Späte Einsicht. Attentat und Wahrheiten.

Nicht nur Bundesligaexperten (ca. 60 Millionen), Covid-Experten (70 Millionen) und Heizungsexperten (n+1 Millionen) gibt es. Nein, jetzt wissen alle, wer am TOD von PRIGOSHIN schuld ist, einen aktiven Anteil daran hatte und jetzt Genugtuung erfährt. Is eh kloar, sagen die Österreicher, der Putin löst die Frau Novak als Schuldiger ab, und der arme Prischogin wird bedauert, weil er zwar ein Verbrecher war, aber jetzt nicht mehr. Andere sagen, die Ukrainer waren es, denen war er noch lästiger als die Russen. Und wieder andere sagen, das hat er selbst eingefädelt, damit alle schlecht über Putin reden. So leicht kann sich der Wind drehen, und über Tote sagt man ohnedies nichts Böses, und wer weiß schließlich, wer der Pirschogin wirklich war. Vielleicht wollte er ja Russland von Putin befreien, und dann wäre Schiprogin sogar der Befreier gewesen, wenigstens von Europa.

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Der einzelne Sachverhalt sagt nicht alles. Und wenn er Massendiskussionen auslöst, dann ist deren Ursache spannender als die Fakten, zumal wenn sie von Millionen Experten gekaut, verdaut und in die Medienausgespuckt werden. Ob und wie Prigoshin weiterlebet interessiert mich nicht, ich werde es früh genug erfahren. Ob sein Tod dem Putin kurzfristig hilft – WOBEI? – ist schon interessanter, dazu muss ich viel in wirkliche Experten vertrauen. Aber die Vorfälle erzeugen ja Kaskaden von Momentexperten, um deretwillen die Populisten die Verfassungen außer Kraft setzen wollen, um dem Volk aufs Maul schauen zu können und sich von ihm auch wählen zu lassen – fallweise, heute Söder, morgen….

Zu glauben, zu ETWAS etwas zu sagen zu haben, ist nicht Kommunikation. (Schöner Satz, gell?). Warum sich äußern, wo man genauso gut darüber denken kann? Das gilt natürlich für alle, auch für mich, warum schreib ich denn jetzt über das Gerede zum Tod von Prigoshin? Weil es mich nervt und weil es Stimmungen und politische Landschaften beeinflusst, die dann nur mehr schwer einzufangen sind. Neben mehreren Gründen, die kompliziert sind, habe ich einen Verdacht: das Interesse an gesellschaftlich umfassenden Themen dient auch der eigenen Immunisierung: wenn ich mich zu etwas äußere, zu dem sich „alle“ anderen auch äußern, dann KANN es gar nicht falsch sein, dies zu tun. Das Subjekt verschwindet im Man, Ich wird zu Man, Man wird zu Es soweit es Alle sagen oder zum Thema machen. Davon lebt der Boulevard, davon leben die Chats, und wohin man schaut und hört, es ist ja wirklich überall.

Das ist keine altmodische Medienkritik, und natürlich ist es gut, wenn Informationen alle Menschen erreichen, wenn sie richtig, verständlich und wichtig sind. Aber – in langen Phasen der Covid-Diskurse und heute, konkret zu Prigoshin, verhält sich die Flut der Kommentare übermächtig zu dem, was „man“ wissen kann, und vor allem wissen sollte. Und die Kommentare werden natürlich kommentiert, und manche verwandeln sich so in scheinbare, zuvor verkündete Wahrheiten, von denen man sich ins Ungewisse distanzieren kann, indem man sie aber breit und verständlich zitiert.

Auf diese Weise entsteht ein Algenteppich an Äußerungen, die wenig bis keine Information enthalten, aber Wirkung entfalten, indem sie in bestimmten Gruppen – !!Partikularinteressen!! – als Wahrheiten verhandelt werden. Was wirklich geschieht oder geschehen ist, tritt in den Hintergrund.

Das alles könnte man, kann ich vielleicht, auch theoretisch einkleiden und ausführen. Darum gehts mir aber jetzt gar nicht.

Ich habe einmal als Beispiel gebracht, dass der Untergang eines 5-Personen Abenteuer-Uboots die Medien überschwemmt, während der zeitgleiche Tod hunderter Bootsflüchtlinge unter „ferner“ lief. Und hier gehts mir, hellhörig darum, dass diese Art des Informationssammelns und -kommentierens letztlich sich anhört wie die Frage, wer der größere Verbrecher war und ist, Putin oder Prigoshin. Aber was weiß man schon, und DAS ist die fatale Reaktion, wenn man nachfrägt, woher denn die Meinung dazu kommt.

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