Judemokratie

Ich hatte mir vorgenommen, zum Konflikt der israelischen Regierung mit den Menschen im Land nicht auch noch etwas zu sagen. Ich sage auch jetzt nicht viel dazu, und die Begründung sagt schon einiges. Wir kennen einige Fälle, wo die Mehrheit von WählerInnen bei weitgehend demokratischen Wahlen die Abschaffung oder Zerstörung von Demokratie mit Mehrheit betrieben haben, Ungarn und die Türkei prominent. Ein Feld für Theoretiker: darf man sich selbst der Freiheit berauben, darf man dem Staat Verfassungen geben, die die Demokratie beschädigen oder abbauen? Das ist nicht mein Spezialgebiet, darum also zurückhaltende Kommentierung. ABER. Die besondere Rolle Deutschlands im Kommentieren, aber auch im politischen Handeln gegenüber Israel provoziert mich, der ich Israel sehr schätze (man „liebt“ kein Land), der ich die jetzige Regierung für schlimmer halte als jede zuvor, und es gab da auch schlimme, und der ich viele der in Deutschland aktiven und wahrgenommenen KommentaristInnen persönlich kenne. Befreundete befinden sich auf beiden Seiten der Demarkationslinie.

Weg von Israel, für einen Augenblick: ich gehöre nicht zu den Freunden des Zentralrats, ich halte ihn für ein politisches Organ einer langsam verschwindenden Generation von – ohnedies wenigen – jüdischen Menschen in Deutschland, das war schon einmal anders und ist nicht prinzipiell, sondern realitätsbezogen. Sehr kurz, ich bin da eher auf der Seite von Eva Menasse, die eine ähnliche Entwicklung zum ZR beobachtet und wie ich Bubis konkret lobt ((zu Rostock-Lichtenhagen). Eine freundliche und umfängliche Entgegnung des mir ebenfalls gut bekannten Dmitrij Belkin nimmt eine Gegenposition pro ZR ein, und völlig berechtigt spricht er über und für die jüdischen Einwanderer aus der Sowjetunion bzw. Russland. Er erweitert das Spektrum, das ist aktuell. Und verteidigt die Klientel, von der Eva Menasse als Objekt des Partikularismus des ZR schreibt. „Die Klientel, um dein Wort aufzugreifen, das bin ich, das sind wir, die deutschen Juden – oder die Juden in Deutschland, wie man’s nimmt“. Ich könnte hier eine dritte Position aus den beiden entwickeln, ich kann es aber nicht. „Deutsche Juden“, das geht gar nicht. Ich hatte jahrelang dafür geworben, in diesem Kontext immer von „jüdischen Deutschen“ zu sprechen, wie man islamischen, christlichen, agnostischen Deutschen spricht, wenn es um Religion geht, von jüdischen Deutschen auch dann und besonders, wenn es um multiethnische Menschen in der deutschen Gesellschaft geht. Und „Juden in Deutschland“, das ist zweifelhaft, sind sie Asylbewerber, geduldete Gäste, gerade mal da….? oder sind sie der dauerhafte Fremdkörper in der sog. deutschen Gesellschaft, der hier bleibt als „Juden“ inmitten von Deutschen? Keine Wortklaubereien, ich weiß was er meint und will es gar nicht zuspitzen, aber die Differenz ist eine um sehr vieles. So wie die historische Differenz zwischen dem angepeilten Judenstaat Herzls und dem Jüdischen Staat Israel. Um die Verbindung gehts mir. Israel wird zerrissen, weil eine Wahlmehrheit nach mehreren Anläufen Netanjahu und seine religiös-faschistischen Partner und seine säkular-faschistischen Siedler demokratisch an die Mehrheit gebracht hat, – aber nicht an die legitime Herrschaft über Demokratie und Bürgerrechte.

Nun weiß ich – vielleicht besser als viele in Deutschland – warum sich diese israelische Mehrheit seit Begin, oder vielleicht früher, herausgebildet hatte und von Netanjahu und seinen Bündnispartnern erbarmungslos instrumentalisiert wird. Aber, das ist wichtig, wüsste ich das nicht oder irrte ich, wäre die Kritik an der demokratisch legitimierten Abschaffung der Demokratie genauso, nicht nur Israel. Aber Israels Existenz ist nach wie vor bedroht, und wenn die Gesellschaft von innen zerstört wird, wie das Netanjahu betreibt, dann wird es noch schwieriger sein, die Bedrohung von außen abzuwehren.

Zur Politik kann man noch viel mehr sagen. Aber was sich einschreibt in das jüdische Selbstverständnis dessen, was sich in Israel ereignet, sind die Tausenden, die unermüdet gegen die Herrschaft Netanjahus, der selbst nur mehr von den Ultras getrieben ist, protestieren. Aber ich wollte und will ja zum Komplex des Diskurses hier, bei uns in Deutschland, nachdenken. Wenn sich die deutsche Politik mit Israel solidarisiert, gut so, dann nicht mit „den Juden“, sondern mit „den Israelis“. Darüber muss man auch nachdenken, bevor es zu Aussagen kommt. Dass Israel ein jüdischer Staat auf weitgehend säkularer, demokratischer Basis ist, wissen alle, aber dass es uns nicht „die“ Juden dort geht – mit welchen Ausnahmen, bitte? – sollte uns schon bewusst sein.

Dass es mehr als eine partikulare Sträming gibt, die Kritik an Israel IMMER oder NIE mit Antisemitismus verbindet, ist eine weitere Dimension der Auseinandersetzung, bei der wir vielleicht noch dazulernen können, jenseits der Staatsräson und jenseits von Religion und Herkunft.

Bitte lesen:

Menasse, Eva: Keine Regierung für alle. Die ZEIT #31, S.43

Belkin, Dmitrij: „Die Klientel, das bin ich, das sind wir, die deutschen Juden oder die Juden in Deutschland“. Die ZEIT #32, S. 40

SZ 29.7.2023: Ester Chajut. Profil

Funke, Hajo: https://hajofunke.wordpress.com/2023/07/11/tag-der-storung-in-israel-gegen-justizreform-gestartet/

Shimon Stein u.a.: https://www.zdf.de/phoenix/phoenix-tagesgespraech/phoenix-shimon-stein-zur-justizreform-in-israel-100.html

Es gibt natürlich viel mehr auch aktuelles zu lesen. Ich empfehle es dringend mit der laufenden und teilweise contrafaktischen Debatte um Antisemitismus in Deutschland (und überall auf der Welt) zu verbinden, um ein Bewusstsein von der Bedeutung des Komplexes zu bekommen.

Hinterlasse einen Kommentar