Viele denken bei 1968 an die Studentenbewegung, an Vietnam oder die Demonstrationen. Ich auch. Aber meine Erinnerung ist überbaut von Prag. Nach 1956 der zweiten Station meines politischen Bewusstseins, ob das nun wirklich politisch war, bleibt offen:
Das Gedächtnis schlägt die Erinnerung und ihre Asservaten im Tagebuch. Sonst schreibe ich viel genauer, aber damals im Aust 1968 kaum. 2.8. Die Fahrt nach Prag mit Hans Meissner, meinem Englischlehrer, einem lebenslangen älteren Freund (+ 2012). Erstmals in der noch unrenovierten Stadt, spannend mit ihrer Geschichte und der Vibration des Prager Frühlings. Ein Spitzel führt uns in eine Reihe unbekannter Museen – ich erinnere viel Glas.
Ich erinnere an die Reden von Dubcek und Smrkovsky am Altstädter Ring, als sie von Cierna nad Tisu und dem Treffen mit Breschnew zurückgekommen waren. Reden für die Demokratie, Menschen bis an den Rand der großen Straßen und Plätze. Die Rede des gedemütigten und misshandelten Dubcek erfolgte am 26.8. und damit war das Ende des Frühlings besiegelt.
Wir bekommen eine Warnung das Land umgehend zu verlassen. Also am nächsten Morgen.
In der Erinnerung schiebt sich die nächste Zeit zusammen, als ob der wirkliche Einmarsch vom 20.8. gleich am nächsten Tag gewesen wäre, als ob die polizeiliche Vorladung in Salzburg wegen der Briefe an die Botschaften für die Freiheit der CSSR gleich darauf erfolgte, und dann die Demo in Wien, wo auch ich am Maria Theresien Denkmal gesprochen habe und danach zur Polizei musste. Das war aber drei Wochen und ein paar Tage dazu später. Dazwischen: das andere normale Leben im Sommer, nur die kurzzeitige Erinnerung. Am 28.8. die erste politische Reflexion im Tagebuch, und die Aktionen der Studentengruppe und die Politik in Wien gingen noch ein paar Tage später los.
So war es, nur gingen die Uhren und Kalenderdaten in anderem Rhythmus. Erinnert sich, ausgelöst durch eine andere Erinnerung eines damals 16 Jährigen an den Einmarsch und die Tage davor. (Jan Faktor: „Heute weiß ich, wie illusorisch das alles war“ (ZEIT #33. 3.8.2023, S.14f.). Wir hatten sehr unterschiedliche Illusionen.
Diese biographische Notiz ist mir wichtig, weil ich im Anschluss an diese Ereignisse, weit mehr noch als vor dem August 1968, in NEUEN FORVM Wien, bei Günther Nenning, viele der geflüchteten Prager Demokraten und Intellektuellen kennengelernt und gesprochen habe, kein geringer Beitrag zur prinzipiellen und nicht taktischen Gegnerschaft zum stalinistischen und post-stalinistischen Kommunismus der UdSSR. Und immer noch Misstrauen gegen die Russophilie gegen die umgebenden Staaten und Gesellschaften.
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Nun kann man diese Einleitung in zwei Richtungen ausweiten und ausdeuten:
- Russlands Rolle vor und nach Gorbatschow in Europa und der Welt, für uns und andere, – und wer wie an Russland warum hängt;
- Das Problem von Gedächtnis, Erinnerung und die Auswirkungen auf die derzeitige Praxis mit Blick auf die Zukunft;
Mich beschäftigt das Zweite, aber ich frage mich, wen das interessiert und wie der Sprung in die Politik und Entwicklung geschehen kann, wenn man sich, das heißt: die individuelle Sicht, hinter sich lässt. Wer ist fähig und berufen wie zu handeln, wenn es um…(Sie dürfen reihen: Umwelt, Frieden, Wohlstand, Kultur, etc.) …geht.
Zu Beginn eines langen und inhaltsreichen Interviews sagt Marlene Streeruwitz:
Es werden Metaschicksale dekretiert, die unsere Kleinrealitäten außer Kraft setzen. Die Macht über uns wird offenkundig. Das Metaschicksal setzt unsere Rechte und auch die Pflichten aus und lässt uns den Stress des Ausgeliefertseins als Beschäftigung. Es sind psychotische Welten, in die wir da verfrachtet werden, und es wäre der richtige Zeitpunkt, sich gemeinsam diesem Ausgeliefertsein zu entziehen. Zum Beispiel in einer Durchsetzung von Klimapolitik, die die Welt nicht als Besitz von Eliten betrachtet, sondern sich den demokratisch aufgefassten Grundrechten aller widmet. Das wiederum hieße, das Leben darin ernst zu nehmen, dass die natürlichen Ressourcen nicht dem kapitalistischen Prinzip der Profitmaximierung unterworfen werden können. Unsere Rede muss dann „grün-grüner-grün“ heißen. Der Superlativ muss aus dem Spiel genommen werden.
(Streeruwitz: „Krisen offenbaren unseren Selbstbetrug“ – news.ORF.at)
Dass das alles nicht einfach ist, versteht sich. Dass es übersetzt in Alltag und Politik auch die eigenen Ansprüche an die Zukunft betrifft und den Abschied von dem, was als Bedingung unserer gesellschaftlichen Integration als „selbstverständlich“ dekretiert wird, verstehe ich auch.
Im NEUEN FORVM haben wir so gedacht, und viel wieder verloren, bevor wir es gewonnen hatten. In diesen Tagen, des rundum verbreiteten großen Schreckens, ist es nicht falsch, den Superlativ aus dem Spiel zu nehmen.
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Vor kurzem wieder in Prag, hat sich das Damals der neuen, „künstlichen Kulisse“ (Jan Faktor, oben) entzogen, und ich war wieder Anfang August 1968. Als ich es in dieser neuen Wirklichkeit der Kulisse meiner Frau erzählte, wurde mir klar, wie wichtig die genaue Erinnerung ist, die sich nicht vom Gedächtnis täuschen lassen darf.