Juden, nicht alle Jüdisch

Ich begebe mich auf schwankenden Boden. In einer Zeit der Kriege und Gewalt, der Fake News und der Ausweichpolitiken, in einer Zeit der Verschiebung wichtiger Grundlagen nach Rechts, - in so einer Zeit muss man auch sich selbst- in die Kälte der unabgeschlossenen Überlegungen begeben. Die großen Proteste gegen Rechts sind wichtig, aber sie genügen nicht, zumal wenn keine positiven Antworten auf die Frage: was tun? erfolgen. Nur gegen Rechts sein, ist so wenig hilfreich, wie nur ein Antifaschist zu sein (Erich Fried), da dämmert schon die Wahrheit herauf…

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Die Herkunft der Juden als Ethnie ist gut erforscht, sie ist nicht zu bezweifeln, und sie ist bestens verpackt, nicht nur in die biblischen Geschichten. Erst als Hebräer, dann als Juden. Aber schon bei Abraham beginnt eine Spaltung, die man ruhig —-eine interne nennen kann. Unendlich ist die Literatur über Hagar und Ishmael, und später über Sarah und Itzhak. NUR: um das zu verstehen und zu deuten, braucht man Religion und Religionsgeschichte und nicht nur so sehr Ethnologie, Stammesgeschichte und Historiographie. Oder umgekehrt, oder beides, oder gar nichts, wenn man die Gegenwart anschaut?

Lacht nicht. Ich habe zur Zeit auch wichtigeres zu bedenken als Religion, Religionsgeschichte und die Differenz zwischen Religion und Glauben. Und ich kenne mich da einigermaßen aus. Was mich aber umtreibt, ist die Ansicht von Juden, man möchte fast sagen: die Fernsicht auf Juden, auch aus unserer Gesellschaft (Darum verwende ich hier auch nicht Juden und Jüdinnen, sondern den eingeführten Volkscode, z.B. Deutsche UND Juden, wir vs. ihr, die vs. jene…Wo diese Ansicht, wo diese Fernsicht umschlägt, als hielte man das Fernglas verkehrt, wo man die Bilder aus Israel erhält, die hier weniger beachtet und bekannt werden, auch wenn man sie genauso gut sehen kann, da wird es schwierig. Was sind das für Juden, die faschistische, religionsfanatische, Gewaltausscheidungen von sich geben, die sich so auf die Bibel und die von ihnen nicht verstandene Shoahgeschichte beziehen, anstatt ehrlich ihren imperialen, arroganten Herrschaftsanspruch so offen auszudrücken, dass die Kritik auch eine Basis erhält und nicht mit der vor-rationalen Nebelbildung kämpfen muss. Ich nenne sie “nicht jüdisch“…. geht das?

Fangen wir an: David Shulman: A Bitter Season in the West Bank, NYRB 21.12.202320-22. Eine klare Absage an die Hamas, ohne wenn und aber oder historische Relativierungen. Aber dann die Frage: was, wenn die Gangster Erfolg haben und die Hamas aus dem Gaza vertrieben haben – „mehr Siedlungen, mehr Rassismus, mehr Jüdische Überlegenheit („Supremacy“), mehr tädliche Gewalt, mehr moralische Korruption. mehr antidemokratische Legislative, mehr Bürgerkrieg, mehr Netanjahu, mehr Hass“ (meine Übersetzung). Natürlich ist Schulmann für Verhandlungen und eine Verhandlungslösung. Und die darf ebenso natürlich den 7. Oktober nicht auslassen, und auch das kann jeder Mensch in Deutschland wissen: „Der Der Tag, der nicht enden will“, Autorenkollektiv Kai Biermann und 11 andere, ZEIT 6, 1.2.24, 11–12.

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Ich sage es einfach: so wenig wie man die ethnische Herkunft und Gegenwart leugnen, verschieben oder verbergen soll, so wenig darf man die gesellschaftliche und d8ie persönliche Ethik, die eine Ethnie auch zusammenhält oder verwässert, aus dem Blick verlieren. Was an Netanjahu und den Ultras in Israel ist „jüdisch“. Jüdisch ist eines von vielen Attributen oder Prädikaten, die jeder Jude, jede Jüdin bei sich haben, und es kommt oft darauf an, wie weit oben, wie wichtig „jüdisch“ ist. Dafür gibt es Regeln, eine Geschichte, Kritik, Veränderungen wie für alle anderen Attribute, aber innerhalb zweier Grenzen: der ethnischen, und der menschlichen im Allgemeinen.

Netanjahu und seine Gefolgschaft sind dabei, die Demokratie der Juden und Jüdinnen in Israel schwer zu beschädigen, dagegen gibt es Gottseidank Protest und Widerstand. Diese Rechten sind aber auch dabei, die menschliche Kommunikation mit den Palästinensern zu zerstören, jenseits der Kriegsrechts, des Völkerreichts, der Moral. Dafür müssen wir uns bemühen, die Kritik nicht nur aus menschlicher, auch aus jüdischer Sicht zu formulieren und öffentlich, nicht nur privat zu sagen. Wir…jüdischen Menschen mit einem Berg weiterer Eigenschaften. Nur Jüdisch kann niemand sein. Das wissen alle.

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