Will man sich gegen die Flut von wahnsinnigen Ereignissen und unlösbaren Problemen schützen, soll man nicht den Kopf in den Sand stecken oder auch alles so geschehen lassen, wie es eben kommt. Wenn man nichts machen kann, stirbt es sich leicht, und nichts bleibt von einem über, das denkt man selbst, und die andern sollen damit fertig werden. Das ist die neoliberale Gegenwartsphilosophie, der die Zukunft so gleichgültig ist wie die Vergangenheit der weniger glücklichen Zeitgenossen. Das geht mir jeden Tag durch den Kopf, wenn ich die Nachrichten höre und sehe, und was sich unterhalb des Schreckens an Unerheblichkeiten abspielt bzw. unter dem Vorwand von Ernsthaftigkeit diskutiert wird. Nun ist die Gegenwart schrecklich, aber nicht viel schrecklicher als die letzte Zeit, nur sind die Ereignisse näher gekommen und man kann nicht sagen,
dass sie sich wirklich außerhalb von uns abspielen; wir sind nur nicht im aktiven Zentrum von Krieg und Unmenschlichkeit, aber doch betroffen, das sagen selbst Vorsichtige…und natürlich: der Klimawandel ist ja schon da, und den braucht man nicht zu fürchten, weil es ohnedies kein Entkommen von ihm gibt.
Unterhalb dieser grausigen Wirklichkeiten ist alles ganz einfach, so scheint es, so, wie immer. Weil es ja nicht wirklich besser war, früher, als viele noch optimistisch waren, mehr Hoffnung hatten, nur war das Unglück etwas weiter entfernt von der Insel der seligen Europäer. Wir haben sozusagen auch für die anderen gedacht und gefühlt, und uns unserer privilegierten Situation bewusst gefreut, aber dass und wie wir am globalen Unglück auch mit schuld waren, das haben wir ferngehalten, jedenfalls von uns, als wären wir wirklich etwas disloziert vom Rest des Weltgeschehens.
Jetzt fragt ihr euch, warum ich so eine Schimpfonie in Moll loslasse. Mache ich ja nicht. Politisch und Moralisch weiß ich ja, wie ich auf diese Unterwerfung unter die Apokalypse reagiere, aber meine Widerstandskraft stärke ich durch das Beobachten und Leben unterhalb dieser bleiernen Kappe aus globalem Unglück. Man muss eben nicht sich an Putins oder Hamas oder Talibans Blödheiten anschmiegen um sie besser zu verstehen, man kann unter diesem eisernen Dach auch noch leben, Tage und Nächte zubringen. Abstand halten macht klug und resilient. Denn man sammelt auch Erinnerungen für die Zukunft, man muss wissen, was man (sich) erhalten will. Was werde ich meinen Enkelinnen und Urenkelinnen erzählen, wenn es keine Gletscher mehr gibt, keine Schmetterlinge, keine wilden Pflanzen? Was haben die Menschen gelernt, als ihnen das Denken und Lesen verboten wurde (Fahrenheit 451), gelernt, um es zu behalten? Das sind keine Träumereien aus dem Jenseits, das alles ist hier.
Gerade bereite ich mich in Wien auf eine Lesung aus meinem neuen Buch „Flanieren im Mythos“ vor, morgen Abend. Ich flaniere heute durch einige stark befahrene und begangene Hauptstraßen, und stelle fest, dass man sich an den hunderten Geschäften satt oder hungrig sehen kann, je nachdem, was gerade angeboten, abverkauft, aufbewahrt wird. Manches schaue ich genauer an, anderes läuft an mir vorbei, Schuhe und Juweliere interessieren mich nicht, aber was es da sonst noch gibt, oder auch gegeben hat, und jetzt verstauben die Fenster, bis jemand neues einzieht und anbietet. Wer etwas bestimmtes sucht, flaniert nicht. Wer flaniert, findet, was er nicht gesucht hat, bewahrt es nicht auf, es gehört aber doch in die Erinnerung. In einem Einkaufszentrum kann man nicht flanieren.
An einer Hauswand erinnere ich ein Namensschild, das jetzt nicht mehr da ist. Über viele Jahre habe ich mich gefragt, ob die Sängerin, die Musikstunden angeboten hatte, noch aktiv war. Sie ist mit 100 Jahren 1993 gestorben. Noch viele Jahre danach habe ich das Schild gesehen. https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_F/Firbas_Ella.xml Nicht, dass mich ihre Biographie interessiert hätte, aber über das Namensschild habe ich meine Bewegungen in diesem Bezirk, an dieser Straße über Jahrzehnte verfolgt. Vieles setzt sich so zusammen, dass ein Bild entsteht, das aber kein Mosaik ist, sondern eine Montage aus all dem, was zum wirklichen Leben gehört – weil eben die Kriege, Grausamkeiten und Blödheiten nicht dazu gehören, sondern auf der andern Seite sich verdichten. Gestern habe ich eine Ausstellung im Jüdischen Museum zum „Frieden“ gesehen, nicht besonders gut, didaktisch, aber doch klar: es ist nicht die andere Seite des Kriegs (Jüdisches Museum Wien, „Frieden“, 6.11.2023, 18.30). Durch den Krieg kann man nicht flanieren.
Den Frieden muss man (sich) immer wieder herstellen, um den Krieg ertragen zu können, sich ihm nicht zu unterwerfen.
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Es ist nicht einfach, in diesen Tagen den Kopf für das Alltägliche, für die eigenen Texte und Überlegungen, freizubekommen. Aber sich dem Schrecken „hinzugeben“, wäre falsch, ist noch gefährlicher, weil es eine Scheinhaltung ist. Wenn wir im Krieg sind, aber nicht Kriegspartei, nicht kämpfen und töten und getötet werden, so spielen wir das doch nicht – wie es manche dann doch nicht unterlassen zu spielen, obwohl es keine Folgen hat, was sie denken und sagen.
Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“ beginnt mit den Sätzen
„Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont.“
Wenn das so ist, dann stellen wir uns darauf ein.
Wir haben uns auf keine unüberwindbaren Klippen eingestellt, als vor dreißig Jahren scheinbar der erhoffte Frieden ausgebrochen war, angebrochen war. Es gibt gute Gründe, den Vertretern des nächsten ehernen Zeitalters nicht auch noch unser formbares Gewissen zu überantworten.
Immerhin, es kommen Tage.