Westentasche stopfen!

Ich fühle mich gut, wenn ein wirklich guter Soziologie knapp zusammenfasst, was ich seit Jahren auch sage: So einfach ist es nicht, sich zum WESTEN gehörig zu erklären. Der wirklich gute Soziologe ist Stephan Lessenich (https://de.wikipedia.org/wiki/Stephan_Lessenich), und knapp und höflich demontiert er eine nicht nur, aber vor allem deutsche Selbstzurechnung zum Westen. „Ein Totgeglaubter ist wieder da“ (Le Monde diplomatique, April 2023, S. 3). Seine gut abgeleitete Zusammenfassung, zugleich eine Kritik an Winkler und Rödder, lautet: „Seiner (des Westens, MD) wirklichkeitswidrigen Selbstinszenierung als lernendes System aber begegnet man, wo nicht mit offener Verachtung, mit zunehmender Distanz. <Once upon a Time in the West>, Sergio Lenes Filmklassiker war der letzte Abgesang auf einen Mythos. In der deutschen Fassung hierß er <Spiel mir das Lied vom Tod>.

Nun ist es wichtig, aus dieser Kritik politische Konsequenzen zu ziehen. Bei manchen, führt das zur Dummheit, einen Gegenpol, einen „Osten“ zu konstruieren, um ihn dann zu zerstören oder zu verzwergen. Das dümmste Argument derer, die den Westen kritisieren, weil sie ihm nicht zugehören wollen, ist, dass sie eben viel mehr Kritisches über den Westen wüssten als über den Osten, mag der nun böse oder anders sein. Wenn wir diesen unsinnigen Antiamerikanismus, Antiwestismus, beiseite schieben, uns ein Glacis für wirkliche Kritik freischaufeln, dann wird es spannend. Den Osten hat es so eh nie gegeben, jetzt räumen wir den Westen einmal sinnvoll ab, und dann entstehen zwischen den Polen einer multipolaren Welt, immerhin auf einer Weltkugel, Leerstellen, in denen sich die schwindende Anzahl von Demokratien nicht auf den klassischen „Westen“ beruft, und die steigende Anzahl undemokratischer Gesellschaften mitsamt ihren Staaten, auf keine Himmelsrichtung sich festlegt. Dieser unerfreulichen Wirklichkeit stehen die selbstbezogenen Wahrheiten der identitären Vereinnahmung von Menschen bizarr entgegen.

Da kann und muss man etwas tun, ohne sich auf die Zugehörigkeit zu einem übergeordneten System zu berufen. Vernünftige Menschen gehören keiner dogmatischen Religion, keinem symbolischen Staatenverband und keiner nur durch Selbstzuschreibung geformten Tugend an. Aber dass sie vernünftig sind, müssen sie, müssen wir, anders beweisen, als dass sie und wir westlich sind, und die andern weniger gut.

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