreign policy support women’s modes of resistance to patriarchy in deeply traditional societies?

According to political convention, foreign policy primarily aims at promoting national interests. It is certainly one of the toughest policy fields in any government. In the German case, a combination of historically informed values, goals, and concepts have also played a major role in shaping external relations. The Ampel-coalition is no exception. With Annalena Baerbock in office, a new departure in foreign policy is marking the Zeitenwende. She is not only the first woman heading the foreign office, but she also has the stamina to make a difference and to promote the rights of women. Feminist foreign policy clearly indicates a new avenue with promising prospects, but its impact on external relations has yet to unfold.


[1] Anja Jardin, “Annalena Baerbock lotet ihre Macht aus,“ Neue Züricher Zeitung, 17 February 2023, p. 4.

[2] The text reads: „Gemeinsam mit unseren Partnern wollen wir im Sinne einer Feminist Foreign Policy Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit stärken und gesellschaftliche Diversität fördern. Wir wollen mehr Frauen in internationale Führungspositionen entsenden, den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Resolution 1325 ambitioniert umsetzen und weiterentwickeln.“  Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (2021), p. 144.

[3] See Anja Jardin, “Annalena Baerbock lotet ihre Macht aus,“ Neue Züricher Zeitung, 17 February 2023, p. 1, 4, 5.


This article is part of the Society, Culture & Politics Program’s AICGS 40th anniversary series.

Finis terrae: wieder Terror der Aktualität

+ Grüne an SPD: „Sagt nein zu Benzin und Beton“ + Prominentester Wal-Berliner „Moby Dick“ kehrt zurück nach Tegel + Neuköllner Restaurant wegen Kakerlaken geschlossen + (Tagesspiegel Kurzstrecke 9.3.23)

Zu jeder dieser Überschriften können wir eine Glosse schreiben…

Am 20.2.2022 habe ich einen Blog geschrieben Terror der Aktualität – Angst vor der Wirklichkeit. Bitte lest ihn nach und kritisiert die Kurzschlüssigkeit der  Forderung nach Helsinki II, oder teilt, aber jedenfalls setzt euch mit dem Begriff auseinander….Terror…Aktualität.

Natürlich sind die Themen vom Tagesspiegel austauschbar, und Zeitungen müssen aktuell sein. Kein Problem, ABER. Glossen im Ausnahmezustand, im Krieg, sind tückisch. Sie werden uns von der nächsten Generation an den Kopf geworfen, wenn sie die Wirklichkeit verdrängen. Andererseits: ohne den Blick auf die kleinen Wirklichkeiten wird der bloße Anblick der großen Wirklichkeit, und die ist nicht nur der Krieg Russlands gegen die Ukraine und den Westen, die ist auch die Zerstörung der Demokratie durch die verbrecherischen Banden von Netanjahu. Und es lässt sich noch mehr finden an der „großen“ Wirklichkeit.

Über die darf und kann es nicht alltägliche Glossen geben, die dürfen daneben bestehen, aber eben nicht im Kontext von Ablenkung oder gar der Trennung von Wir und Sie, wobei wir zwar spenden, mitfühlen und uns ängstigen, sie aber kämpfen, sterben und leiden.

Das ist schwierig. Das moderierende Gehampel in weiten Bereichen der Politik bekümmert mich. „In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod“ (Friedrich von Logau im 17. Jahrhundert ! und natürlich Alexander Kluge und Edgar Reitz 1974). Das kann man rückschauend auch als Kritik an Merkel und Schröder sehen, man kann etwas schärfer den Vorzug der Wirtschaft vor der Politik in den Blick nehmen, der lange Zeit auf Russland gesetzt hatte, das was die blöden Neoliberalen als Markt verunstalten, man kann noch weiter ausholen…ABER. Das lenkt vielleicht auch vom Jetzt ab, von der Wirklichkeit des Tötens, Sterbens, und von der Wirklichkeit des Klimawandels (Benzin und Beton, siehe oben). Wenn man nicht an den beliebten Ausflugdampfer Moby Dick denkt, sondern an die Geschichte vom Wal und, dann passt da auch einiges an der Kritik der Hybris, die auch hier (noch) vorherrscht (Moby Dick, siehe oben). Glaubt ihr nicht auch, dass es schon jetzt um bestimmte Formen des Überlebens geht, in einem Krieg, der woanders heftige Kämpfe, bei uns aber tiefe Spuren im gesellschaftlichen Zusammenhalt bewirkt? Kakerlaken zum Essen, die Symbolik vernachlässigter Hygiene ist schon in Friedenszeiten ein Alarmzeichen, wobei die Kakerlaken ja harmlos sind gegen Flöhe und Läuse, wenn man kein sauberes Wasser hat, sich zu waschen. Weit hergeholt? Ich habs im Kosovo und Afghanistan „erlebt“, und Berliner können die Ableitung dieser Gedanken erleben (siehe oben).

Das ist eine Übung gegen die Hysterie. Den Tagesspiegel hab ich herausgegriffen. Auch gegen den Terror der Aktualität. Denn der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist so wenig aktuell wie die Entwicklung in Israel, wie…und wie der Klimawandel, wenn auch nicht im Detail. Darum geht’s aber, beinahe ums Ganze: wir müssen verantwortungsbewusst ergänzen, was wir schon wissen können, und uns nicht überfahren fühlen. Sonst vernebelt die Hysterie der unlösbaren Aufgaben unser Bewusstsein und wir schließen die Augen vor der Aktualität.

Luftkreuz Kreuzfahrt Kreuzungsfrei

Die Konjunktur zieht an. Flugreisen und Kreuzfahrtbuchungen erreichen den VorCovid-Stand. Ist doch gut, der Tourismus? Und dass die menschenfeindlichen Onlinekonferenzen im Business auch zurückgehen und man wieder zu den kurzfristigen Diskussionen fliegen kann, erlöst von der Enge des familiären Zusammenseins, nicht wahr?

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Bevor mich jemand der vereinfachenden Taktik kritisiert: ich stimme der Kritik zu, aber Vorsicht! Die beiden Beobachtungen am Beginn müssten sehr viel härter, die Kritik sehr viel schärfer geäußert werden, wollte man sie angemessen formulieren.

Der Irrtum vieler Menschen, von der Politik populistisch unterstützt, besteht darin zu glauben, dass man das 1, 5° Ziel ohne Einbußen an Wohlstand, Komfort, Faulheit etc. hinbekommen, nur durch Zustimmung zur politischen Strategie. Und die ist ja fragil, weil nicht klar ist, warum sich nur die Deutschen – oder andere Heimatstaaten v.a. im Norden der Erdkugel – daran halten wollen. Und andere Umweltrabatte bekommen, die alle Anstrengungen zunichte machen. Da fahren wir doch lieber auf die Malediven…(nichts gegen die Malediven, siehe gleich im übernächsten Absatz).

Die Verkehrsdreckschleudern, hochsubventioniert, Prestigeobjekte, werden noch dadurch gefördert, dass die neoliberalen Marktidioten auch noch den Straßenverkehr und -bau ankurbeln wollen, um der staatlichen gelenkten Umweltpolitik einen Riegel mehr vorzuschieben.

Für Urlaubsreisen gilt, dass man sie ja nicht verbieten oder einstellen soll, sondern reduzieren. Nicht dreimal im Jahr fliegen, sondern vielleicht nur ein- oder zweimal. Bei Geschäftsreisen gilt ähnliches. Und bei den Kreuzfahrten ist schon zu überlegen, ob diese Umweltdreckschleudern nicht durch bessere Meeresbegegnungen ersetzt werden können. Natürlich darf, soll, kann man auch auf die Malediven fliegen. Aber nicht so oft. Das Nichtsooft und so intensiv und vielleicht auch Nichtsobequem sind gesellschaftliche Habitusveränderungen, die weder der Staat noch der Markt einfach „so“ regulieren können. Es geht nicht um eine asketische Verhaltensänderung, sondern um eine Abkehr von der Werbungs- und Influencergläubigkeit. Das ist eine Frage der Bildung, der Erziehung und des Nachdenkens. Das ist auch eine Frage der Alternativen.

Und die müssen aus der Gesellschaft kommen. Nicht nur grün wählen und dann abfliegen.

Keine Vorurteile gegen mich, bitte, der ich Kreuzfahrten und Urlaubsflüge ablehne. Auch meine früher geliebte Skisaison fällt seit langem aus, nicht nur wegen Schneemangels. Schneekanonen versauen die Umwelt noch viel mehr als die hässlichen Lifttrassen. Was es nicht alles gibt, das unserer Umwelt schadet und nur Events, aber kein dauerhaftes Erleben garantiert. Ganz so falsch sind die Variationen des „Du musst dein Leben ändern“ nicht, sonst würde man im Kleinbürgermief der so glaubwürdigen Tradition des Immerschonso verschimmeln.

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Heute morgen gab es im DLF ein makro-Beispiel: warum muss eine neue, ackervernichtende IT-Firma ebenerdig bauen, statt platzsparend mehrstöckig? Oder: Wissing betoniert den Grund und Boden zu, während bestehende Brücken und Straßen verfallen. Wer nicht mehr atmen kann und will, dem raten wir, die dauermaskierten Megastädte zu gehen, da kann man auch hinfliegen (In Bangkok wird die Maskenpflicht aus Umweltgründen wieder eingeführt, nicht wegen CoVid). Es gibt viel zu tun, aber die Politik ist ohne die Zivilgesellschaft handlungslahm. Aber nicht aus der Verantwortung.

Vermintes Gelände? Israel und Umgebung

Israel und Faschismus? Araber und Faschismus? – Dumme Doppelhelix. Darf man, darf ich, solche Begriffe gebrauchen? Ich denke, man darf und muss, v.a. um die Schutzmauern exzeptionalistischer=mit Ausnahmestatus versehener, „besonderer“ Menschengruppen durchlässig zu machen. Und was Faschismus betrifft – keine Menschengruppe, keine Gesellschaft, kein Staat ist vor ihm gefeit, die illiberalen Demokratien auch in Europa geben davon Zeugnis.

Israel beendet mit großen Schritten die besondere Beziehung zur deutschen Geschichtsbearbeitung und Demokratie. Gottseidank gibt es IN Israel (fast) hinreichend viele Proteste und Widerstand gegen die Koalition von religiös-faschistischen Ultraorthodoxen und säkular-kleinstbürgerlichen Landräubern aus den Siedlungen. Und Überschneidungen beider Lager, angereichert von einer Wählergruppe, die mir wichtiger erscheint: denen, die schlicht sagen „mir reicht es“ und die Demokratie eintauschen wollen gegen die Klarheit einer Vertikale der Macht.

Finanzminister Motrich, der auch für den Siedlungsausbau im Westjordanland zuständig ist, sagte bei einer Konferenz der Wirtschaftszeitung „The Marker“: „Ich denke, das Dorf Huwara muss ausradiert werden. Ich denke, der Staat Israel muss dies tun – um Gottes Willen keine Privatleute.“ (dpa, 1.3.23)

Es kommt nur bedingt auf die ständig wiederholte Frage an, wer hat (was?) angefangen. Für die Konflikte zwischen Israel und seinen Nachbarn, Arabern und Palästinensern, hat es so viele Anfänge gegeben, dass man wenigstens um die Arbeitslosigkeit von Historikern nicht fürchten muss. Wenn der kleine Gauner Netanjahu sich die Regierung mit einer nationalfaschistischen und religiösen Machtteilung erkauft, um seine letzten Lebensjahre im Prunknebel zu verbringen, ist das zu kurz gedacht. Er verkörpert auch die gefühlte Sicherheit, dass die westlichen Demokratien schon durch Hinweis auf die Shoah und die Gründung des Staates Israel ihn vielleicht kritisieren, aber niemals fallen lassen (obwohl sie das teilweise längst getan haben, aber auch hier sind die Zeichen schwer zu lesen).

Zur jetzigen Situation haben die Kriege weniger beigetragen als gemeinhin angenommen wird. Auch ist die Politik der jetzigen Regierung nur teilweise ein revanche-orientierte Reaktion auf den Raketenbeschuss durch Hamas und andere Gräueltaten. Die Außenpolitik erklärt einiges zusätzlich, gegen den Iran bedeutet Kooperation mit anderen islamischen Araberstaaten. Die Innenpolitik erklärt noch einmal zusätzlich, dass viele Israeli alles Mögliche mehr im Sinn haben als die Legitimation von Politik durch die Überlebensvision nach der Shoah, die ja teilweise zwar zitiert, aber nicht über die Generationen hinweg erinnert wird. Auch kann man verfolgen, welchen Einfluss die Veränderungen der Bewohner des Landes, Ashekansim vs. Sfaradim, ex-sowjet-Einwanderer etc., auf die politische Zusammensetzung der Demokratie gehabt haben. Wir reden zu ungenau einmal vom Jüdischen Staat, einmal vom Jüdischen Volk, und einmal von der geopolitischen Konstellation, alle gegen alle ausspielt.

Und nach diesem Analysemuster kann man die Politik der palästinensischen Führung und die teilweise aggressive, teilweise opportunistische Nichtpolitik der umgebenden Staaten analog als Konglomerat nicht zueinander passendender Erklärung betrachten.

BDS und andere eher widerwärtige Israelfeinde sind da ebenso wenig erhellend wie die mühsam verdeckte Verachtung der nicht jüdischen und nicht israelischen Systemumgebung des unantastbaren Staates bei gleichzeitigem Ausblenden einer Gesellschaft, deren Entwicklung man nicht unbedingt und im Detail voraussehen wollte und konnte.

Shimon Stein und Moshe Zimmermann haben gestern in der ZEIT einige Erklärungen versucht, die denkenswert sind. (2.3.2023, S. 7). „Solidarität heißt nicht Schweigen“. Im Fazit steht hier, dass zwar die Würde der Menschen unantastbar ist (Deutsches Grundgesetz und Wahrheit), aber nicht die Politik Israels.

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Als jüdischer Deutscher und Österreicher denke ich, dass man – in einer Situation um sich greifender rechtsnationaler Mentalität in westlichen Demokratien – nicht schweigen darf. Nicht nur die nicht-jüdischen Bevölkerungsgruppen in Israel stehen auf dem Spiel, nicht nur der Hoffnungspunkt, dass wir wenigstens dieses Land als Anker möglicher Zukunft immer haben werden, nicht nur der Vorrang von Demokratie vor geopolitischem Opportunismus. Auch steht zur Debatte, wie weit die deutsche Selbsttäuschung über den verarbeiteten Holocaust und die wirklichen Lehren auch aus unserer Geschichte zu prüfen, zu kritisieren und zu ändern sind.

Dazu reicht es nicht, Meinungen zur „Justizreform“, zur Todesstrafe, zum rassistischen Vorzug jüdischer vor anderen menschlichen Bevölkerungsteile Israels zu entwickeln, es reicht auch nicht, korrekt und differenziert mehr als nur Pauschales dazu zu wissen. Die Meinungen müssen politische Konsequenzen haben.

Dazu gehört jetzt dringend, das Thema, die Wirklichkeit in Israel zu veröffentlichen, und mit denen solidarisch zu sein, die den faschistischen Spuk hoffentlich bald überwunden haben. Dazu gehört auch, verdeckte oder offene Ent-Schuldigungen für die „anderen“ Seiten – in Israel, in der geopolitischen Umgebung, im Spiel der Welt- und Großmächte nicht zu planieren. „Alle sind schuld“ gehört zum Jargon deutscher Selbstentschuldigung, so wie bei der Samstagdemonstration zum Russenkrieg gegen die Ukraine, so wie zur sich ausbreitenden Festungsmentalität gegenüber Asylsuchenden,  so wie…

Das So Wie ist nicht ein umfassender Vergleichsmodus, sondern der Hinweis, dass das, was in und mit Israel geschieht, keine Insel in Wahrnehmung und Handlung ist.

Nachsatz: Für alle Religionen, die staatliche Ansprüche stellen, für alle, Christen, Juden, Muslime, Hindus, etc. gilt, dass sie ihre konstruierten Gottesansprüche missbrauchen. Auch das müsste man gerade im deutsch-israelischen Verhältnis bedenken.

Gestatten Bestatter

Der Frühling ist gekommen, die Bäume treiben aus, auf den Gräbern wachsen die ersten Krokus, und alles schaut für die am besten aus, die gerade noch nicht am Sterben sind. Die andern sterben sich leicht, im Frühling, wenn die Kräfte erschöpft und die Erwartungen noch unter der Schneedecke sind. Das Bestattungswesen treibt aus wie die Sträucher am Ufer der Lethe, der Mnemosyne oder auch des Styx oder Acheron. Wer aus der Lethe trinkt, verliert alle Erinnerung, Wer aus der Mnemosyne trinkt, hingegen erinnert sich an alles, und die Flüsse ins Totenreich zu überqueren hat mehr symbolische Bedeutungen als wir uns lebend vorstellen können…Ach, wenn es noch so einfach wäre. Da haben die Kolonisten der einfältigen Glaubenslehren erst ein Jenseits erfunden, das unsere irdischen Unzulänglichkeiten kompensieren soll, und dann ist der Weg dahin mit Stacheln und Amtsgerichten bewehrt, die dafür sorgen, dass ohnedies fast niemand ins Paradies kommt; auch damit die Seligen nicht am Harfengetöse verzweifeln. Wer aber in die Hölle kommt, den erwarten nicht nur massenhafte Akkordeonmissklänge, wie Gary behauptet, sondern auch noch Einsicht ins eigene Versagen und die falsche Temperatur. Angesichts dieser Aussichten bleiben wir lieber am und im Leben?!

Wenn aber dann doch gestorben wird, nebbich, er erwischt uns alle, wenn der so genannte Tod endlich aus der Kulturbühne verschwindet und jeder einzelne gestorben sein wird, dann wird dem so Verstorbenen meist eine Verabschiedung ins und am Grab verordnet, die die Überlebenden wahlweise tröstet, noch trauriger oder auch gleichgültiger macht, je nach unwiederbringlichem Lebenslauf der jeweils Vergrabenen, Verbrannten, aschig Verstreuten. Und was sagt man da, was sagt wer, wenn diese Trennung erfolgt, zugleich ein Übergang zwischen dem jeweils gerade Gestorbenen und den Überlebenden?

Dazu gibt es viele Texte, Gebetbücher, Grabrhetorik und Begräbnisritualistik. Aber nicht so viel brauchbares, weil die Überlebenden, doch gerne an ein Leben jenseits des Sterbens glauben wollen und sich deshalb der Wahrheit ungern nähern. So. Obwohl: die Begräbnisrhetorik nimmt zu, die Wahrheit rückt und drückt näher. Viele fühlen sich als GrabrednerInnen berufen, wenige sind auserwählt. Einen der besten stelle ich euch vor.

Schon weil das Buch Sorella Morte heißt. https://www.splitter.co.at/edition-splitter/  von Hannes Benedetto Pircher Über den Tod und das gute Leben Betrachtungen eines Grabredners 2. Auflage 240 Seiten Wien 2017 ISBN 978-3-9504404-0-9 Wonach fragt, wer nach »dem guten Leben« fragt? (Kann man bei mir auch bestellen – M.D. )

Was ich euch vorstelle, ist ein Buch, dessen Titel alles vorhersagt und ganz anders ist. Das fängt schon damit an, dass der Tod weiblich ist. Das habe ich schon bei Saramago entdeckt, dass DER Tod eine nur fraktale Konstruktion ist, und DIE Tod, Tod&Teufel, genauso wahrscheinlich ist, es handelt sich ja nur um die Lebenden…(Saramago 2007). Und der Pircher kommt in meinem neuen Buch im gleichen Verlag intensiv vor. Ich hatte ihn als Präzeptor des Ritus kennengelernt, jetzt ist er mein Freund and Begleiter bei der Trennung von Tod und Sterben. Trivial? Mitnichten. Wenn einer Theologe war, und Grabredner wurde, dann ist das nicht zufällig. Eben diese Trennung ist für ihn entscheidend. Wenn ein Mensch gestorben ist, hat der Tod sein Recht verloren. Es gibt den/die Gestorbene(n= und die Überlebenden, also die noch nicht Gestorbenen. Und für den Augenblick des Abschieds gilt der Mythos des konstruierten Todes wenig. Da wird das Gedächtnis bemüht, die Erinnerung, und was die Gestorbenen mit den noch Lebenden gemacht oder versäumt haben, was sie post mortem nachholen wollen müssen dürfen, was sie den Gestorbenen in die Asche nachrufen, und welches Echo sie von drüben erwarten, kommt es doch nur von hüben.

Der Grabredner muss ja mit den Lebenden verabreden, was und worüber er sprechen soll, und dann kommt etwas ganz anderes heraus, als die Trauerfamilie, die Freunde, die Funeralbeiwohner aller Arten erwarten, weil sie von den Worten herausgerissen werden aus den Vorstellungen, was richtig wäre, und in die Wirklichkeit gestoßen, da gibts nur eine Wirklichkeit, nur eine, die jetzt erlebt wird, gelebt wird. Und keine einzelne Rede sei hier auch nur zitiert, denn anders als bei den Bildern des Todes, bei der großen Metapher von Liebe&Tod, bei patria o muerte, ist alles Sterben immer und ausnahmslos je ein Mensch. Echtes Geboren-Werden, echtes Sterben, nicht unter die Kriegerdenkmäler zu summieren und auf den Todesäckern und Massengräbern abzuschleifen. Nein. Jeder stirbt, nicht für sich allein, aber allein.

Pircher gewinnt seine Lebensfreude, seine Lebendigkeit aus der sensiblen Kommunikation mit den Lebenden, die den Gestorbenen etwas sagen wollen, worüber sie davor oft nicht geredet haben. Und diese Kommunikation macht zwar den Abschied nicht leichter, aber das Leben darüber hinaus, das man ändern kann, wenn schon niemals das abgelebte Leben der Gestorbenen.

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In mehreren TV Sendungen, die ich während der heutigen Schreibpausen gesehen habe, war von Tod und Sterben die Rede, und das Bild. Zufall, vielleicht, gerade heute. Oder heute und immer? Jedenfalls ist die Wirklichkeit des Sterbenmüssens, oft vor der Zeit, jenseits der Sentimentalität, die das Gerede vom Tod so oft vermittelt. Und was heißt „vor der Zeit“. Immer.

Im Fernsehen der Film „Was uns am Leben hält“ von David Sieveking über und mit Gerald Uhlig und dessen Sterbensumgebung, die Leben heißt, am Leben ist bis zum letzten Moment Was uns am Leben hält – 3sat-Mediathek von 2021. Das passt als Dokumentation zu Benedetto Pirchers Reden mit den und an die Lebenden. Was ist das gute Leben? Eine Antwort wird leichter, wenn man angesichts des nichtrückholbaren Sterbens eines anderen Menschen nicht mehr ausweichen kann.

Der Grabredner spricht mit den Überlebenden, und seine Kunst ist es, ihnen klarzumachen, was sie angesichts des Abschieds, des Verlusts oder auch der Erleichterung über das Hinscheiden zu sagen haben. Nur Lebende haben etwas zu sagen. Das klingt einfach. Ist es aber nicht. Was vor der Grabrede mit den Betroffenen gesprochen wird, bildet in der Grabrede die Brücke aus der nunmehr schon angetretenen Vergangenheit der Gestorbenen in die Zukunft der Überlebenden. Und Zukunft ohne Erinnerung ist nicht vorstellbar. Das Gute Leben, das kommen kann, wird ohne die Erinnerung nicht kommen oder nicht gut sein. In keinem Fall kann es jenseitig sein, also bleibt es unter uns. „Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, dass es mir nicht gelingen will, ein Jenseits des Lebens anders als als Diesseits des Todes zu denken“ sagt Pircher, S. 61.

Da ist er jetzt, der Tod. Das Sterben löscht auch ihn aus, nur solange wir leben, kann er uns als Bestandteil der Kultur begleiten, manchmal gehört er zum Guten Leben, wir sterben ja nicht, wenn wir Romeo und Julia sehen oder den Jedermann… manchmal zum schlechten Leben, zum Unglück, wenn wir uns die Lebendigkeit versagen, damit uns der Tod nicht einholt, was dann „heimholen“ heißt.

Pirchers Buch ist oft die Reflexion auf das Ergebnis seiner mehr als 5000 Grabreden. Was haben sie bewirkt, wie denke ich weiter, haben sie ein Stück des guten Lebens gebracht, ohne die Trauer wegzuwischen?

Vor kurzem habe einer künftigen Grabrednerin Zuspruch gebloggt. Tod ist nicht Sterben, 12.2.2023. Dem Pircher kann ich nur wünschen, dass sein Zuspruch weiter zum Guten Leben der Hinterbliebenen beiträgt, das hilft auch dem Erinnern der Gestorbenen.

Saramago, J. (2007). Eine Zeit ohne Tod  Reinbek, Rowohlt.

michaeldaxner.com Tod ist nicht sterben, 12.2.2023

David Sieveking: Was uns am Leben hält, 3sat Mediathek, ab 1.3.2023

Demnächst erscheint Michael Daxner: Flanieren im Mythos – Sexualität und Gewalt, edition splitter, Wien 2023. Da gehts auch um Tod und Sterben.