Am Wochenende, genauer am Samstag, 18. Dezember, bekam Masha Gessen den Hannah Arendt Preis des Jahres 2023, nachdem wir am Abend vorher mit ihr in kleinem privaten Kreis zu Abend gegessen haben. Nichts war wie in den Jahren davor, wo sich alles im prunkvollen Bremer Rathaussaal vor 400 Menschen abspielte, und das Sonntagsseminar im Institut francais stattfand. Die bremische Heinrich Böllstiftung, dann das Rathaus, am Ende das Institut francais haben kurzfristig die über 20 jährige Tradition dieses bedeutenden politisch-kulturellen Preises wegen einer Äußerung von Masha Gessen im New Yorker vom 9. Dezember gekündigt. Ich bin Juror und habe Masha Gessen mit vorgeschlagen, am Sonntag habe ich die Jury Entscheidung vorgetragen und danach die Diskussion moderiert, an der auch der Laudator, Ivan Krastev, und das Publikum beteiligt waren. Aber ich spielte in dem Gesamtkomplex der Ereignisse keine wichtige Rolle, bewusst.
Dem Kampf um die Begriffe, die Gessen verwendete – im Vergleich der osteuropäischen Ghettos mit Gaza – werde ich hier nicht wiedergeben. Soviel umfängliche Presse und die Kommentare und Metakommentare zu einem derartigen Ereignis haben sich selten ereignet. In unserem kleinen Hinterhof waren etwa 70 Personen und viel Presse. Die Böll Bundesstiftung hatte Masha Gessen am 18.12. zu einer Diskussion am mit dem Vorstand eingeladen, sie hat teilgenommen, das Ergebnis war wie zu erwarten – weil die Kritik von Anfang an verquer war, behielt Masha weitgehend das Heft der Erklärung in der Hand.
So sehr mich der Ablauf im improvisierten Rahmen freut und so sehr ich die gelöste, aber ernsthafte Diskussion schätze, geht es mir hier um etwas anderes.
Wie können wir uns im Hannah Arendt Verein auf die PreisträgerInnen konzentrieren, ohne Hannah Arendt im Bewusstsein, im Visier, im Hintergrund oder in der Konkreten Abgrenzung zu haben? Das spielte in der Jury bei der Auswahl der möglichen PreisträgerInnen eine Rolle, nicht nur diesmal. Aber es ging um Prinzipielles: Ehren wir eine Person „im Geiste“ von Hannah Arendt, d.h. ist sie eine Reinkarnation oder Nachfolgerin oder schafft sie einen konkreten Zugang im Rückblick auf die Arendt? ODER aber gibt es eine Brücke zwischen der aktuellen Haltung, Perspektive, Methode, Sprache und Stil, Imagery, etc., ohne dass das in Zitate und biographische Interpretationen einmünden oder ausarten muss. Aus solchen Fragestellungen hat sich die Entscheidung der Jury für Masha Gessen entwickelt. Das darzustellen hätte bei einer traditionellen Preisverleihung gepasst. Nun wurde mit der Absage aber die Frage aufgeworfen, was das mit Hannah Arendt „zu tun“ habe, eine sehr deutsche Formel. Und das hat mich während des gesamten Vorgangs und jetzt, im Nachhinein, besonders agitiert und provoziert. Denn die Arendt äußert sich sehr wohl zur Fragen von jüdischen und palästinensischen Menschen im Mandatsgebiet und später in Israel.
So sehr mich der Ablauf im improvisierten Rahmen freut und so sehr ich die gelöste, aber ernsthafte Diskussion schätze, geht es mir hier um etwas anderes.
Wie können wir uns im Hannah Arendt Verein auf die PreisträgerInnen konzentrieren, ohne Hannah Arendt im Bewusstsein, im Visier, im Hintergrund oder in der Konkreten Abgrenzung zu haben? Das spielte in der Jury bei der Auswahl der Möglichen PreisträgerInnen eine Rolle, nicht nur diesmal. Aber es ging um Prinzipielles: Ehren wir eine Person „im Geiste“ von Hannah Arendt, d.h. ist sie eine Reinkarnation oder Nachfolgerin oder schafft sie einen konkreten Zugang im Rückblick auf die Arendt? ODER aber gibt es eine Brücke zwischen der aktuellen Haltung, Perspektive, Methode, Sprache und Stil, Imagery, etc., ohne dass das in Zitate und biographische Interpretationen einmünden oder ausarten muss. Aus solchen Fragestellungen hat sich die Entscheidung der Jury für Masha Gessen entwickelt. Das darzustellen hätte schon bei einer traditionellen Preisverleihung gepasst. Nun wurde mit der Absage aber die Frage aufgeworfen, was das mit Hannah Arendt „zu tun“ habe, eine sehr deutsche Formel. Ohne es so deutlich zu sagen, haben die Kritiker der Veranstaltung ja darauf hingewiesen, dass die kritisierten Textstellen nicht zur Arendt passten. Womit kann, darf, soll, möchte man die Shoah vergleichen, wer darf es, – und tut man es, ist ein Ghetto aus der Kriegszeit im Osten mit den Zustanden im Gaza vergleichbar, und wenn ja, wie? Unterschiedliche Systeme, Personen, Konstellation, das bedeutet, dass der Vergleich entweder provozieren kann oder dass es um ganz andere Ebenen geht als die vergleichbaren Phänomene.
Das hat mich während des gesamten Vorgangs und jetzt, im Nachhinein, besonders agitiert und provoziert. Denn die Arendt äußert sich sehr wohl zu Fragen von jüdischen und palästinensischen Menschen im Mandatsgebiet und später in Israel. Und sie tut das kontextbezogen, Zeitbezogen und mit variierenden eigenen Positionen zum und im Zionismus.
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Hier kann man keine umfassende Rezension machen, aber auf die wichtigsten Texte zum Thema hinweisen. Ich beginne zuerst mit Texten von Hannah Arendt.
Als Einleitung empfehle ich die „Zueignung an Karl Jaspers“ vom Mai 1947 (Arendt 1976), v.a. der Auftakt auf S. 7 und die Schlussbemerkung, bei der es um Juden als Parias und Parvenues geht…und für unsere kontroversen Diskussionen wichtig „Der Zionismus aus heutiger Sicht“ von 1945. Danach empfiehlt sich unbedingt das Sammelwerk „Israel, Palästina und der Antisemitismus“, bei dem die jüdisch-arabische Frage von 1943 behandelt wird, und der 1964/65 schließt (Arendt 1991). Für die Kritiker der Beziehung von Masha Gessen und der Varanstaltung in Bremen besonders zu empfehlen den Offenen Brief gegen Menachem Begin (1948) und die jüdisch-arabische Frage von 1943. Dazu muss ich zwei persönliche Appercus machen: mein Vater hatte sich 1939 nach Palästina gerettet und landete im Gefängnis der Briten, später war er bei ihrer Armee – interessant, wie wenig Großbritannien in der heutigen Geschichtsaufarbeitung vorkommt, kritisch und/oder zustimmend. Und die sprachliche Genauigkeit der Arendt, wann sie von Arabern, wann von Palästinenern spricht.
Im Aufbau findet sich noch einiges zum Thema. Jedenfalls ist die Behauptung einiger deutsch-deutscher Nörgler, wir würden Hannah Arent mit Masha Gessen zu diesem Thema unrecht tun, absurd.
Nun hat der Angriff auf die Preisverleihung und die intendierte Absage einer kleinen Gruppe nicht nur viel und überwiegend zustimmende Aufmerksamkeit zur Veranstaltung bewirkt, obwohl es nur ein Drittel des Auditoriums gab, das sonst im Bremer Rathaus anwesend ist, obwohl es nicht zeremoniell, sondern sachlich vor sich ging, und obwohl nicht um eine Meinung, sondern um einige kontroverse Facetten der angegriffenen Vergleiche von Ghettos und Gaza diskutiert wurde. Sehr wichtig scheint mir, dass Masha Gessen und einige Beteiligte, auf die Allgemeine Ebene der Bewertung von Vergleichen eingegangen sind, siehe eingangs dieses Essays.
Zu den Texten der Arendt, die hierzu passen, hätte ich noch mehr zu sagen, aber das ist nicht so wichtig – jedenfalls ist die ständig wiederholte Behauptung, sie hätte den Hannah Arendt Preis unter den Prämissen der Böllstiftung un des Bremer Senats nicht bekommen, ebenso zutreffend wie ironisch. Daran ändert auch die Diskussion des Böllvorstands mit Masha Gessen vom Montag, 18.12., nichts – Masha Gessen hat sich sehr verständlich erklärt. Allerdings gehört es auch dazu, die Publikumsreaktionen, eher der Gessen zustimmend, in den Kontext der linken Politikgeschichte in Deutschland zu stellen, deren teilweise Israelkritik an beiden Problemen – „Vergleichslegitimation“ und Antisemitismus – vorbeigeht leider zu kurz gegriffen: Jens Jessen: Wie divers darf Israelkritik sein? (ZEIT #54, S.47). Übrigens hat sich Böll für die versuchte Verhinderung des Preises nicht entschuldigt.
Wichtig ist nicht nur der Kontext des Preises, sondern die diesjährige Konfrontation. Natürlich kann jede/r dazu eine Meinung haben. Aber es reicht nicht, eine Art Parallelaufassungen zu akzeptieren, während vielfach die Überschneidungsmenge von Israelkritik und Antisemitismus zur deutschen Hirnräson zu gehören scheint, die zu eher verunglückten Begriffen, wie der Staatsräson zugeordnet sein dürften.
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Die letzten Tage, seit dem unüberlegten Eingriff der Bremischen Dissidenten, waren aufregend, weil sie die Schrauben am ohnedies komplexen Diskursgebilde in Deutschland weiter gelockert haben, wenn es um Antisemitismus und die deutsche Selbstreinigungsidenität geht. Dazu hat ja Masha Gessen im Hauptteil ihres Aufsatzes eingängig geschrieben. (Gessen 2023). Der daraus sich entwickelnde Konflikt wurde umgehend kommentiert und hat einige Tage die Feuilletons stark gefordert. Einen Teil der Quellen, die mir wichtig erscheinen, habe ich hier aufgelistet, unvollkommen natürlich und der weiteren Bearbeitung harrend. Vieles ist auch zustande gekommen, weil viel Presse und Online bei der Preisübergabe und Diskussion auf engem Raum zugegen war, da wurde auch direkt kommuniziert.
Ralf Fücks: Lasst uns nicht vergessen, wer die wahren Täter sind. FAZ 20.12.2023
Jens Jessen: Wie divers darf Israelkritik sein? (ZEIT #54, S.47).
Peter Neumann: „Meine Großmutter träumte vom Zionismus“. Interview mit Masha Gessen, ZEIT #53, S.57
Bernd Schirrmeister: Politisches Denken im Hinterhof. TAZ 17.12.2023
www.msn.com/de-de/nachrichten/other/masha-gessen-in-berlin-der-versuch-mich-mundtot-zu-machen-ist-misslungen/ar-AA1lHzJC 19.12.2023 Heinrich Böll Heinrich Böll-Stiftung, Berlin: Gespräch mit Masha Gessen, Hannah-Arendt-Preisträger*in 18. Dezember 2023, 18 – 19 Uhr
Vgl. auch Peitz: Sehr ausführlich und klar: „wir müssen reden“ (Peitz 2023)
Wird es wieder still, nachdem die Aufregung, die erregte Kontroverse neben den Themen, abgeklungen sind? Ich fürchte ja. Unabhängig vom Anlass stelle ich drei stabile Erscheinungsformen der Politik in Deutschland fest:
a) Der Antisemitismus ist ein allgegenwärtiges Wortinstrument, weit weg von konkreter Begriffsbildung, mit dem eigene Positionen gegen Kritik abgeschottet werden. Er wird weitgehend als Ursache und nicht als Folge politischer und gesellschaftlicher Entwicklung gesehen, und oft in den Kontroversen um Israelkritik (selbst ein fataler Begriff!) und in einer politischen Immunisierungspraxis angewandt.
b) Die Staatsräson wird im Kontext kaum hinterfragt, weder als Begriff noch als Instrument, das Argumentation ersetzt. Das hat zum Teil unerträgliche Folgen für die Diskussion, zT. wie man mit BDS umgeht und nicht, dass und warum man sie ablehnt.
c) Im konkreten Kontext des Hannah Arendt Preises und der Kontroverse um Vergleichbarkeit und Gleichsetzung hätte es bei vielen Bezieherinnen und Beziehern von Positionen (Meinungsbefestigung) schon gut getan, hätten sie etwas mehr von Arendt gekannt und sich etwas genauer um die Umstände von Masha Gessen informiert.
Zu diesem letzten Punkt muss ich einen Namen positiv herausstellen: Klaus Wolschner hat sich mehrfach und differenziert auf die Probleme eingelassen und die Schwächen von Masha Gessen zur Klärung des infragestehenden Punktes – Ghetto und Hamas – herausgefordert.
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Ein ganz anderer Aspekt ist, ob man mit Vertagung, Absage, formaler Umgestaltung die Haupt- oder Nebenwidersprüche in Person und Werk hervorheben oder in den breiten Kontext eines Lebenslaufs und einer Werksicht einbaut. Hier plädiere ich – ist das Alter, Erfahrung, Resignation oder reflektierte Überzeugung ? – für einen Empathieüberhang gegenüber den Menschen, für die man sich in einem bestimmten Zusammenhang entschieden hat. Das ist kein liberaler Mittelweg. Analoges, ohne Empathie, gilt im Übrigen auch bei Menschen, gegen die man sich öffentlich und ggf. wirkungsvoll entschieden hat. Nur keine manichäische Spaltung.
Das ist ein kurzer und unmittelbarer Rückblick auf eine ungemein anstrengende Woche. Es hat bei mir auch Retrospektiven ausgelöst, die durchaus nicht zufrieden stellend verarbeitet werden können. Aber nicht nur persönliche Reflexionen sind aktiviert, auch Fragen an die Böllstiftungen, an den Arendtverein, an die intellektuelle Blase, in der sich viele, „wir“, „man“ gern bewegen, und an die reflexhaften Reaktionen auf bestimmte Positionen. Anlässe verblassen, Ursachen nicht. Weiter reden.
Arendt, H. (1976). Die verborgene Tradition. Frankfurt, Suhrkamp.
Arendt, H. (1991). Israel, Palästina und der Antisemitismus. Berlin, Wagenbach.
Gessen, M. (2023). „In the Shadow of the Holocaust.“ The New Yorker.
Peitz, D. (2023). Wir müssen reden. ZEIT Online, ZEIT.