Ball weg! Eigentor

VOR VIER TAGEN 30.8.2020 HABE ICH DIESEN TEXT BEGONNEN, HEUTE 2.9.2020 SETZE ICH IHN FORT

An Intelligenz und politischem Verständnis ist Kanzlerin Merkel ihrer Regierung und vielen anderen Politiker*innen weit voraus. Das kann man gerade dann sagen, wenn man von der CDU/CSU Dominanz und ihrer Umsetzung wenig hält. Und es hilft auch nicht, die Charts der Dummköpfe immer nach den letzten Ausfällen (Haseloffs Maskenverzicht im unnötigen Land Sachsen-Anhalt) neu anordnet: nach unten ist keine Grenze gesetzt.

Selbst hartnäckigen Konservativen wird klar, wie bedeutsam der institutionelle Widerstand gegen personalisierte Dummheit ist. Das wird an vielen Gerichten und Behördenentscheidungen in den USA deutlicher als bei uns, gilt aber hier auch. Umgekehrt ist die Macht der Körperkulisse durch die sozialen Medien und die digitale Entwertung von Nachrichten aus der Wirklichkeit gewachsen.

Wann immer die Grundrechte missbraucht werden, um sie einzuschränken und letztlich abzuschaffen, wird auf die grandiose Schwäche der Demokratie verwiesen, die eben dies zuließe, weil sie a) dem Volkswillen eine Grundlage gäbe und b) die, diese Freiheiten (schon, jetzt schon) leben, die Grenzen ihrer Lebenswelt aufzeigen.

Oder anders: wenn angeklagt wird, dass es die Eliten sind, die die Freiheiten vehement verteidigen, dann oft mit dem Argument, dass es nur „ihre“ Freiheiten seien, und das Volk ja ganz andere in Anspruch zu nehmen wünsche. Dass also das Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt), in Anspruch genommen werden kann ohne Ansehen der Resilienz eben dieses Rechts.

Es geht hier nur scheinbar um die heutige oder morgige Demonstration (also am Wochenende 30./31.8.) von Impfgegnern-Nazis-Coronaleugnern in Berlin. Zu der äußere ich mich nicht,  weil die Konfliktlinie zwischen Freiheitsrechten und Lebensschutz nicht auf der Ebene von dogmatischer Abwägung diskutiert werden sollte. Es geht um sehr viel mehr, und der kurzfristige Triumph der Verwaltungsgerichtentscheidungen ist nur ein Brandbeschleuniger einer ganz anderen Konfliktkonstellation.

Wie hier schon mehrfach angesprochen, ist in einer Republik, die demokratisch begründet wird, der Widerspruch von Freiheit und Demokratie fast strukturell angelegt („fast“ im Sinne von alternativlos). Freiheit wird gesetzt wo und indem man verhindern will, dass der Volkswille sie außer Kraft setzt.

(Vergessen wir nicht, nicht nur Hitler wurde gewählt, mehr als einmal, auch andere Diktatoren nutzen das Ergebnis von umgesetzten Freiheiten zu ihrer Abschaffung, Modi, Erdögan, Trump… Es sind Diktatoren,  die ihre Länder in Diktaturen umwandeln. Deshalb müssen wir Russland oder China mit anderen Maßstäben messen, dort werden Freiheiten nicht mehr kontrafaktisch eingesetzt).

Die USA sind ein gutes, weil lang haftendes und andauerndes Beispiel, dass die Freiheit derer, „die im Licht sind“ (Brecht), oft und zu Recht ein Vorbild für den Rest der Welt  war und ist, während die Demokratie die gleichen Freiheiten si missbraucht hat, dass Rassismus noch 160 Jahre nach der Sklaverei nicht nur Schwarze, auch andere Nicht-Weiße UND arme Weiße ständig und stark akklamiert missbraucht (ich sage bewusst Schwarze, weil sich die minoritäre Differenzierung nur zur Abschwächung des Grundtatbestandes der Diskriminierung missbrauchen lässt. In diesem Fall). Eine der heute heftigst diskutierten Konsequenzen ist der wissenschaftliche, philosophische, alltagsverständliche Zweifel an den Formen der Demokratie, die bei uns dominieren.

„Demokratie herrscht nicht“, hatte mein Freund Erich Fried formuliert. Ich glaube heute, dass er das damit meinte.

Bei allen diskutierten Krisen und Ausnahmezuständen besteht ein selten ausgesprochenes, aber latent nachweisbares Bedürfnis nach autoritären und effektiven Konfliktlösungen. (Gerade bei denen, die die Freiheiten nicht Einzelfall-bezogen hochhalten). Wer sich dem entgegenstellt, ist schon im Lager der Populisten, bevor er oder sie noch populistische Positionen beziehen, aber das kommt als Folge ihrer Zuordnung nicht selten als nächster Schritt).

Der Ausweg ist paradox. Zum einen muss – nicht soll oder kann – man die Feinde der Demokratie nur damit zur Konfrontation bringen, dass man sie an den „Runden Tisch“ setzt, wo die heilige formale Gleichheit ihnen Gelegenheit gibt, sich der Freiheit zu unterwerfen oder sich auszugrenzen. Das hat nicht nur 1989 erfolgreich geholfen, auch eine Zeitlang gehalten. Zum andern aber muss man die „im Dunkeln“ (Vorsicht: oft nennt man die Falschen dann Pöbel oder White Trash) ans Licht holen, d.h. den Regeln der Demokratie, die noch nicht Ende ist, unterwerfen. Oder, Fried weiterentwickelnd, sie zur Demokratie anherrschen… Es geht dabei nicht um die Nazis von der AfD und die Verschwörungstheoretiker und die Stammtischdiktatoren der abgehängten Provinz. Es geht um die Armen und kulturell Deklassierten, die auch bei Nazis, Verschwörung und Stammtisch Zuflucht suchen, weil sie ausgegrenzt werden.

(Das ist nicht abstrakt. Wer hat die Dörfer Brandenburgs ihrer Einkaufsläden, Kinos, Kirchen und Gaststätten beraubt, wer hat die Sklavenarbeit in der Landwirtschaft staatlich begünstigt, wer hat den Artikel 14 des Grundgesetzes zur Lachnummer degradiert…? Nicht zuletzt die, die sich auf ihre Regeln der Demokratie berufen. Minimundus legale). Es sind die unzureichenden Sozialsysteme, die die Abgehängten in die Arme der Extremisten oder Idioten treiben, und es ist nicht Religion oder Weltanschauung.  Dumm wird man durch ein schlechtes Bildungssystem – das Deutschland auszeichnet, aber radikal wird man durch mangelnde Solidarität – hier findet eine Konfrontation statt, in der noch die Solidarischen die Mehrheit haben, deren Demokratie aber gefährdet ist.

Ich will nicht vom stillen Schreibtisch zum Widerstand aufrufen. Aber der beginnt mit der Demokratie, die wir haben – und da kann jede/r praktisch werden.

P.S. die Freude bei der AfD ist verständlich. Die Nazis haben das Ganze schon gekapert, bevor die Verschwörungsgläubigen das Wort „Grundrechte“ auch nur buchstabieren konnten.

2. September 2020 – die Kriegsgedenktage sind vorbei, der Reichstag ist wieder ohne schwarzweissrote und amerikanische Flaggen gut sichtbar:

»Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist.« Das sagt Erich Fried, kein Gedicht, ein hinkender Aphorismus, so wie alles, was in diesem Kontext heute hinkt.

Michael Ballweg, Sprecher von Q711, bislang Zentrum Stuttgart, Organisator und Hauptinterpret der Corona-Demos, gibt heute ein großes Interview im DLF (7.10-7.30). Ausführlich beschwichtigt er jeden Verdacht einer inneren und funktionalen Verbindung zu den Nazis, Reichskriegsflaggen, Verschwörungsagenten usw., – nein, dem sanften Rhetoriker geht es nur um eine Reform des an Corona versagenden Gesundheitswesens. Ballweg ist kein Nazi. Eigentlich ist kein Nazi. Vor 1933 ist es schwierig, eigentliche Nazis zu identifizieren außerhalb der Parteigliederungen und Schlägertrupps. Dadurch wird aus Ballweg auch kein Nazi. Eher einer, der sich durch Dabeisein, nicht durch Dazugehören, schuldig macht, wie Steinmeier, der Bundespräsident, argumentiert. Eigentlich lässt er nur zu, dass mögliche (oder richtige oder kritische) Argumente gegen die CoVid Politik der Regierung, der Medien, der 85% zustimmenden Bevölkerungen nicht mehr ohne den Basso continuo der Nazis  und Identitären so einfach gebraucht werden können.

Nimmt man Duktus und Form dieses Interviews ernst, ist das Sprachspiel „Ball weg!“ angebracht. Ballweg schießt ein Eigentor, weil er mit dieser Form der Distanzierung von rechts  nichts bewirkt als ein Aufmarschgebiet der Rechten von „Gemäßigten“ zu säubern, und sozusagen ein Glacis zu schaffen, von dem aus man dann Seit and Seit angeblich für die Grundrechte und gegen die staatlichen Diktate eintreten kann. Hier tritt der „Jargon der Eigentlichkeit“ in seine Domäne (T.W. Adorno, Ffm. 1964).

Wenn der Ballweg „Grundrechte“ sagt, oder tags zuvor in den Nachrichten die Frau von Storch, dann wird der Begriff ausgehebelt, er tritt in seiner Auslegung nicht mehr gegen seine Bedeutung (weil kein Mensch jemals den Zusammenhang zwischen Mundschutz und Freiheit in Zeiten des Virus hat auch nur abstrakt, geschweige denn praktisch herstellen können).

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Schon hat Trump halb gesiegt: das Virus tötet – natürlich, das IST die Natur nicht nur der USA – mehr Arme, Schwarze, Abgehängte und Demokraten als den weiße Gewaltpöbel des Präsidenten. Nicht viel anders in Brasilien. Und es wird, bei Fortbestehen der Gefahr und Zweitinfektionen bei geöffneten Schulen und Werkhallen, analog so bei uns sein. Die medizinischen und die sozialhistorischen Seuchenanalysen lassen diesen Schluß ohne weiteres zu.

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Um uns dem Jargon der Eigentlichkeit zu entziehen, müssen wir auch selbstkritisch und kritisch mit unserem Vokabular und dem Pathos gegen rechts umgehen. Das heißt zum einen, deutlich zu werden, wenn es um Sterben und Langzeitfolgen der Infektion geht, nicht um den Tod, den wir besser im Griff haben als unsere Nachbarn und Konkurrenten. Der Tod ist heroisch, pathetisch, statistisch. Das Sterben im Koma, mit dem Schlauch im Bauch, ist scheusslich, für alle. Das heißt zum andern, nicht herumzureden: Nazis sind Nazis, nicht ein paar verirrte Rechtsnationale oder verirrte Spinner.

Seit‘ and Seit‘ mit den Nazis spielt den Ball weg ins Spielfeld des Feindes. Die Feinderklärung ist objektiv, nicht nur von den paar Hundert auf den Reichstagsstufen. Es gibt aber kein Grundrecht auf Feindschaft.

Damit will ich sagen, dass das dauernde Beschwören des Rechts auf Meinungsäußerung mit dem Hinweis, ABER NICHT SO, die falsche Figur ist. Es bietet den Gegnern der Demokratie und den Verrückten gleichermaßen die unschlagbare Waffe des Grundrechtsbesitzes, während wir sie in jedem Fall immer neu herstellen müssen, die Grund- und Menschenrechte.

Nachkrieg ist Vorkrieg

Die Igel und die Bäume sterben an der Trockenheit – bei uns. Wascht wenigstens eure Autos. Man hat die Hiobsbotschaften und Szenarien des Untergangs satt. Alle gehen wieder arbeiten, die Monatslöhne werden wieder überwiesen und das Kurzarbeitergeld aufgestockt, die Kondensstreifen nehmen wieder und am diktatorischen Strand von Antalya wie am Ballermann entlädt sich die Volksseele.

Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. (Die Fledermaus)

Die coronare Sterberate ist doch mit der Pest des Mittelalters so wenig zu vergleichen wie mit dem HIV Ausbruch Ende der 70er, und überhaupt, es muss doch weitergehen. Das Volk will seine Seele zurück, wer am Straßenrand zurückbleibt, hat es entweder nicht besser verdient oder ist selber Schuld. Währenddessen widmet sich die Politik ihren  Hausaufgaben (z.B. Wahlrechtsreform, äh, wisst ihr, worum es da geht: dass die Zahl der unbeschäftigten Bundestagsmitglieder reduziert wird, dass also weniger, dafür aktivere übrigbleiben), oder dem Dilemma im Umgang mit Russland (man möchte ja Nordstream, aber nicht Nawalny), oder endlich einmal Außenpolitik machen, mit wem auch immer.

Eigentlich ist doch alles nicht so schlimm.

Wenn doch die Diktatoren und ihre Aftermieter auch zu dieser Einsicht kämmen, schlaraffig setzt sich das Immergleich fort bis in eine Unendlichkeit, wo man sich wieder des kühlen Klimas abgeschmolzener Gletscher erfreuen kann, sollen doch die nächsten Generationen Ananas an den Polkappen bauen. 

Die Verblödung der Spezies wird wahlweise den sozialen Medien, der Überbevölkerung, dem zu vielen Fressen und Saufen oder der mangelnden Bildung derer zugeschrieben, die über die Zeitläufte nachzudenken die Zeit und die Muße haben. Und so klug in Einzelgesprächen und Kultursendungen eine Erklärung gegeben wird – philosophisch, psychologisch, zeitdiagnostisch – so wenig nähert sich solche Einsicht dem wirklichen Eindringen in eine Endzeitkulisse, in der „es sich halt so weiter lebt“.

Aber es lebt sich nicht.

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Ich lebe, andere leben. Noch – das ist nicht trivial. Lest „finis terrae“ immer einmal nach. Noch leben wir, und es geht nicht darum, unseren Mitmenschen eine schlechte Unendlichkeit zu vermitteln, sondern unsere sehr begrenzte Zeit auszudehnen, für unsere Kinder, Enkel, oder „nur so“,wäre ja schön, wenn dieser Erde länger so bliebe; verglichen mit den Staubsternen ist sie doch ganz gut, auch ohne uns.

Leider geht das nicht einfach mit gutem Willen und Herzenswärme. Ein wenig nachdenken muss man schon, und dann wird es Politik, nicht Meinung. Und da wird es düster, jetzt 2020…

Wer glaubt, hier setzt sich eine Fastenpredigt fort, irrt.

Die Gesellschaft, unsere deutsche Gesellschaft, verhält sich wie im Taumel des WIEDERAUFBAUS nach der Zerstörung durch den Krieg, es wird eine Zukunft um den Preis der kollektiven Verdrängung von (jüngster und weiter zurückreichender) Vergangenheit anvisiert.

Ich zitiere eine längere Passage des wohl besten deutschen Nachkriegsautors, W.G.Sebald:

(Ein bestimmtes Bewusstsein) „…erweist sich bei näherer Betrachtung als ein auf die individuelle und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahrscheinlich von vor bewussten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff mehr zu bringenden Welt“ (W.G.Sebald: Luftkrieg und Literatur, München 1999, S. 18).

Ja, ich vergleiche die Coronazeit mit dem Nachkrieg. Alles redet, manches handelt von der „Rückkehr zur Normalität“, der Wiederankurbelung der Wirtschaft, dem Einfinden des individuellen Ich in eine Gemeinschaft, die vor allem durch ein Tabu gegenüber der jüngsten Vergangenheit gekennzeichnet ist. (Wenn eintritt, was man erhofft, wird man stolz auf die Leistungen verweisen, die das Leben nach der Pandemie so viel schöner darstellen als es vorher gewesen war). Nur, wie war das Leben vor der Pandemie?

In dieser geschichtslos herbei zu regierenden Zukunft sind sich alle einig, während sie sonst vor den Diktatoren und alternativlosen Strukturen kuschen und kriechen. Wird der Klimawandel wirklich bei sinkenden Infektionszahlen politisch ernst genommen? Verweigern wir uns den Sanktionen i-m Innern und Äußeren nur deshalb, weil wir zu schwach und zu konfliktscheu uns selbst gegenüber sind? Klar, wenn wir uns darauf einlassen, jetzt zu handeln, kann das nicht in der Zukunft beginnen, wenn das BIP wieder den Stand von 2019 erreicht hat.

Wir können uns nicht damit zu begnügen zu erkunden, woher das Virus diesmal kommt und wer anfangs an seiner Verbreitung „schuld“ war. Das ist auch typisch Nachkrieg. Es wäre angezeigt zu bedenken, was es mit uns und wir mit der Situation gemacht haben, nachdem wir das immer nur zwischenzeitliche Ergebnis wahrgenommen haben.

Das Decamerone des Boccaccio (ca. 1340) zeigt, wie man die Zeitläufte kritisch reflektiert, gerade wenn man sich gegen die Regeln des Zusammenlebens vor der Seuche wendet; die Erzählungen sind ja Zeitdiagnose und -kritik, nicht Zukunftsvision. 1945 und danach war so eine privilegierte Flucht ins befreite Refugium der Reflexion und der Lust am Leben nicht mehr so einfach. Da verdrängte der Drang zur Wiederherstellung die Herstellung einer besseren Welt.

Auch die Aussage, nach Corona wird es nie mehr so wie vorher, ist unsinnig, weil es ein „nach Corona“ so wenig geben wird wie ein „nach der Pest, nach HIV, nach Fukushioma, etc…“. Ja, nach dem Erdbeben kann ich aufräumen, wieder und besser aufbauen. Da muss es sich aber reflektieren lassen, das Erdbeben, ich baue gegen die Geschichte auf, darum muss ich sie kennen, und dazu auch mich.

Finis terrae XXXVIII

Prag vor 52 Jahren, vor einem Lebensalter.  Hans Meissner, mein Lehrer und Mentor, später Freund,  hat immerhin noch 40 Jahre weiter erlebt. Er war mit mir in Prag, wir haben die Rückkehr der Regierung aus der Zukunft in die stalinistische Vergangenheit drei Tage vor dem sowjetischen Einmarsch erlebt.

Nichts geht mehr, es ist nicht die Wiederkehr des Gleichen, sondern die Beständigkeit eines sich ständig verändernden Reagenzglases, das seine Form mit dem Chaos im Inneren leicht mit verändert, aber weder zerbricht, noch grössere Risse zeigt. Die Wiederkehr der Sklaverei ist keine, sie war nie weg; die Wiederkehr der „unmittelbaren Herrschaft“ ist keine, der Pöbel war immer da, wie ein schlafender, oder manchmal blinzelnder Drache; nur der Fortschritt der Kritik ist wahrscheinlich in dem Maß deutbar, in dem das Reagenzglas des Erdplaneten Alterserscheinungen zeigt. Ich ertrage nicht, wenn man diesem eine optimistischere Deutung abverlangt, weil es darum gar nicht geht. (Sie kommt aus der –> Hysteresis, einer Zeit, in der wir noch an einen bestimmten Fortschritt gegen die irrationale Reaktion zu glauben vermochten; jetzt ist es der Welt, dem Klima, schon ziemlich egal, ob wir unsern Habitus ändern wollen, weil es immer schwieriger wird, es zu tun.  Vor allem muss man infrage stellen, ob das WIR die Gleichung = Menschheit erträgt, oder ob wir wie die Splitter der Schneekönigin einzeln vergehen, weil das Kollektiv nicht reparierbar ist.

Das ist kein Widerruf der Politik und Handlungsanleitung zur Hoffnung, aber eine grausame Bestätigung, dass Hoffnung nicht Zuversicht sei und sein könne, und statistisch, ‚positiv‘, haben wir schon verloren. Und wir haben die Möglichkeit, Macht auszuüben und gute Politik zu machen, an die abgegeben, die immer mit Gewalt die Unwahrheit durchsetzen wollen, nicht einfach über fake news, sondern mit dem unsinnigen Glauben, einen so genannten Gott auf ihrer Seite zu haben, der in ihre irdische Gewalt nicht eingreift, aber vorauseilend schon die Richtigen bestrafen lässt….ob evangelikal oder nationalistisch, ob unaufgeklärt-libertär oder mit dem Kadavergehorsam, denen Denkverbote noch die bessere Alternative erscheinen – egal. Wenigstens zum guten Teil haben wir diese Macht abgegeben.

Warum das so ist zu erklären, ist meine Sache nicht (dazu habe ich weder Lebenszeit noch richtig Lust, etliche philosophische und andere aufgeweckte Geister können hier Lorbeer erwerben).

Wozu noch weiter Politik machen und Widerstand leisten?, schon eher. Das Gedankenexperiment fragt, ob Resignation ein Instrument zur Unterwerfung der Menschen unter die angewendete Gewalt sein kann; also ob das Wegducken die Leidenszeit unter den Schlägen des Regimes bzw. der Systemkomponenten verkürzt. Ob wir wollen oder nicht, wir landen immer beim Camus’schen Sisyphos, mit der Ausnahme, dass wir uns nicht als glückliche Menschen selbst vorzustellen brauchen oder vermögen. Wir wollen nicht, klar. 

Jeden Morgen, beim Einschalten meines PC Netzwerks, sehe ich ca. 20 Nachrichtenblöcke, die fast ausnahmslos in diese Richtung gehen: da, hier, dort muss etwas geschehen, wir wissen in welche Richtung, wir wissen, was man dazu braucht…dass etwas geschehen muss, ist eine Art Abwälzen auf ein unbestimmtes „Man“, das handeln soll. Wenn es uns einbezieht, wird es politisch,  risikoreich, prekär. Die Wiener Dialektik steht gegen Hegel: Es muss etwas geschehen – da kannst eh nichts machen.

Wir können und sollen keine Attentate auf alle die machen, die „weg müssen“; diese Erkenntnis ist einfach (sie trennt Leidenschaften von Interessen, wie Hirschman gesagt hätte). Die Personalisierung von schlechten Systemen ist zwar oft eskalierend, aber sie ändert am System nichts grundsätzliches. Und der Freund, der mich am Vergleich von Seehofer mit  Globke gehindert hat, verstärkt das mit dem Hinweis, dass und wie Institutionen jenseits der Person ein System stützen oder stürzen können, das Oberste Gericht in Polen oder die Post in den USA). Wie man die Driver wegbekommt, ist eine Frage der Politik und des Zusammenwirkens, nicht des Helden.

Wir können und sollen nicht alles verbieten, wovon wir wissen, dass es uns schadet, von lauten Motorrädern bis zu Sojaimporten aus dem Amazonasbecken. Aber welche Verbote wir erzwingen müssen, ist Teil der Politik, die nur durch öffentliche Auseinandersetzung Profil gewinnen kann. Meinungen sind nur ein kleiner Teil der Freiheit (an die leugnenden Shoah-, Corona- und Impftrottel gewandt)

So wichtig es ist, Verantwortliche für Teile der jetzigen Situation ausfindig zu machen, sozusagen diejenigen, die die Eissplitter der Schneekönigin verbreiten oder weiter abkühlen, so unsinnig ist es, eine Hierarchie der Schuldigen zum Maßstab allen Handelns zu machen. Wer ist schlimmer, Trump oder Xi oder Putin, oder…wen bekämpft man zuerst, Orban oder Erdögan oder Kaczynski oder den NSU-lastigen Verfassungsschutz….? Das ist falsch gedacht, denn diese Aushängeschilder der Fehlentwicklung, widerlich allesamt, sind meist nur die Charaktermasken, die getragen werden von dem, was bisweilen als Pöbel, als white trash, als dumpfe Volksmasse, als IS, … erscheint, aber im konkreten Fall immer von dem mit bestimmt ist, wo sich Einzelne im obigen Reagenzglas gerade befinden. Nur sind die gewalttätigen Herrscher bisweilen so über-mächtig, dass ihnen die Zuckungen der Plebs egal sein können und sie immer neue Nahrung in ihrer Rhetorik gegen die Eliten finden; jener Eliten, die nicht selten Aufklärung und Vernunft gegen formale Demokratie setzen.

(Das ist ein Widerspruch, den es in den USA nach 1776 50 Jahre lang gegeben hat, bevor diese Gegnerschaft umgekippt war; es gibt ihn in allen demokratischen Republiken bis heute, was ja einige zu Populismus von links=demokratischer Seite rufen lässt). Demokratie gegen Vernunft hat schon einige seltsame „Repräsentanten“ wählen lassen.

Was also tun? Denkt an Sisyphos. Man muss nicht glücklich sein, um das Richtige auch konsequent zu tun.

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Warum mich das umtreibt? Viele Bücher und Stellungnahmen namhafter Wissenschaftler*innen geben oft überzeugende idealtypische Lösungen vor, von denen man begeistert sein kann, bis ihnen vergleichbare Lösungen für Probleme in anderen Systemen in die Quere kommen. Beispiel: vegane Küche im großen Stil, mit Soja aus kolonial angebauten Sklavenbetrieben als Kompensation für unterlassenes Fleisch; Beispiel: Home Office in all seinen widersprüchlichen Komponenten; Beispiel: die unaufschiebbare Klimapolitik, die immer wieder unterbrochen wird durch den Terror der Aktualität (Améry) unmittelbarer Probleme (Corona, aber auch Wirtschaftskrisen). Beispiel: der oben genannte Verfassungsschutz, der den Rechten Vorschub keistet, uns rund um die Uhr überwacht, und auch fremde Hacker von unseren Iphones fernhält. Und ich versuche, diese Ratgeber auf hohem Niveau zu vereinbaren, zu verdauen, und erzeuge doch nur Paraphrasen ihrer Konzepte.

Die Alternative ist die geheuchelte verständnisvolle Analyse, die nie zur Praxis kommt, und deshalb immer alles „ganzheitlich“ auffassen kann, wobei ganzheitlich das Gegenteil eines idealtypischen Konzepts ist, weil es alle Gegensätze und Widersprüche mit einer Vorstellung zuklebt, die ungefähr so realistisch wie die ursprünglichen Schöpfungsmythen ist. (Dann greift man zur Religion, die Ganzheitlichkeit simuliert, indem sie die Dogmen auf den Ganzen Gott projiziert, den wir eben nie ganz begreifen werden, und uns deshalb dem Glaubensdogmatismus unterwerfen).

Ein wenig war das die Diskussion um und in Prag im August 1968 und danach bei uns. In Prag haben die Demokraten und die  Aufklärer gehandelt, haben ihre Differenzen im politischen Handeln aufgehoben, – und sind von den dummen Kommunisten entsetzlich verprügelt worden, mit Narben bis heute. Die meisten von denen, die ich damals kannte, vor allem im Neuen Forum Wien, leben nicht mehr. Der Kampf gegen die Erinnerung ist in allen Gesellschaften nicht einfach ein Geschäft der Postmoderne, sondern eine fatale Politik, mit dem „Here and Now“ nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft auszublenden (Klimawandel, Leben der nächsten Generationen“. Now here = nowhere, ein alter Kalauer mit größerer Wirkung (William Morris 1890; Brigitte Wormbs 1977).

Die duckmäuserische Unmoral der deutschen Sucht nach Unterwerfung, wenn man nicht gerade diktiert, ist in diesen Tagen ein Zeichen für diese Zukunftslosigkeit der eigenen Weltbetrachtung. Wenn ich dem die Erinnerung, zum Beispiel an Prag 1968, entgegenstelle, dann fordere ich zum handeln auf, was auch darin besteht, andere vom Handeln zu überzeugen.

(Nur keine Rezepte, denn die gibt es ja schon; sie zu begründen, sozusagen auszuprobieren, ist die Küche des politischen Widerstands). 

Seehofer tötet weiter

Das Bundesinnenministerium lehnt die Aufnahme von 500 Flüchtlingen aus Lagern in Griechenland durch Thüringen ab. Laut einem Bericht des Magazins Der Spiegel hat Innenstaatssekretär Hans-Georg Engelke die Ablehnung des Thüringer Antrages mit der „Bundeseinheitlichkeit“ begründet. Diese würde bei einer Zustimmung zu dem Antrag nicht mehr gewahrt. Zuvor hatte der Bund schon einen Antrag des Landes Berlin auf Aufnahme von 300 Flüchtlingen abgelehnt.

In seinem Schreiben an die Thüringer Landesregierung verwies Engelke auch auf die Vorgabe, wonach für eine Aufnahme ein Einvernehmen zwischen dem Land und dem Bund erforderlich sei. Da dieses nicht vorliege, seien die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aufnahme der Menschen nicht erfüllt.

/ARD Tagesschau online 7.8.2020/

Bitte beachtet diese Sprache…die bleiche Mutter hat Hausunterricht erteilt.

Mittlerweile planen Berlin und Thüringen Seehofer zu verklagen. Das ist gut so, und vielleicht kann sich der Rechtsstaat gerade an dieser Frage wieder beweisen.

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Vor einer Woche hatte ich begonnen mich mit einem speziellen Thema zu befassen: Wieweit steht Seehofer in einer Tradition von Schreibtischtätern, die selbst nicht zur Rechenschaft gezogen werden, aber sehr viel Unheil durch eine in Text gefasste Unmenschlichkeit anrichten. Seehofer mordet nicht, er begeht keinen Totschlag an Flüchtlingen, er tötet durch nicht menschliches Handeln. Und wir werden selten erfahren, wen es wirklich und wann getroffen hat…

Mit einem intensiven Diskussionspartner bin ich mir noch uneins. Nicht, ob das, was Seehofer tut, falsch ist, – da gibt es keinen Zweifel. Sondern ob Vergleiche mit typischen Schreibtischtätern der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus dann gerechtfertigt sind, wenn diese nach dem Krieg der neuen demokratischen Ordnung entsprechende Schreibtischdienste geleistet haben, auf höchster Ebene, versteht sich.

Solange diese Diskussion nicht ausgestanden ist, nenne ich weder Vergleichsnamen noch Sachverhalte. Es geht auch nicht darum, den jenseits der Schuldfähigkeit vor sich hin trudelnden Seehofer wieder einmal anzugreifen – er ist ja schon ein Fall fürs Archiv  (und die transzendente Gerichtsbarkeit).

In Flüchtlings-, Klima- wie Coronazeiten kann man von einer Konvergenz der Unmenschlichkeit sprechen: es trifft immer die Ärmsten, Hilflosesten oder auch am die am wenigsten in Schuld verstrickten Menschen. Dass das alles nicht noch viel schlimmer ist, verdankt sich einer globalen, empathischen und aufgeklärten Elite, die politisch, durchaus interventionistisch, und unter Einsatz vieler Spenden und gewidmeter Gelder dafür verwenden, auch immer wieder das Ärgste abzuwenden.

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Das Abwenden von direkter Lebensbedrohung für viele Menschen ist das Mindeste, das ein reicher und demokratischer Staat mit seinen Bürgerinnen und Bürgern leisten kann. Dieses Mindeste steht immer über den Paragraphen eines Rechts, dem es nicht um Gerechtigkeit sondern um das Funktionieren seiner (demokratischen, republikanischen) Bestandteile geht. Es ist nicht die Ausrufung des Ausnahmezustands, sondern seine Vermeidung. Das Ganze ist nicht einfach ein moralisches Versagen selbstgerechter Politiker, schlimm genug. Es ist auch eine Verlagerung der Menschlichkeit auf den Widerstand durch die Zivilgesellschaft, durch Hilfsbereitschaft, Solidarität, meinetwegen „Philanthropie“. Der Staat ist fein raus, wenn er nicht gegen geltendes Rechtverstoßen will, und die Schreibtischtäter sind seine Handlanger.

Damit provoziert er aber zwei Gegnerschaften: die eine sind wir, die wir im Widerstand Loyalität abbauen, anstatt sie zu festigen. Wer will schon Sicherheitsorganen, Asylkommissaren, Registratoren des Unglücks vertrauen, wenn sie sich nur auf das Recht und nicht auf dessen Sinn berufen? Ein Innenminister, der racial profiling fördert wie Seehofer und Rechtsextremismus verharmlost, kann nicht Anwalt von Flüchtlingen sein – und will das auch nicht. Die andern Gegner, dieser Verschwörungs-Impf-Corona-Pöbel, nutzt die Schwäche des Rechts aus, um es ganz auszuhebeln. Und ist sich sicher, dass wir im Ernstfall doch dieses vom Staat her geschwächt Recht verteidigen, auch dort wo, wir sehen, dass es nicht ausreicht

A.E.I.O.U.

Austria erit in orbe ultimo – das alte AEIOU – wird ersetzt durch allen Ernstes ist Österreich unerträglich oder unersetzlich oder…vor ein paar Tagen war André Heller in Potsdam zu den Literaturtagen. Er erzählt besser als er schreibt. Was von dem, das er sagt, stimmt,  ist egal, er vermischt erlebtes, mögliches und erdachtes Wirkliches, und dann wird es seine Geschichte. Die berührt manches mit meiner. Hietzing, eine Loosvilla (in einer andern wohnt ein Freund von mir, ich habe die Wendeltreppen gefürchtet), Schüler Schilling?, 2 Jahre Gymnasium  Fichtnergasse (mit mir, ein Jahr nach mir? Jedenfalls eine Schule, die uns nicht viel genutzt hat…meine Mutter wurde zitiert, weil  ich zum Sohn des polnischen Botschafters Kommunist sagte, und zum Klassenvorstand „ihren Humor möchte ich haben“, hätte Heller auch sagen können. In Marokko, in Marrakesch, ist sein herrlicher Garten, habe ich damals nicht gesehen, aber, glaubwürdig, 50, 200 Bedienstete? 4, 40 Hektar…egal. Er stimuliert Erinnerungen an nicht geteilte Lebensabschnitte. Die Story vom Erdbeben und Autounfall und Todesnähe am Sinai, gute Geschichte mit Jasmin, da war er 50.  Ich weiss, warum ich ihn instinktiv nie mochte, natürlich wegen der Erika Pluhar, die hätte mich auch mögen können, kennte sie mich denn anders als Verehrer am Stehplatz im Burgtheater…haha, sie wird seine Frau. Lang ists her. Aber parallel und unvereinbar zugleich: die Millionen des 1893 geborenen Papa, der wird katholisch, wie mein Großvater (ohne Millionen), ist dann ein Austrofaschist, wird von Mussolini den Nazis entrissen, flieht von Paris nach England, wird Besatzungsoffizier….glaubwürdige Details mit dem Sikh am Bügelbrett und den Engländern in Hietzing. Nicht alle getauften Großväter überleben, nicht alle bleiben aktiv katholisch. Seltsam bitter, die Story. Am übernächsten Tag bin ich in Wien, wohne im 5. Stock bei einem Projektpartner und schaue auf die herrlich renovierte alte Bonbonfabrik von Heller, am Hellerpark im 10. Bezirk. Nachtrag: der Zsolnay-Verleger Ohrlinger war auch bei der Lesung, natürlich, und wir beide waren wahrscheinlich die einzigen, die sich an ErnstLothars „Engel mit der Posaune“ erinnerten, frühe Bekanntschaft mit dem Namen des Verlags. Vor 40? Jahren hatte ich den Ohrlinger schon einmal getroffen.   

Zwischen Heller und Wien ein herrlicher Tag bei Tochter und Enkelin am Müggelsee, das ist wie ein Einbruch der Wirklichkeit in den Konjunktiv, wie Leben anders ausschauen hätten können. Gut so, und zur Strafe überfallen wie vor einem Jahr wieder Fledermäuse unsere Wohnung.

Packen, Wienfahrt, direkt ICE von Berlin, zu spät aber ok. Nur mehr erster Klasse. Genug zu tun, mich mit der tektonischen Verschiebung nach rechts zu beschäftigen,  etwas Korrespondenz, viel Lepore, dazu komme ich, und mit Freunden im Wiener Wirtshaus saure Wurst und Palatschinken.

Schön ist schön heiss.

Abends im „Bio“Hotel Wagner am Semmering, Zi 46, im untersten Stock, wie alles hier grün unter Straßenniveau, eigentlich ganz schön, ohne TV, aber der Semmering war nie meines, obwohl die Drogerie Louvre und einige Jugendstilhäuser schön sind, obwohl das Hotel Panhans mich an unser Seminar mit dem Ministerium erinnert und der Hirschenkogel den besoffenen Skifahrten mit Arbeitskollegen, nichts, das mich an etwas wirklich bedeutsames erinnert und doch ein seltsamer Ort, noch nicht einmal haute volée, auch nicht basse.

Heute früh hingegen. O herrliches Wien, vergleiche dich schon gar nicht mit Berlin. Erst beim türkischen Friseur, in wenigen Minuten rasiert, beschnitten, er lässt meinen würdigen Bart noch dran. Von unserem Projektpartner an der Westbahnstraße beginnt eine Wanderung. Stiftskaserne (da ist das Institut für Frieden und Konflikt des General Feichtinger, da habe ich zur Kosovo- und Afghanistanzeit Vorträge gehalten…mariatheresianisch, der Bau, mit Barockkirche), Jochen Frieds  alte Wohnung gegenüber, fast eine Arbeitsexklave damals (bis vor 5 Jahren), Die Kaufhäuser Herzmansky und Gerngross, als Kind täglich mit der Straßenbahn vorbei und im ständigen Zweifel, welches ich wählen würde von den beiden, und die Hauptverkehrsader von Wien, die Mariahilferstrasse ist grün…ich schlage mich unterhalb der Neubaugasse eine Stunde lang durch, 7., 8., 9. Bezirk, heute natürlich vergleichbar mit Charlottenburg, teure wohlhabende Bezirke, aber ganz anders und weniger geplustert. St. Ulrich-Platz, war ich noch nie, da sitzen die Wiener ohne Touristen beim Café, viele kleine Geschäfte, die kommen nicht wieder, die sind noch da, hoffentlich noch ein paar Jahre, eine Knopfpresserei, mehrere herrliche Maßschneidereien (Termine vor anmelden! Wie beim Zahnarzt), Antiquariate vom besten, Gasthäuser (auch einige chinesische, japanische…) die fallen wenig auf, und die Piaristen, ein Gymnasium mit ambivalenter Geschichte. Das alles ist nicht wichtig, aber schön: wie Häuser aus dem 18. Jhdt. neben der Gründerzeit, dem Wohnbau der Nachkriegszeit stehen, keine Spur von Schiemanns Traufenkonzept, Laudongasse, wo meine erste Freundin von der Universität gewohnt hatte und wir Chopin beim armenischen Espresso gehört hatten, nachdem ich sie bei Frau von Meier anstandshalber abgeholt hatte; Duran, den frühen orientalischen Schnellimbiss, gibt’s noch  immer. Die Mariannengasse mit der Poliklinik, wo meine Zähne ruiniert wurden, und daneben wohnte Victor Frankl (den schlagt einmal nach), ein Freund der Familie mit einem der komplizierten Schicksale, passt gut zum Anfang dieser Geschichte, was wohl Gabi (die Tochter) macht, früher Schmerz: sie zog den Reitknecht vor, o Hochmut.  Bald bin am alten Allgemeinen Krankenhaus (1780) und am neueren (19. Jh.) vorbei und am Treffpunkt. Ich habe mir die Route nicht biographisch ausgesucht, sondern geographisch. Kurz nach dem Ulrichsplatz der Liane-Augustin-Platz. Liane Augustin (1927-78) war so typisch Nachkrieg, incl. Eden-Bar und die Hoffnung auf eine verruchte Stimmung durch Stimme. Ihre Chansons („Auch du wirst mich einmal betrügen“) haben mich mit 17 beflügelt.  Wikipedia: Im Jahr 2008 wurde in Wien-Neubau (7. Bezirk) der Augustinplatz nach ihr benannt, wobei sich die Benennung auch auf den Bänkelsänger Marx Augustin (1643–1685) bezieht. Man weiß ja nie…

Was mir neben der ungeplanten sozio-ökonomischen Mischung auch gefällt: Ganz viele verschleierte Frauen auf der Straße, keine Sarrazinschen, die sind hier normal quer durch den Klassenschnitt, das ist so wenig ein Migrantenviertel wie eine weiße Enklave. Ab und an haben Etablissements schon offen, die anderswo in einem definierten Bezirk sich drängen, hier über die Fläche sich verteilen, es gibt kein St. Pauli in Wien.

Bin ich vom nostalgischen Kitsch infiziert?  Es ist glühend heiß, aber ich schwitze nicht, da geht ein Wind und es ist sehr trocken. Nein, nicht die Nostalgie, aber die Gewissheit, dass in meiner Generation, genau nach dem Krieg, alles hätte auch so oder anders kommen können. Und Wien  hat halt eine gute Stadtregierung gehabt, bis heute. Und ist so herrlich dicht gedrängt und nicht weitläufig über das Land verteilt wie Berlin. Wien hat keine Spandaus oder Neuköllns, da kann man schon die Stadt in 5 Stunden durchqueren.

Ich war nahe am Neuen Forum vorbeigegangen. Günther Nenning ist schon so lange tot, niemand lebt mehr aus dem Prager Frühling in Wien, aus dem Warschauer Frühling in Wien, Ivan Illich und alle damals. Nur Alice Schwarzer lebt noch. Dort habe ich ein weiteres Mal begonnen, übrigens auf einem grauenvollen Bürosofa.

Es ist gut, dass Österreich nie versucht war, auch nur annähernd so imperial im  Kapitalismus sich zu entwickeln wie Deutschland, dieser Tage voll von Bismarck. Habsburg war mächtig, gewiss. Und hat sich lange gehalten, hat Hegemonie an Deutschland abgegeben und sich weiter gehalten und ist  immer schon untergegangen, während es noch oben auf der Geschichte sich herumtrieb. (Rudolf Burger sagte damals, der österreichische Kolonialismus entstand entlang der Bahnlinien, das erklärt einiges, aber nicht die Techniktheorie und Ingenieurspraxis; es erklärt nicht die Psychoanalyse (stell dir vor, sie wäre in Berlin entstanden…); es erklärt nicht den Austromarxismus, also eine Sozialdemokratie, die dem kommunistischen Blödsinn einigermaßen widerstanden hatte – und Wien ist noch immer die sozialste Millionenmetropole. Beim Espresso erklärt uns eine Wirtin die Schattenseiten, riecht nach FPÖ…Schon in der Strassenbahn in den 10.  merke ich, wie sehr ich einen guten ÖPNV in D vermisse. Und dabei nicht vergesse, über all dem Lob die ironische Distanz einzuziehen, da ich ja noch nicht auf dem Währinger Friedhof liege und nur mein Nachruf mich ins Sediment dieser Stadt versetzt, wovon ich nichts mehr merke. Zwei Stunden lang post mortem, damit ich sehe, wie die Erinnerung sich bei den Hinterbliebenen abschält. (Das versteht niemand. In Wien glauben viele, dass hier, nur hier, man das Sterben um zwei Stunden überlebt um zu sehen, wie die Hinterbliebenen reagieren und wie schnell sie einen vergessen…). Ich weiss genau, wohnte ich hier, ich würde toben, die grünen Kompromisse verfluchen, Doskocil und Kurz verdammen, alle Bürokratismen, leeren Versprechen geißeln, und trotzdem, realistisch: die Züge sind pünktlich und die Sozialsysteme gerechter als in Deutschland. also? Nix also. Vielleicht ist alles nur die Wirkung des hiesigen Espresso…

Bei Wagner am Semmering: eine Flohmarktbibliothek mit Kipling, Lessing, Reinhold Messner, einer Anleitung für gute Aktfotografie, Fremdenführern und viel Esoterik; schlechter Radioempfang also höre ich LvB Sonaten mit Gulda. Filzpatschen für die Zimmer, Saure Wurst und Mozzarellasalat, Vorarbeit für morgen.

AEIOU Macht euch einen Reim drauf.

Nachtgedanken

Wochenlang war der Himmel klar, jetzt beginnen die Schlieren der Kondensstreifen wieder, das Licht abzuhalten. Man fliegt wieder…man fliegt in die Türkei, der verbündete Diktator muss besänftigt werden und die Deutschen lechzen nach dem gesicherten Badestrand unweit der Gefängnisse…man fliegt wieder…aber in die falsche Richtung: nämlich Menschen aus unserem Land weg (Abschiebungen), anstatt sie herzuholen (300nach Berlin, aber Seehofer ist ein potentieller Flüchtlingstöter – aus Gründen der Ordnung, aber die wird ihm im Jenseits nicht helfen).

Warum so harsch? Kann man alles sanfter sagen, so wie die Politiker zu den CoVidioten vom Wochenende (Saskia Eskens hat da wenigstens einen Begriff), aber der rechtsradikale Polizeigewerkschafter Wendt meint, die Polizei hätte in ihrer Passivität sich doch bestens verhalten. Ja, man kann sanft und versöhnlich sagen, dass nichts getan wird, was jetzt nötig wäre. Wenn eine Atombombe fällt, schleißen Sie die Fenster, setzen Sie sich unter den Tisch, und vorher waschen Sie sich die Hände. So ähnlich klingen die Beschwichtigungsversuche in einer Situation, wo man Freiheitsrechte gerade denen einräumt, die die Freiheit beschädigen. Nazis, Impfgegner, Verschwörungsgläubige, Coronaleugner, Pöbel, Arglose…werden in ihren Grundrechten bestärkt, und wenn sie sich auf den Rest der Menschheit (uns) stürzen, dann mahnen die Minister, sie sollen das doch anständig machen, und auf Abstand halten. Fast alle, die eine Stimme haben, verurteilen diese Grölbarden, aber zugleich warnen sie: schränkt deren Rechte nicht und betrachtet sie auch nicht als Irre (Berliner Zeitung vom 3.8.). Es gibt Irrsinn, der sehr wohl strafmündig und verantwortlich macht, und zugegeben, oft wäre Polizeigewalt keine gute Therapie. Aber darum geht es nicht primär: warum denen, die uns schaden, auch noch die Rechte, die sie bekämpfen, andienen, um nicht zusagen, sie ihnen in den Arsch blasen…und denen, die sie kritisieren, die Mahnung auf den Weg zu geben, deren Grundrechte nicht in Frage zu stellen.

Was ist mit unseren Grundrechten?

Nein, mir sind die beiden Absätze nicht durcheinander gekommen. Die Verkehrung der Argumente ist nämlich bei den Flüchtlingen und den Covidioten die gleiche. Erdögan nicht reizen, das schützt die Türken in Deutschland und lässt ihn folternd die NATObruderschaft weiter unterstützen. Seehofer nicht reizen, sonst lässt er noch die Opfer  von Kriegen, an denen wir beteiligt sind oder waren, an die Opferstätten zurückbringen, damit sie sich an uns erinnern. Die AfD nicht reizen, sie ist ja die stärkste parlamentarische Oppositionspartei, die Impfgegner nicht reizen, sollen ihre Kinder doch die Seuchen unschuldig verbreiten, die Verschwörer nicht reizen, wir haben schließlich Glaubensfreiheit, die Nazis nicht reizen, die haben doch vor 1933 kein Wort von Auschwitz gesagt.

Nein, seid nur sanft und leise, ihr wollt doch nicht mit gleicher Rohheit zurückschlagen, ihr wollt gar nicht zurückschlagen, sondern hofft auf die Evolution. Lasst euch vorführen, was man aus Grundrechten alles machen kann, z.B. die Freiheit der Grundrechten. Fürchtet euch nicht, die tun euch nichts, sie stecken euch höchstens an.

Es gibt mehr als ein F-Wort

Ich lasse mich gerne kritisieren, wenn ich eine Antwort habe. Ich werde angegriffen, weil ich zu oft den Begriff Faschismus und den Begriff Nazi auf gegenwärtige Situationen und Menschen anwende. Das dünnste Argument gegen meine Sprache ist, dass ich die Shoah und die Schrecken der Nazis verharmlose. Das beste und komplizierteste ist, dass ich diese Begriffe nicht ebenso vehement gegen die Zustände in erklärten Diktaturen anwende, sondern mich meist im Umkreis des so genannten Westens aufhalte.

Da mein Blog keine große Verbreitung hat, finden es von mir angegriffene Personen oder Repräsentanten oft nicht nötig, zu reagieren. Ich habe nachgeblättert, wo die Begriffe verwendet werden:

Faschismus => Viktor Orban, Ungarn, Erdögan, …

Klerikofaschismus => Polen, Kaczinski, … etliche Strömungen in Russland, …

Nazi-Analogien => wenn Deutschland heute mit einigen Zuständen von Weimar verglichen wird (nicht gleichgesetzt), dann passt der Begriff auf die AfD und die Identitären, auf ihre Vorläufer, auf den Pöbel, der sich mit ihnen verbündet (und nicht einfach nur „rechts“ ist…). Damit ist klar, dass es auch Analogien zu Trump und seiner Regierungsclique gibt, dass es Analogien in fast allen osteuropäischen und einigen mittel- und westeuropäischen Parteien und Gliederungen gibt. F und N sind normal inmitten von Gesellschaften, die normal gerade nicht faschistisch oder nazistisch sind oder sein wollen.

Jetzt bitte nicht lachen: ich achte schon darauf, diese Begriffe in Kontexten zu verwenden, die ich belegen kann. Das ist kein Alltagsgerede, und ich habe keinen Stammtisch.

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Ich stehe mit diesen Klassifikationen nicht allein. In den USA, wo die Pressefreiheit doch recht gut funktioniert, sind die Analogien Nazizeit => Trump Teil einer bitteren, analytischen und oft nicht ver-bitterten, Auseinandersetzung.

Bei uns wird auch verharmlost: „rechts-nationalistisch“  ist so ein Flachwort, das vor der juristischen Auseinandersetzung schützt. Bei derzeitigen Situation um den AfD Flügel, Kalbitz und Gauland kann man sehen, wie wenig das trägt.

Und zum obigen Kritikpunkt, warum ich China und Russland nicht generell hier einordne: weil Diktaturen das Adjektiv nicht mehr brauchen, so wie das Regime 1933-45 nicht (mehr) als Nazi- oder Faschismusdiktatur bezeichnet werden müsste. Ich habe viel für die Totalitarismustheorie übrig, die dann nicht haarspalterisch den Unterschied zwischen Stalinismus und NS-Regime herausarbeitet, um sich  auf dem Antifaschismus der eigenen Diktatur auszuruhen. Oder die meint, mit der rechts-links-Mitte-Koordnate könne man heute noch viel erklären.

Gestern und vorgestern, nicht nur in Berlin:

Ärgerlich ist zu wenig gesagt“, sagt der Regierende Bürgermeister, vom rbb flugs zum „Regierenden Oberbürgermeister“ befördert, über die Corona-Demos vom Sonnabend. „Für die Freiheit“  (übrigens auch der Titel eines NS-Propagandafilms von Leni Riefenstahl) lautete eine der Parolen, unter denen 20.000 Menschen, die meisten angereist, weitgehend maskenlos drängelnd einen zweiten Lockdown provozierten – bei weiterhin steigenden Infektionszahlen. (Tagesspiegel online 3.8.2020)

Das meine ich mit Faschismus bzw. Nazi-Analogien. Dass man meint die Freiheit der Gesetze erlaube das Riefenstahlmotiv öffentlich zu gebrauchen, ohne kritischen Kontext. „Ärgerlich“? Ja, die Aufmärsche ab 1920 waren ärgerlich. Hat man Auschwitz vorhergesehen? Nein, aber vorhergesagt.

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Im freien Amerika darf man öffentlich nicht F ucking sagen. Gut, eine Konvention wie viele andere, man darf auch nicht N igger sagen. Und bei uns soll man nicht F aschismus und N azi sagen, weil das verharmlost. Und wenn der Ausnahmezustand vorbei ist, werden F und N dann normal?

“Ur-Fascism can come back under the most innocent of disguises.” Umberto Eco wrote in The New York Review in 1995. “Our duty is to uncover it and to point our finger at any of its new instances.”

To that end, Eco outlines fourteen defining qualities of fascism, among them: the cult of tradition (1), a fear of difference (5), obsession with a plot (7), and a contempt for the weak (10). “These features cannot be organized into a system,” he writes. “Many of them contradict each other, and are also typical of other kinds of despotism or fanaticism. But it is enough that one of them be present to allow fascism to coagulate around it.” (NYRB 3.8.2020)

Eco, U. (2020). Der ewige Faschismus. München, Hanser.