Aufbruch statt Einbruch

Sarkastischer Titel, was? Es geht mir aber um eine Erinnerung an die fatalen Geschichtslektionen vor mehr als 50 Jahren und einen neuen Aufbruch.

Seit drei Monaten lese ich Wolfgang Behringers Buch „Der große Aufbruch“ (Beck, München 2023), und ich halte gerade bei Seite 679 von mehr als 1000. Jetzt schon eine Rezension? Ja, der Untertitel lautet „Globalgeschichte der frühen Neuzeit„, und diese Periode habe ich abgearbeitet – d.h. gelesen, viele Details natürlich wieder vergessen, aber eines habe ich verstanden: mein Geschichtsunterricht in Schule UND Universität war schon ziemlich einseitig, national und austro-, euro-zentristisch. Und das merkst du erst jetzt?, du Depp, fragt die innere Stimme. Natürlich nicht, dazu habe ich viel von französischen und englischen Historikern gelesen und mir Gedanken gemacht. Aber die GLOBALEN Zusammenhänge habe ich nie zuvor so syn- und diachron zugleich erfahren. Macht ja nichts, manche Alte gehen heute noch ins Seniorenstudium.

Lest Behringers Lebenslauf (https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Behringer) und von seinen Werken vor allem das Buch über Hexen (zunächst Hexenverfolgung in Bayern. München 1987).

Warum ich das schreibe, ich mache ja sonst kaum Rezensionen? Zwei Gründe: in vielen Berufsjahren habe ich sowohl in Asien als auch in beiden Amerikas doch eine Menge politischer Kultur erfahren, aber nie zuvor ihre Vorgeschichte und ihre Verwicklungen, ja Verknäuelungen so gekannt, dass mir bestimmte Ereignisse verständlich wurden. Das also betrifft mich, und ihr braucht es nicht weiter zu verfolgen.

Der zweite Grund aber ist ganz aktuell: Ihr lest ja meine Posts zu Israel, Palästina, den Nahen Osten und die Jüdische Geschichte des Staates…es sind schon eine ganze Menge. Wenn die eisige Trennlinie der 7. Oktober 2023 ist, dann interessiert mich die Vorgeschichte dieses Schreckdatums besonders, die Entstehung des Staates Israel, seine zionistischen und antizionistischen Wurzeln, seine internationalen Eingriffe, oft verdrängt (England) oder hervorgehoben (USA), und mich interessiert die Geschichte der Palästinenser auch unter dem Aspekt, dass viele sich nicht einigen können, wer oder was die sind. Und zu dieser Geschichte gehört auch die Religionsgeschichte, wer sie ausklammert oder gar mit der Religion gegen Geschichte argumentiert, trägt zum Unfrieden des Bewusstseins bei. Nun arbeite ich daran seit über 20 Jahren, aber es wird mehr und nicht weniger klar, wie sich was entwickelt hat (ein böses Beispiel: wo kommt der israelische Faschismus bei den Religiösen und bei den Siedlern her? Oder wie wurde die PLO ideologisch und religiös überbaut? oder warum gibt es den Gazastreifen wirklich?

Bei Behringer kann man die Verbindungen wirklicher Geschichte mit oft vielen kulturellen und sozialen Ereignissen, Vorgaben, Konsequenzen studieren. Aber imn Bezug auf die Bemerkung zu Israel festigt das meine Überzeugung, dass noch so differenzierte Historie sich der sozialen und politischen Wahrheit nur teilweise nähert – natürlich braucht man ihre Daten und Interpretationen – aber die ethnologischen, kulturellen, sozialen, politischen Diskurse sollen nicht zu den Bindestrichen der Sozial-Geschichte, Kultur-Geschichte etc. formalisiert werden, weil man ja bei Behringer gut erfährt, dass die Zusammenhänge der Wissensentwicklung in den unterschiedlichen Kulturen doch nicht synchron vergleichbar sind, und die frühe Neuzeit aus den Spannungen und Differenzen weltweit sich konstruiert hatte – weltweit, das ist der Angelpunkt. Wirkliche Geschichte kennt wohl mehrere „Wahrheiten“.

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Naja, da habt ihr eine altmodische Rezension ohne Verweise und Beispiele, aber eine wirkliche Hilfe, genauer zu verstehen, was ich längst gewusst hatte. Die Bücher kann ich trotzdem empfehlen.

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