Finis terrae: Ablenkung vom Ende

Bitte lest als erstes den Blog vom 26.8.2022: Frauen am Ende der Welt. Ich muss mich wiederholen, aber nicht alles wieder hereinholen, das schon bei euch gelandet ist.

Die Verweigerung vieler Menschen in unterschiedlichsten Gesellschaften, Milieus und Klassen gegenüber einem Ende der menschlichen Besiedlung der Erde ist bedenkenswert und bedenklich. Dabei ist es egal, ob die Dauer des Abgangs kurzfristig absehbar ist, ein paar Generationen, oder länger dauert. Die Nichtumkehrbarkeit – etwa durch den Klimawandel – kann sich im Jetzt verankern oder in die Illusion aufgelöst werden. Ob es 2° oder 1,5° sind, ist weniger wichtig als dass es keine 3° oder mehr sein dürfen; abgesehen vom Absaufen der Pazifikinseln oder in naher Zukunft auch von Teilen New Yorks.

Wozu man eine Regierung hat, scheint denen unklar zu sein, die meinen, man müsste alle Wünsche und Bedürfnisse aller Gruppen und Einzelpersonen einer Gesellschaft gleichermaßen berücksichtigen. Die AfD nahe Perversion des bayrischen Ministers Aiwanger, gestützt durch alle Betonköpfe unserer Zeit, ist eben kein blödsinniger Ausrutscher, sondern die Verweigerung gegenüber von Zukunft, jetzt schon. Aber heute nicht mein Thema.

Wenn wir nicht wissen, wie die letzten Stadien des Erdenlebens sich konkret abspielen, und wenn wir nicht erklären können, wie es zu diesem Endzeitleben kommt, dann sollten wir nicht zuviel spekulieren, eher unserer Vorstellung als unseren Kalkülen vertrauen. Wie wird es sein, wenn ein Atomschlag weite Teile der Erde verwüstet und alle verstrahlt haben wird? Wie wird es sein, wenn sich Diktaturen in der Endzeit selbst auslöschen, weil es niemanden gibt, der noch zusätzlich beherrschbar wird und niemandem vertraut werden kann? Was machen wir, wenn aus den unbewohnbaren Gebieten in die bewohnbaren ausgewandert wird, ohne Rücksicht auf die Flüchtlingspläne der Festung Europa odes Gulags irgendeiner Diktatur? Kurz: wie lebt man, wenn man nur überlebt, und das auch nur durch Zufall?

Der Zufall ist ein Schlüssel zu Harpmans Text: von einer unendlich großen Zahl von Gefängniszellen bleibt nur eine einzige unversperrt, als der Alarm die Diktatur auslöscht, was ja die Insassinnen des Gefängniskäfigs nicht wissen können. Sind sie jetzt frei? Sie lernen, über lange Zeit hinweg, den steinigen Pfad von der Befreiung zur Freiheit, und gerade von dem namenlosen „Mädchen“ angeleitet, das nicht der geschlechtlichen Reproduktion der Frauen, „aller Frauen“ unterliegt, sondern mit der eigenen Emanzipation erst dieses auch lernt, wie alles Gesellschaftliche.

Dass es 40 Frauen sind, die dem Gefängnis entkommen, und bis zum absehbaren Tod der Letzten, das Mädchen beschreibt die Evolution seit ihrem 14. Lebensjahr und wird demnächst mit etwas über 60 sterben, dass es 39 Frauen sind, mit allen möglichen, aber nicht hybriden Lebenserfahrungen, die den männlichen Wächtern und der Diktatur entkommen sind, wird aus der Sicht der letzten Überlebenden erzählt. Es bleibt beim Leben bis zum Sterben, es kommt kein Tod, der ein Jenseits erhoffen lässt, es kommt kein Trost als dass man in der kurzen Zeit des Überlebens, der Befreiung, vieles gelebt hat, mehr erlebt als man vermisst, mehr sich (erneut) sozialisiert als der Vergangenheit nachtrauert, wenn sie schon erinnerbar wird. Und das Mädchen wird, ungeplant, aber nicht zufällig, die Anführerin des Wegs in die Freiheit, weil sie von der Verengung durch die zivilisatorischen Traditionen von Ethik und sozialer Beschränkung nichts weiß. Nicht weiß – das ist eine heikle Frage, weil sie ja ihr Leben schreibt, nachdem sie zum Ende, schon allein, lesen und schreiben gelernt hat und Papier gefunden hat und die Muße, grundversorgt durch Funde in den Gefängnisbunkern, das festzuhalten für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand kommen wird, der die Aufzeichnungen findet und liest.

Es ist kein Zukunftsroman, eher eine Analyse einer möglichen Zukunft, die das Ende der Menschheit, nicht aber der Welt beschreibt, die die Einsamkeit des letzten überlebenden Menschen darstellt, aber die Frau hat in ihren letzten 50 Jahren so viel erinnert, dass sie bis zu ihrem sterbenskranken Endstadium sozusagen die „Welt“ mit sich trägt, deutlich macht, dass nicht alles erfreulich oder schrecklich war, dass vieles ebenso schwierig zu leben war – im Vergleich dazu ist das Sterben, auch weil es endgültig ist, nur deshalb unerfreulich, weil man nicht weiterleben kann. Verwoben in diese Geschichte ist auch die Selbstbestimmung des Sterbemoments, man will nicht von Suizid sprechen, wie ich leben konnte, so will ich auch das Sterben bestimmen, bevor ich vor Schmerzen oder Unglück eingehe.

Ethisch und psychologisch ein großartiges Buch. Aber das würde nicht ausreichen, es jetzt hier erneut anzupreisen. An einer Stelle vermutet die mittlerweile schon ältere Frau, dass vielleicht die grausamen männlichen Wächter selbst in ihre Verhaltensweise gezwungene, abhängige Unselbstständige waren, die so wenig wussten, warum sie die Frauen im Käfig barbarische bewacht hatten, wie diese rekonstruieren konnten, wie sie im Käfig gelandet waren, im ewigen Gefängnis.

Natürlich ist da auch eine Menge symbolischer Erzählung dabei, das ist nicht SciFi. Die beste Freundin des Mädchens, der namenlosen Frau, heißt Anthea. Gegen Ende, rekonstruiert die Frau ihre nicht ausgelebte Liebe zu ihr. Anthea, die Blütenreiche, Blumige, neben den anderen, völlig normalen, gebräuchlichen Namen der übrigen Frauen. Die eine hat keinen Namen, die andere einen besonderen…dass die Frau , seitdem sie „das Mädchen“ war, keinen Namen hat, deutet auf die soziale Herkunftsbedeutung der Namensgebung hin. Nur sie weiß nichts von Vater und Mutter, die andern erinnern neblige Bruchstücke, auch an Sex, Kinder, Familie, Arbeit…aber alles ist wie durch einen Vorhang, den sie zwangsweise durchschreiten mussten, um nicht fragen zu können, wie sie im Käfig gelandet sind. Und wie udn warum alle anderen Gefangenen, meist Frauen, bisweilen männliche Opfer, alle, ausnahmslos, in ihren Käfigen verhungert sind, nachdem die Wachen auf ein Sirenengeheul blitzartig verschwunden waren. Nur der eine Käfig war gerade, zufällig, offen. Dieser Zufall speilt eine entscheidende Rolle, als Gegengewicht zur religiösen oder mystischen Vorhersehung oder Bestimmung. Das hat schon etwas mit Freiheit zu tun.

Schön ist an dieser Evolutionsgeschichte auch, dass das Mädchen, dessen sexuelle Entwicklung halbwegs pubertär gestoppt wird, sich einen der jungen Wächter, der sie nicht ein Mal anschaut, „verschaut“, man kann nicht sagen verliebt, aber die genuine Attraktion ist wie ein Ornament auf dem Weg zur Reife – und zur Befreiung. Vorsicht, Zufall. Was wäre gewesen, wenn der junge Wächter an sie herangekommen wäre…? Aber das ist eine schwer tragbare Wahrheit, dass es außer den 40, außer der später Einen, keine lebenden Menschen mehr gab. Viele Details, die auch noch aufgearbeitet werden müssen, oder auch nicht: wenn das Ende der Menschen auf dieser Erde so aussieht.

Ich werde die Zitate auswerten und verwenden. Und an diesem Text weiterschreiben. Jetzt einmal:

Jacuqeline Harpman: Moi qui n’a pas connu les hommes, Paris 1995

I who have never known Men, Vintage 2019; die Frau, die die Männer nicht kannte, Hamburg 1995 (mE. keine gute Übersetzung, das Buch ist nicht frei verkäuflich, nur teuer antuquarisch. Dier englische Version ist gut, die französische natürlich auch)

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