Wahrheiten sind nicht einfach

„Es ist in Wahrheit würdig und recht…“, so beginnt ein katholisches Messgebet, lateinisch viel schöner „vere dignum et justum est…“, seit dem dritten Jahrhundert dankt man so dem angebeteten Gott (Präfation – Wikipedia). In Wahrheit also, und nicht anders.

Die Heiligung der Wahrheit hat säkular abgenommen, wird philosophisch zerlegt, ist geradezu abstrus bei Verbrechern wie Trump oder Putin oder faschistischen Gaunern wie Netanjahu und in allen Medien der Tyrannei sowieso…und im Kleinen ist wahr sagen so etwas moralisches wie nicht lügen. Manchmal sagen die Terroristen die Wahrheit, indem sie sie aus dem Kontext reißen, und dann gewinnen sie Gefolgschaft anstatt Kritik.

Mich beschäftigt diese Wahr-Sagerei schon lange, nicht erst seit der Heiligung der fake-news und der post-rationalen Philosophie. Aber jetzt ganz aktuell. Sagt die israelische Regierung die Wahrheit, sagen die Palästinenser im Gaza und Westjordanland die Wahrheit, wenn sie jeweils ihre Politik darstellen und Verteidigen? Die israelische Regierung, ethnisch sind das Juden, ist de facto nicht „jüdisch“; die Hamas, de facto nicht „palästinensisch“, ethnisch auch semitisch, wie die Juden. Können diese partikularen Herrschenden überhaupt die Wahrheit sagen, wenn ihre Wahrheiten aus dem Kontext gerissen vorgetragen werden: historisch, kulturell, militärisch, alltäglich? Wenn ich jetzt sage, sie können es nicht, dann ist das kompliziert zu begründen, es geht aber. Eine Prämisse lasse ich einmal so stehen: Religion steht immer gegen den Wahrheitsanspruch.

Gegen die Glorifizierung oder Mystifikation von Wahrheit hat die Philosophie mehr Mittel als der Alltagsverstand. Ich hatte schon mehrfach auf Omri Boehms Priorisierung von Gerechtigkeit vor den inkompatiblen Wahrheiten hingewiesen (Boehm 2023). Beide Begriffe sind ohne ihre Kontexte nicht verwendbar, aber die Brücke zwischen Gerechtigkeit und Praxis ist stabiler und praktischer als die Abwägung der Wahrheiten gegeneinander.

Natürlich geht’s mir hier um die Wahrheiten des jüdischen Israel und der Palästinenser, nicht nur. Aber der Plural der Wahrheiten ist etwas anderes als die Heiligung der Fake News durch Trump und Konsorten. Da unser Leben nicht aus einer einheitlichen Ganzheitlichkeit besteht, weder zu Lebzeiten noch gar im nicht zutreffenden Jenseits, kann und muss es auch inkompatible Wahrheiten geben. Das ist nicht schlimm, sofern wir den Kontext lernen und erkennen können. Unwahrheiten spalten die Gesellschaft und stören, zerstören Solidarität. Wahrheiten jedoch verbinden nicht immer. (Mein bissiger Zusatz: geoffenbarte Wahrheiten erst recht nicht). Aber die Interpretation der biblischen Geschichte Abrahams, wonach aus ethischem Ungehorsam erst die „wahre Bedeutung seines Glaubens“ kommt (S.141), hat schon eine Bedeutung, die über die Geschichte in die Gegenwart nachwirkt. Bodenheimer verurteilt Gott deutlich, als er über den Mord an Rabin urteilt (Bodenheimer 1996). Er hat sich ausführlicher der Opferung des Widders angenommen, der statt des Sohnes von Abraham zur Hand war (Bodenheimer 1985). In knapper Form (27-31) wird die Differenz zwischen dem christlichen Lamm und dem jüdischen Widder so dargestellt, dass der Ungehorsam gegen Gott geradezu notwendig erscheint. In einem Interview 1997 hat Bodenheimer sehr deutliche Worte gesprochen:

„Denn jene, die die Schuldlosen verteidigen, schauen dann besonders darauf, wo sich die Schuldlosen selbst schuldig machen. Das sieht man jetzt an der Reaktion der Weltöffentlichkeit auf Juden, die sich in Israel schuldig machen. Aber es stimmt eben nicht, dass jene, denen gegenüber man schuldig geworden ist, die besseren Menschen sind. Das gilt nicht nur für die Juden, es gilt für die Palästinenser, es gilt rundum…(Frage nach der Alternative zu Schuldkenntnissen, MD)…Eine redliche, unpolemische Verständigung über die wesenhafte Verschiedenheit zwischen Judentum und Christentum!…Solange es nur eine Wahrheit geben darf, wird sich das (die Konkurrenz MD) nie bessern“ (Zurkinden 1997)

Das war 50 Jahre nach der Staatsgründung und ist heute noch aktuell. Die Freigabe der Wahrheiten als ethische, politische Praxis, als Bestandteil von Kommunikation unter Gleichen ist eine Form der Gerechtigkeit. Das schließt an Omri Boehm an.

* In diesen Tagen kann und will man nicht die Abstufungen von Wahrheit und Unwahrheit ethnisch zuordnen, ohne sich falscher Parteilichkeit schuldig zu machen. Es muss etwas geben, das die Wahrheiten im Konflikt so überbrückt, dass keine Seite mit Fakes arbeiten kann, dass also Vertrauen und Solidarität sich jenseits von Wahrheit entfalten können.

 

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