Die Wirklichkeit besiegt die Wahrheit

Annalena Baerbock hat am 16.11. 40 Minuten lang zur Situation in Israel und zu ihrer Politik dazu gesprochen. Wer dem aufmerksam gefolgt ist, versteht, warum sie – auch warum Robert Habeck – so weit in der Analyse der Wirklichkeit vor dem Kanzler denken und sprechen. Es war eigentlich fürchterlich zu erfahren, wie die Wirklichkeit des 7. Oktober und seine Folgen verarbeitet werden muss, will man nicht verzweifeln – was ja einen Sieg der Terroristen bedeuten würde: Der Kompromiss der Verzweifelten ist, worauf sie warten, wenn sie schon nicht gewinnen können.

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Dankbarkeit gegenüber Baerbock bedeutet, noch weniger auf die Fakes reinzufallen und noch genauer Gründe und Ursachen der Konflikte und der Kontroversen auseinanderzuhalten. Nur dann kann man auch seine eigenen Haltungen zu den Ereignissen mit ihren Widersprüchen ertragen, und nicht etwa versuchen, widerspruchsfrei zu denken und zu agieren (was ja bei vielen Hohlköpfen in der Politik die wirkungsvolle Außendarstellung ist).

Das Abgleiten vieler Elemente unserer (deutschen, europäischen) Gesellschaften in die faschistischen Koordinaten ist zunächst einmal evident. Das ist keine Interpretation, sondern lässt sich beobachten und ausdeuten. Es heißt nicht, dass überall Faschismus herrscht, aber seine Beteiligung an mehr oder weniger legitimer Herrschaft ist deutlich. Man merkt das auf allen Ebenen, vor allem in der Umgruppierung der Prioritäten, im Vernachlässigen der aufgeklärten und humanistischen politischen Akte, in der Gleichgültigkeit gegenüber wirklichen Zukunftsereignissen. Dagegen helfen weder Gebete noch Meinungen, dagegen hilft nur Politik. Die muss aber bei der Wirklichkeit ansetzen und nicht bei den Programmen, die dieser Wirklichkeit, wie jeder Anspruch auf Wahrheit, hinterher hinken.

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Dass Scholz mit Verbrechern verhandeln will, kann und muss, mit Erdögan und anderen, kann man ihm abstrakt nicht zum Vorwurf machen. Wie seine Umgebung aber den heutigen Besuch rechtfertigt, ist manchmal abenteuerlich – und dann werden die Vorwürfe konkret. Es geht immer um ein quid pro quo. Ja, die inakzeptablen Aussagen Erdögans gegen Israel und für die Hamas sind inakzeptabel, aber, sagen die Weichspüler, wir wollen ja über Flüchtlinge verhandeln und auch sonst brauchen wir das NATO Mitglied Erdögan, und der wird doch noch sagen dürfen, wenn er nur auch in unserem Sinn handelt. Diese Figur gilt für so gut wie alle politischen Akteure und Aktionen. Meine Frage ist aber, welche Angebote an friedlicherer und demokratischerer Politik hat Deutschland dem Verbrecher anzubieten, um einen diplomatischen Kompromiss abzuverlangen? Viele dieser Angebote hätte die frühere Regierung, hätten die obersten deutschen Gerichte, hätte das Parlament, hätte die EU schon formulieren können, aber es gab ja nie wirklich die nicht-überschreitbare Grenze von eigenem demokratischen Selbstverständnis und der Position des Anderen, der ja nie Feind sein durfte und darf, weil man ja etwas von ihm will. Er will aber nichts von uns, sondern setzt durch, was seine Gefolgschaft in Deutschland ihm zugute macht.

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Zurück zu Baerbock. Es ist hilfreich und hoffnungsvoll, die nicht auflösbaren Widersprüche der Wirklichkeit wahrzunehmen, für wahr zu erachten, und trotzdem zu handeln. Auch das kann man den Gegnern und möglichen Partnern vermitteln, nicht freundschaftlich, nicht feindlich, nur der Wirklichkeit verpflichtet, und das heißt zum Beispiel, Prioritäten zu setzen, wer gerettet werden soll, bevor die Täter vernichtet werden, und wer in der eigenen Gesellschaft entmachtet werden muss, bevor die Gegner entmachtet werden (Das ist in Israel zB. viel deutlicher der Fall als es in den Diskursen der Israelfeinde in Deutschland erscheint…). Es ist nicht so, dass die Probleme nicht lösbar wären, aber sie sind es nur mit der Korrektur von Politik, die mit Entmachtung bestimmter Machterhalter nur gelingen kann. Das kann man in die Propaganda der Befreiung hineinreden, muss man aber nicht: man muss handeln. Der Marsch auf Jerusalem ist ein Vorbild. Der sollte auch hier geschehen, geschieht ja im Kleinen bereits. Und es gibt keinen Augenblick, in dem nicht jeder von uns etwas in dieser Richtung tun kann, viele tun es.

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