Vor vielen Jahren, als ich noch eine Uni leitete, gabs eine Studierendengruppe, die nannte sich schlicht ANTI. Da konnte man nach Belieben gegen etwas bestimmtes oder eben gegen alles sein. Wofür die Gruppe war, weiß ich nicht mehr. Zeitgleich gab es auch einen Ableger der ANTI-Deutschen.
„Weitere antideutsche Positionen sind Solidarität mit Israel sowie Gegnerschaft zu Antizionismus, Antiamerikanismus, Islamismus, bestimmten („regressiven“) Formen des Antikapitalismus und Antiimperialismus. Diese führten und führen zu Kontroversen innerhalb der linken Szene.“ Soviel Anti in einer Definition (https://de.wikipedia.org/wiki/Antideutsche).
Lassen wir die Sprachgeschichte und einige spannende Antis wie Antigone, Antilope, Antizipation usw. Aber nicht ganz: Schon Adorno verwendete lieber „ante“ als „anti“, denn das Wörterbu8ch sagt mit Recht, dass „ante/i“ als Adverb vorn, vorwärts vorher bedeutet, und als Präposition vor, voran, voraus….Das ist nicht trivial, denn wir verwenden es ja gerne als „dagegen“, Gegen-, Nicht. So kann es auch richtig verwendet werden, Opposition anzeigend. Nur sollte man bei manchen Begriffen aufpassen, unabhängig von der Endung e oder a.
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Gestern war der Tag des ANTIZIGANISMUS, als der Tag gegen die Verleumdung und Verfolgung von Sini und Roma, also eigentlich der Tag gegen den Antiziganismus. Aber klugerweise sagte niemand offiziel, es sei der Tag des PRO-Ziganismus, weil das ja etwas anderes bedeutet, oder?
Dauernd gibt es Unbehagen und Kritik am ANTISEMITISMUS. Zu Recht, nur was folgt daraus? Eine Einleitung:
„Ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist.“
Da muss ich genau sein, kann es auf die Semiten nicht einfach übertragen, dann das Gegenteil eines Antisemiten ist nicht der Semit, sondern in unserer Sprache ein Philosemit. Antisemit meint also einen ethnischen, kulturell Zusammenhang. Christliche Intellektuelle haben u.a. differenziert zwischen Antijudaisten (religiös) und Antisemiten (ethnisch).
Viele Menschen, die zum Judentum konvertiert sind, konzentrieren sich auf die Abwehr des Antisemitismus, weil der ihre Konversion bedroht.
Viele Menschen, die sich für Israel einsetzen (Statt und(oder Gesellschaft und(oder Erfahrung im Land) sehen in der Israelkritik Antisemitismus.
Für viele Menschen sind Judenwitze antisemitisch per se.
Alle drei Gruppen und noch mehr mögen Gründe haben, so zu argumentieren, die können gut oder schlecht oder banal sein. Aber nur „antisemitisch“ zu sagen, reicht nicht.
Drei Narrative zunächst:
Nach 1945 wurde, wenn Antisemitismus thematisiert wurde, ein Ansteigen dieser Haltung festgestellt und die Gesellschaft, der Staat, jede(r) Einzelne aufgefordert, dagegen vorzugehen. Zugleich wurde seit damals bis heute, 2023, ein dauerndes Ansteigen des Antisemitismus kommentiert.
Dazu: Michael Daxner: Der Antisemitismus macht Juden. Hamburg 2005 (Merus)
Was bedeutet Philosemitismus? Wenn ich alle Menschen als Menschen liebe, dann bedeutet die Judenliebe eine Hervorhebung, jüdische Menschen „mag ich besonders.“ Ist aber komplizierter, weil es als Begriff den Antisemistmus bereits voraussetzte.
Dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosemitismus#Begriff
Die anscheinende oder scheinbare (zwei Varianten!) von Solidarisierung bzw. Integration mit jüdischen Menschen und die damit verbundene Hineinnahme von Israel in diese Diskurse ist so komplex, dass sie Wissen und eine sich selbst bewusste Einstellung zum Thema und Begriff braucht, also nicht einfach auf common sense beruhen sollte.
Zu diesem letzten Punkt ein weiterer Exkurs:
Ich behaupte, dass dieses Thema und seine Worte, die nicht immer gleich Begriffe im strengen Sinn sind, besonders in Deutschland (und teilweise in Österreich) problematischer sind als anderswo, außer vielleicht in Israel selbst. Deutschland sieht sich seit 1945 auf der richtigen Seite der Beziehung zu „den Juden“, zu Israel, zur jüdischen Kultur etc. Der Einwand kommt sofort: redest du von Westdeutschland? Ja, in der DDR wurde viel von dem einer bestimmten Variante des Antifaschismus zugeschrieben (siehe oben) , während im Westen die kollektive, staatliche, gesellschaftliche, zivilgesellschaftliche etc. Gesinnungsänderung zur Staatsräson wurde. Nach 1989 vermischt sich das. Aber schaut mal genau: man durfte nicht Antisemit sein, aber schon antizionistisch eingestellt. Man musste darauf achten, wer Israel wie kritisierte und von wem die Kritik kam, das sei oder sei nicht antisemitisch. Man musste mit „Außenseitern“, die als jüdisch bekannt waren oder so gezeichnet wurden, anders umgehen als mit vergleichbaren nicht jüdischen Personen. Man musste mit jüdischen Organisationen anders, nicht schlechter oder besser, aber anders umgehen als mit anderen ethnischen und religiösen Organisation, weil…WEIL, ja weil wir doch die Zeit vor 1945 als Begründung für die Haltungs- und Verhaltensänderung mit uns tragen.
Das alles ist ja nicht falsch oder verwerflich. Nur, damit sind wir wieder bei den einfachen Worten: damit NATISEMITISMUS ein BEGRIFF WIRD; mit dem man Kommunikation, Kritik und Politik, Kultur und Selbstverständnis machen kann, sollten doch diese besonderen deutschen Probleme als solche bearbeitet werden, sollte uns doch klar sein, was in den wirklichen Beziehungen z.B. zu Israel tatsächlich vor sich geht und nicht was uns von Politik und Gruppen als korrekt oder angemessen vorgegeben wird.
Drastisch: Israel ist kein Judenstaat, sondern ein jüdischer Staat. Israel ist ein demokratischer Staat und kein Kirchenstaat. Gerade wenn uns die erfolgreiche militärische Befestigung der Staatsgründung 1948 und wenn uns die Kriege danach die Befestigung Israels als demokratischem Staat in seiner Umgebung als richtig und sinnvoll erscheinen, gerade dann müssen wir dieses System und seine Umgebung auch richtig einschätzen können, und zur Umgebung gehören auch die nicht-jüdischen Israelis, das sind mehr Gruppen als die meisten wissen. Das ist deshalb nicht trivial, weil man dann Dinge wie die Zwei/Ein-Staatenlösung, die Wasserpolitik am Jordan, die Anmaßung religiöser Gruppen aller Ethnien etc. so weit wissen muss, dass man reinen Gewissens urteilen darf und kann, auch wie man auf die Hamasraketen reagieren muss, auch wie man die Gefährdung des Staates von außen abwenden helfen kann (und welche Rolle Deutschland dabei spielen kann – bitte nicht mit der Geschichte argumentieren). Und natürlich haben auch Kritik an den Parteifreunden von Netanjahu mit Antisemitismus nichts zu tun, sondern mit Menschenrechten und zivilen Minimalstandards.
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Dies gesagt habend, zurück zum Begriff. Antisemitismus ist ein Keulenwort deutscher Selbstverständigung geworden, mit dem Man zugleich kritische Diskussionen verhindern und abwehren kann. Dass der Antisemitismus oft schlimmer Rassismus ist, oft primitiver als taktische Abwehr der Feinde meiner Feinde, oder gar die Vorstellung, dass jüdische Menschen nicht auch antisemitisch argumentieren können, wie alle anderen Menschen, das lehrt – wenn nicht die Erfahrung, übrigens auch meine – so doch das Studium der Wirklichkeit.