Vom ersten bis zum fünften August war ich mit einem Freund im Kosovo, nach 25 Jahren haben wir Erinnerungen aufgefrischt, Veränderungen und Wiederholungen beobachtet und uns biographisch arrangiert. Über diesen Aspekt werde ich hier nicht ausführlich schreiben, sondern über die Eindrücke einer kurzen Reise durch ein kleines Land, mit einem mehrschichtigen Anlass nicht nur der Reminiszenz, sondern auch der Innovation. Reminiszenz wäre der Rückblick auf unsere Zeit bei UNMIK, Innovation war der erste Besuch bim Filmfest in Prizren, das es schon einige Jahre gibt, und zu dem uns ein Freund aus Deutschland animiert hatte. Schaut in die letzten beiden Abschnitte zu den nicht biographischen Eindrücken…
1.
Ankunft in Pristina. So hätte man sich diesen Flughafen nicht vorgestellt, zwar nicht unendlich groß, aber so modernisiert, wie kaum erwartet, von einem Parkplatz- und Mietwagenmeer umgeben und, paradox?, gesichtslos wie alle Flughäfen dieser Art, man muss schon wissen, WO man ist. Wiedererkennen des Antennenbergs gegenüber, in dem die langen Tunnels sind, in denen die MIGs verborgen waren. Haben wir nie betreten dürfen.
Wir können nicht mit den Bekannten nach Prizren fahren, deren Mietwagen ist schon voll, und glücklicherweise bekommen wir nach mehreren Abfuhren wegen Ausbuchung bei einem kleinen Unternehmen einen Leihwagen, Peugeot, sehr in Ordnung, fünf Tage Bequemlichkeit. (Überquellendes Benzin beim Tanken schafft nur kurzfristig Besorgnis).
Erste Verunsicherung. Fährt man aus dem Flughafen hinaus, sieht es wie früher aus, zwei Kilometer, denn sehen wir die Autobahn, Ost-West, offenbar neu. Wir wollten die alte Bundesstraße von Pristina nach Süden fahren, aber nach Durchfahrt durch die heute noch eher scheußlichen Vorstädte sagt man uns: kehrt um, nehmt die Autobahn. Ja, das tun wir, eine sehr neue, breite Autobahn, die weit nach Westen ins schwach besiedelte Gebiet ausholt, und dann nach Süden abbiegt. Gut befahren, aber nicht so voll wie alle anderen Straßen. Also auch nicht verstopft. Nach einer Stunde in Prizren, überlaufen und sehr kompliziert, zur Garage des Hotels zu kommen, dauert eine Stunde, obwohl wir ungefähr wissen, wo es ist: aber ein Straßen- und Einbahngewirr. Dann sind wir da. Das Auto in der Tiefgarage, wir wissen schon, dass man nicht so einfach wieder herauskommt. Das Hotel „Centrum“ sehr typisch, zwei Gebäude, durch ein weiteres Hotel getrennt, alles gehört zusammen und den Eigentümern, die teilweise auch selbst dort die ganze Zeit arbeiten, wir haben eine Suite aus zwei Einzelzimmern mit einem supermondänen Bad, dessen Armaturen wir eher nicht benutzen. Alles schön, sauber und in kleinen Aspekten schon defekt…Wir flanieren in die Fußgängerzone im Zentrum und treffen dort, „natürlich“ auf Hörschelmann, seine Begleitung zweier deutscher Offiziere i.P. Bernhard Grigoleit und Rolf Damke. (Pardon, in der ersten Fassung hatte ich hier einen falschen Namen angegeben)) und eine lokale, also deutsche, kosovarische, Journalistin aus der Region, die in Potsdam auch mit den Grünen arbeitet. Das sind echte Zufälle und keine verdeckte Planung. Man kann auch sagen, typisch für Kosovo insgesamt, oder überhaupt? Keine Philosophie bitte dazu. Eher das Wiedererkennen der abendlichen Lebendigkeit ab 20 Uhr…die Stadt ist übervoll: zu den ca. 40.000 Einwohnern viele Besuche, v.a. aus Deutschland – Ferienbesuche, dann die Zuschauer für das Filmfest, dann die Motorradtruppe – siehe die kommenden Tage, und Touristen, nicht so viele. Aber wir werden erst an den folgenden Tagen diese Struktur der kulturell und historisch wohl spannendsten Stadt Kosovos kennen lernen. Unsere Erinnerung über Ereignisse ganz am Anfang unserer Arbeit für UNMIK Spätherbst 1999 bis 2003 ist nicht intensiv, vieles erkennt man wieder, aber wir haben hier ja nicht gelebt (Die Einbahnstraße am Flussufer war ein frühes Ergebnis der militärischen Besatzung, bis heute sinnvoll). Sonst schon stark modernisiert. Wir erhalten eine Vorschau auf das Filmfest.Und es wird spät….wann schlafen die alle eigentlich? Von unserem Hotelfenstern aus sieht auf eine Baustelle, wo ein Haus im alten Stil, Fachwerk, wieder aufgebaut wird. Viele Stunden am Tag Arbeit, die am frühen Morgen beginnt.
2.
Erkundung nach dem Frühstück. Eine orthodoxe Klosterkirche, neugestaltet nach den Angriffen von 2004, da waren wir schon nicht mehr im Land, aber das Ereignis ist noch im Bewusstsein, weitere Vertreibung der Serben auch von hier. Wie überall im Land, viele neue Moscheen neben den alten, wenig besucht…wir erfahren, dass die Saudis Islamisierung betreiben, die vielen männlichen Kinder zT. schulisch befördern und den Frauen dafür die Schleier verpassen. Viele, aber nicht ganz die Hälfte. Den Hang hinaufsteigen, gut gepflastert, wo die Stadt das Sagen hat, sind die Mülleimer geleert, ansonsten Müllhaufen und Flaschenberge. Zunehmend schöner Rundblick über die Stadt, das Kloster auf halber Höhe kann man nicht betreten, oben auf der Festung das Zeichen der APK – und schon eine große Festung, man kann das nachvollziehen, wie sie das Tal beherrscht hat, man sieht weit. Wenige Touristen. Im großen Innenhof wird eine Musikbühne mit vielen Lautsprechern aufgebaut, wir erfahren hier, dass die Motorradfahrer hier ein Fest am nächsten Tag haben werden, dabei haben wir die meisten von ihnen ja nicht gesehen – kommt noch. Wir steigen nicht weiter, aber genießen den Rundblick, bis zum Scharr und hinüber nach Djakovica und in die Stadt hinein. Dicht. Runtergehen im steilen Gelände, ein Espresso nach dem anderen, in der Innenstadt auf das andere Ufer. Dort knickt die Hauptstraße an der Steinernen Brücke ab, und da stehen wir und sehen mindestens 200 Motorräder vorbeifahren, diszipliniert, viele haben die Maschinen aus Deutschland gebracht, Teil einer Lebensstandard-Manifestation, ebenso wie Investitionen in teure Privatautos und Eigentumswohnung in der Stadt, die die meiste Zeit leer stehen und nicht vermietet werden. Viele Bettler, angeblich alle Roma. Geht man diese Straße weiter, die Ausfallstraße nach Nordwesten, denn kommen wir an einer sehr großen Anzahl von Goldjuwelieren vorbei, später dann auch Silber. Soviele wie nirgendwo anders als in Dubai oder NY…wieviel die wem verkaufen ist genauso ein Rätsel wie, woher das Gold kommt. Gegenüber ebenso lang Brautkleider, Brautkleider und Hochzeitsgewänder, Nagelstudios. Zurück in die Stadt.
Der Abend gehört der Eröffnung. Axel von Hörschelmann agiert als einer der Hauptakteure mit den Einlassprozeduren, kennt auch viele. Viele Menschen stauen beim Einlass auf die Leinwandinsel, einer der acht Veranstaltungsorte, auch ganz nahe der Innenstadt. Erst warten alle auf Kurtti, den Präsidenten, als er nicht kommt, eine kurze Begrüßung, dann ein palästinensischer Vorfilm, ok, und der erste Film: „Opening Ceremony“, with invitation only, ca. 300 Menschen auf der Tribüne. The Helsinki Effect, ein finnischer Film von großer dokumentarischer Qualität darüber, wie es zu den drei Körben von Helsinki gekommen ist, viel Breschnew und USA und gute Kommentare. 2025: Regie und Drehbuch: Arthur Franck, Besetzung: Bjarne Mädel, Arthur Franck, Urho Kekkonen . Als der Film zu Ende ist, steht der Premierminister Kurti auf und verlässt gut bewacht die Arena, wir sehen ihn und erinnern uns daran, wie er uns nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis in Jugoslawien im Kosovo besucht hatte – heute der wichtigste Politiker. Keine Brücke zu dieser Vergangenheit, oder nur ein Steg.
3.
So animiert, erkunden wir am nächsten Tag weiter die Stadt, kaufen Tickets und schöne T Shirts, besuchen das Postamt und eine Kunstgalerie, die doch wichtige zeitgenössische Kunstwerke ohne Kitsch präsentiert. Dann beginnt der Filmmarathon. Erst 11 Kurzfilme, davon vier hervorragend, über soziale Unterschichten in Deutschland, Serbien, und viele eher zweitrangige Versuchsmodelle. Dann drei sehr gute und einen schlechten Kurzfilm, die drei sind auch länger und international gut. Der negative Höhepunkt war ein Film über die Entdeckung des Coronavirus. „The Blame“. Blame (2025) | Film-Rezensionen.de Die richtige Kritik an Trump und Kennedy reicht nicht, die Realität ist durch den Regisseur und die Argumente zu sehr schwarz-weiß. Forget it, schade. Insgesamt ist das Programm sehr detailgenau und umfangreich, oft kann man sich gar nicht entscheiden, wo man was sehen will. Das ist gut so. Und dass es keine rahmensprengenden Reden gegeben hat, ist auch gut.
4.
Am nächsten Tag brechen wir zeitig, nach aufrichtiger Verabschiedung und dem letzten Frühstück im Hotel auf. Wir verabschieden uns von unserer deutsch-kosovarischen Kollegin in Gjakova/Dakovica. Haben viel vom binationalen Verhältnis und von Details erfahren, die schon wichtig sind nach 25 Jahren. Weiter nach Nordosten, wenig bearbeitetes Agrarland, nicht wirklich neuartig, hingegen retro-aktiv Zufahrt und Eintritt ins Kloster Decan, Pass abgeben, italienische NATO und alles wie früher. Auch, dass ich diese gut renovierte Klosteranlage nicht so richtig einatme, anders als Gracanica, denn hier hatte ich nichts zu tun gehabt. Kunsthistorisch eine gute Stunde. Weiter nach Norden, die Straße ist schon stärker bebaut, aber „normal“, und das Gebirge links ist einfach schön. Bis vor Pec. Da quält man sich schon zum Beginn der Auffahrt zur Rugovaschlucht ganz schön stockend, und dann fährt eine Schlange hinein und eine kommt uns entgegen. Wir parken früh (klug) und wandern die Straßem entlang hinauf (ungut), bis zum Eingang in die wirklich tiefe Schlucht, gegenüber dem Felsen, wo wir unsere Freunde haben klettern gesehn und wo mitten aus der glatten Felswand eine Quelle entspringt (überall sehr wenig, zu wenig Wasser). Eine kleine Betonaussichtsplattform und eine Eisenleiter zum Flussabstieg sind neu, sonst schaut es aus wie früher. Wir essen zwei Maiskolben, es gibt keine wirkliche Touristik. Wir wandern an der Straße zurück, nach wie vor viel Verkehr, Rückblenden: Manche Wochenenden hier oder weiter im Tal, man kann nicht „normal“ über die Grenze nach Mazedonien fahren, das haben wir mehrmals auf der nationalen Grenzstraße über den Pass gemacht, ich einmal anonym im Bus. Zurück in Pec, Cafe und Eis und alles wie vorher, nur viel Verkehrsumleitung, weiter Richtung Prishtina. Wir nehmen Nebenstraßen, teilweise durch sehr schöne Hügellandschaften, aber auch viel Zersiedlung. Entgegen der Landkarte schaffen wir es, wieder auf die Hauptstraße zu kommen und dann auf der Autobahn Richtung Prishtina. In dessen näherer Umgebung, etwas abseits vom Hauptverkehr, suchen wir vergeblich nach Unterkunft, dann aber am Ende der Stadtautobahnzufahrt ein gutes Hotel Star Hill für zwei Nächte, direkt am Kreuzungspunkt. Hier ist eine Typische Neubausiedlung mit 8-12 stöckigen Mittelstandshäusern, mit keinen besonderen Lokalen, die bis auf eines ohnedies am Sonntag nur Getränke ausgeben. Dann essen wir halt Reis bzw. Pasta. Soziodiagnose der Umgebung verrät wenig über Pristina. Ökodiagnose: die Autobahnen und Zufahrten weit hinaus ins Land gesäumt von Industrie, Handel, Großhandel: das ist die Fortsetzung der Moderne, die wir am nächsten Tag als Kapitalismus ohne Sozialrahmen diagnostizieren.
5.
Der letzte Tag. Im Bus 7c ins Zentrum von Prishtina. Sozusagen Wiedererkennen plus neue Strukturen plus zerstörtes Älteres. Ich kann das alles nur zusammenfassend darstellen, es zerfällt in viele erinnerte und viele konstruierte Schichten, und zu zweit schaffen wir eine weitere Erinnerungsebene, die viel mit unseren tatsächlichen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten damals zu tun hat. Der Bus hält fast genau vor meinem früheren Ministerium, einem dunklen Hochhaus, umgebaut und uninteressant. Gegenüber das Rektorat, wir gehen in den Garten, der Wächter will uns raushaben, als ich ihm aber sage, wo ich einige Zeit das Sagen hatte, ist er überfreundlich. Das Haus steht noch immer im gleichen Garten, dahinter die unverständlich heruntergekommene Bibliothek, damals ein wichtiger und repräsentativer Bau. (Da gehen wir erst bei der Abfahrt über den Campus). Vieles ist popularisiert, was Geschäfte usw. angeht, die orthodoxe Kirche schräg gegenüber ist fast fertiggestellt. Die alte oberhalb des Campus nach wie vor zerfallend. Wir gehen zur Mutter-Theresa-Straße, die jetzt von Ministerien gesäumt ist, eine schöne Allee – an einige der randständigen Geschäfte erinnern wir uns, aber nicht viel. Das Grand Hotel, da haben wir wirklich Geschichte(n), ein nach wie vor düsterer und nichteinladender Eingang. Am Ende der Straße Jahrmarktbuden, von Raiffeisen gesponsert, das war gestern und vorgestern, noch nicht weggeräumt, auch die Bühne quer zur Straße noch da. Das Regierungsgebäude fast klein neben dem Hochhausneubau, und einem Zubau: alles Parlament. Wir gehen herum, und da sieht es doch noch erinnerbar so aus wie damals. Auf der anderen, der Hügelseite, auch, und als wir uns ein Eis kaufen, kommen noch andere Erinnerungen auf. Wir helfen uns aus mit Namen und Erinnerungen, aber es ist nicht tiefgreifend. Wir gehen an den Geschäften zurück, viele Ministerien, auch als wir richtung Sportpalast abbiegen. Den haben wir zwei Tage lang brennen gesehen, er ist wohl wieder intakt, mit erstaunlich brüchigen Treppen und Zugängen, im Untergeschoß Modegeschäfte, „wie üblich“. Keine großen Erinnerungen. Auch gehen wir nicht an die erste Unterkunft jenseits des Flusses und fahren auch nicht zu unserer Wohnung im westlichen Hügelbereich. Die Stadt bleibt, wie sie war, und wir sind „nicht mehr“ an sie gebunden, auch nicht wirklich durch Erinnerung. Spannend sind Kleinigkeiten, wie alte und neue Denkmäler (viele), eine Art Großstadtnormalität, aber die Stadt ist nicht wirklich groß. Ein typisch zweitklassiges Mittagessen unter der Hauptstraße, dann kommt unser Bus nicht. Wir fahren mit einem Taxi nach Hause, dessen Fahrer seit 25 Jahren aus Deutschland zurück ist, Gespaltene soziale Reaktion bei uns, weil er bedauert, dass er nur Taxi fährt. Es regnet. Wir fahren gleich los, über viele Baustellen und Staus Richtung Gracanica, dem serbischen Ankerplatz, teilweise durch wirklich gigantische Neubaugebiete mit Wohnhochhäusern, neben dem subproletarischen Stadtrand…Das ist gegenwärtig, nicht vergangenheitsbezogen, alles spannend, aber nicht ständig interessant. Gracanica: Das Kloster innerhalb der Mauer, mir hat es immer besser gefallen als andere, auch wenn ich einmal eine Neujahrsmesse eineinhalb Stunden dort stehend verbringen musste. Wir haben die serbische Schublade unserer Erinnerung aufgezogen, aber es war nicht tiefgehend. Über den südlichen Stadtrand in unsere Stadtautobahn zurückgekehrt, mich erinnert das ganze an die Wiener Triesterstraße vor 20 Jahren. Mühselig ein Abendlokal gesucht, um endlich eher durchnässt im Nachbarhaus Ceasar Salad und Burger zu essen, an den Nebentischen sprechen die kosovarischen Familien halb deutsch, halb eben kosovarisch.
Was ich hier nicht beschreiben kann, wollte ich es denn, sind die kleinen Elemente, die ebenso kleine Erinnerungen produzieren, die leuchten kurz auf, verschwinden. Die wirkliche Nacharbeit kommt noch: was haben wir dort gesehen, das wir viel früher gesehen haben, und wie hat sich nicht nur Prishtina verändert, sondern wie haben wir uns geändert? Naja, wir haben schon einiges geleistet, dass das jetzige Gebilde stabiler und dynamischer sich hält als eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Aber solche Wahrnehmungen darf man m.E. nicht gleich politikwissenschaftlich kartieren, sondern muss die Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen führen, die haben uns ja schon auch geprägt. Freundschaften, Gegnerschaft, Koalitionen, Politik, Kultur und – eine Lebenswelt, deren späten Rand wir jetzt noch einmal gesehen haben.
6.
Das alles lohnt für einen Post? Ja, doch, aber nicht unmittelbar. Reisebeschreibungen haben selten Novellenform, weil das besondere Ereignis und eine unerwartete Handlung im Vordergrund stehen. Hier nicht, andererseits sind die Eindrücke des Filmfests – jahrgangsübergreifend, vergangen, gegenwärtig, zukünftig – und die Motorradshow schon hinlänglich thematisch spannend; aber sie waren nicht der Grund unserer Reise aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Eine mehrjährige Erfahrung (1999-2003) in der Politik der Führung durch UNMIK im Zeitraum der beginnenden Wiedergewinnung kosovarischer Souveränität nach dem kriegerischen Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den serbischen Gewaltherrschern davor prägte unsere Aktivität in Pris(h)tina, der Hauptstadt des Kosovo – und im ganzen Land, das ja klein ist. Über meine Rolle damals habe ich kurz nach meiner Rückkehr aus dem Kosovo ein Buch geschrieben[1]. Jetzt war das nicht wichtig, sondern wie man sich an das erinnert, was vor 25 Jahren für das eigene Leben und seine berufliche wie persönliche Zukunft wichtig war und WIE man was erinnert. Wenn man an seine politische Tätigkeit zurückdenkt, geht das nicht ohne Nachdenken über die gesellschaftliche, soziale, kulturelle Umgebung der politischen Aufgabe, die man damals erfüllte, und dieses Nachdenken verbindet natürlich objektive und subjektive Ereignisse. Ein Beispiel: eines Abends erschien Albin Kurti zum Essen, kurz nachdem er aus serbischer Haft entlassen war – lest nach, wer er 1999 und danach war (Studentenführer) und wer er heute ist (Premierminister) Albin Kurti – Wikipedia (9.8.2025). Wie erinnert man das, was sagt es heute? Wie sieht man Gebäude, urbane Landschaften, serbische und kosovarische Kultureinrichtungen, wie verarbeitet man die Konflikte zwischen kosovarischen Albanern und albanischen Albanern, zwischen serbischen und nicht serbischen Slawen, unter den drei ziganen Volksgruppen? Und zwar in der Erinnerung, nicht durch erneutes Wiederaufleben. Die Reise durch das Land, die Gespräche sind sozusagen Trigger der Erinnerung, und sie helfen dem Gedächtnis, Lücken zu füllen, und das ist gut für Menschen unseres Alters. Mehr aber auch nicht. Auch ist es spannend, was von den Bewertungen unserer politischen und halbpolitischen Umgänge mit kosovarischen, manchmal serbischen, Menschen geblieben ist, wo es abgeflacht und wo es nach wie vor aktuell ist…nur mehr im Erinnerungsdiskurs.
7.
Hat man keine persönlichen Reminiszenzen, kann die Reise nach Prizren und durch den Kosovo doch auch in anderen Perspektiven interessieren. Z.B. der Fahrzeughype der aus Deutschland und der Schweiz eingereisten Kosovaren, hochklassige Modelle, Autos oder auch Motorräder, die etwas vom Status und weniger vom Bedarf oder tatsächlichen Vermögen zeigen (sollen). In Prishtina sehen wir dann viel häufiger kleinere und billigere Fahrzeuge lokaler Besitzer. Übrigens: wenig Gehupe, eher zuvorkommendes Fahren und kein unangenehmer Verkehr, dafür viele endlose Staus auf den Stadtzufahrtstraßen. ? Produkt der Modernisi8erung der Strukturen ?
Fährt man Überland, dann fallen die großen Reklametafeln auf und vor allem, dass doch fast alle damals im Rohbau befindlichen Häuser verputzt sind, außer hinterlassene, von Serben verlassene. Die Ungleichzeitigkeiten sind deutliche Zeichen der Entwicklung des Landes: hier die neue, großzügige Autobahn, da die Reparatur einer seit den Konflikten beschädigten Brücke, hier Gewächshäuser, da verkommene nicht genutzte Agrarflächen. Auf der Fahrt abseits der Hauptstraßen kommt man durch etliche Streudörfer, die gut anzusehen sind, aber: wie lebt man hier, wie kann man das? Die gleichen Fragen wie bei uns, und die Stadtland-Differenz spielt schon eine Rolle. Vor allem in Prizren, aber auch in Pristina und Pec, haben wir in den Einkaufsstraßen doch die Ungleichzeitigkeiten der sozialen und der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen, die Schmuck- und Modeläden sind ebenso zeitlos wie eine (minderheitliche) Gruppe wie früher be- und verkleideter Menschen. Aber auch die Sozialstruktur zu erkunden, macht auf eine Reise Sinn.
8.
Woher kommt das Filmfest, wie kann es so gut und vielfältig ausgestattet sein, und wie wird es weitergehen? Viel haben wir von Axel Hörschelmann und aus dem Katalog erfahren. Aber die Integration und Akzeptanz in der Stadt sind schon besonders, und die schlanke uneitle Umrahmung. Keine großen Reden und Vorstellungen. Beeindruckend die Sponsoren, neben Banken und Unternehmern die Botschaften von Schweden, England, Österreich, Italien, der Schweiz, Deutschlands, auch der EU, des British Council, von UNDP…neben vielen bekannten europäischen und lokalen Firmen, natürlich Red Bull darunter. Wir sind jetzt bei Edition XXIV gelandet „Endless Greed Mental Void“ (was sich dahinter auch als Kritik verbirgt, mag man erkennen). Die uneitle Selbstdarstellung und die Praxis der Durchführung der unendlich vielen Filme sind erstaunlich. Wie überhaupt die Kultur in Prizren besonders deutlich die Stadt durchwirkt. Das merkt man auch an den (wenigen) Buchhandlungen, in denen es auffällig viele Übersetzungen ins Kosovarische gibt – und eine bemerkenswerte Vermarktung englischsprachiger Bücher der besten Kategorie und Übersetzungen (ich finde Orwell und Sigmund Freud neben vielen anderen), – natürlich neben Schmonzes und Kitsch. Und überall Espresso und Café und … nicht, dass das etwas „Besonderes“ ist, aber es ist hier schon besonders, denkt man an die Zeit vor einem Vierteljahrhundert zurück.
Viel zur Besonderheit trägt dazu bei, dass nichts touristisch überhäuft ist, und die Verbindung der zeitweise zugereisten Kosovaren und der Lokalen eine besondere Stimmung erzeugt. Und wie überall, außer in Deutschland und teilweise Österreich, wie überall sind die Kinder lange wach und dabei, und die Innenstädte belebt bis Mitternacht.
Viel Lob? Ja, und hinreichend Kritik zum aufgeblühten Kapitalismus ohne viel soziale Abfederung.
Anmerkung: wer dorthin fährt, sollte sich von Anfang an um zeitnahe Landkarten bemühen, nicht so häufig zu bekommen, am besten in Touristenbüros.
9.
So, das war es. Die nächste Ausgabe dieses Berichts wird mit Bildern kommen, das braucht noch etwas Zeit.
Fragen und Kommentare herzlich willkommen.
[1] Ohne Alternative. Mein Bericht vom Planeten Kosovo. Oldenburg 2004 (BIS). Insgesamt habe ich ca. 20 Texte zu meiner Arbeit im Kosovo veröffentlicht, viele längere Zeit nach meiner Rückkehr im Vergleich zu anderen Interventionsstaaten.