Deutsch ist tödlich?

Selbstmord ist ein gebräuchlicher Begriff. Selbsttötung, Freitod, Suizid werden alternativ gebraucht, aber SELBSTMORD ist schon gebräuchlich. Schauen wir einmal nicht andere Sprachen an, sondern bleiben wir beim Mord. Wenn der gelingt, gibt es dafür keine Strafen, die den Mörder treffen, aber viele, die dem Töten assistiert haben und moralische wie kulturelle für die Umgebung dessen, der oder die ja nichts mehr mitbekommen, sie sind ja selbst tot.

Jean Améry nennt den Diskurs über den Freitod „Hand an sich legen“ (1976). Darüber kann ich gut nachdenken und reden. Die Sprache führt vom Faktum – eben Hand an sich legen, sich aus dem Leben zu nehmen – in ganz andere, leider lebendige Bereiche. Schaut euch nur den Begriff des Mordes an, und verbindet ihn mit lebendigen Menschen, die entweder jemanden ermorden oder sich selbst.

Wer sich selbst das Leben nimmt, glaubt wohl nicht im Jenseits einen Mordprozess beim Eintritt in die Ewigkeit erleben zu müssen, und wenn, würde er oder sie eine Palette von Milderungsgründen vor dem – ja was? göttlichen? – Gericht vorbringen, um einem Urteil – Hölle, Fegefeuer o.ä. – zu entgehen? UNSINN. Aber natürlich wollen, wollten vor allem in der Vergangenheit, die christlichen Kirchen den Suizid verhindern, weil sie den Zugriff auf den Menschen ja mit seinem Tod verloren hätten. Und gläubige Menschen ließen sich lieber für ein Verbrechen zum Tod verurteilen und hinrichten, als sich selbst aus dem Leben zu schaffen. Der Mordbegriff beim Selbstmord bleibt an der Umgebung des suizidalen Menschen, näher, weiter, ganz weit hängen. Und greift tief in das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein ein, auch in die juristischen, ethischen und kulturellen Sphären.

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Ob und wie der selbstgewählte Freitod für den Menschen, der oder die ihn vollzieht, angemessen ist, kann von außen kaum beurteilt werden, soll auch nicht.Was gehts uns an? Aber denken wir anders_ Gemessen an der objektiv winzigen zeitlichen Spanne unseres menschlichen Lebens, Mikrosekunden an der Weltuhr, und vor der Geburt NICHTS und nach dem Sterbemoment das NICHT, anstatt eines weiteren Bewusstseins, denken wir also daran und warum einzelne Menschen die Mikrosekunde noch verkürzen (wollen). Dann merken wir oft erst, wie wenig wir von anderen Menschen wissen und fühlen.

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Warum mich das heute besonders umtreibt? Nicht, weil ich auf dem suizidalen Weg bin. Aber weil ich denke, wer wieviel dazu beiträgt, vielen, Millionen, Menschen das ohnehin kurze Leben zu versauen und zu verkürzen (und wieviel wir, jede(r) von uns, dazu beiträgt). In den letzten Tagen ist da eine Menge aufgelaufen, die an der wirklich fortgeschrittenen Evolution des homo sapiens zweifeln lässt, aber soviel Zeit, das haltbar zu verbessern haben wir nicht. Und ob die KI-Alternative zu uns Menschen wirklich weiterhilft, bezweifelt der Rest unseres Denkens zu Recht.

Dann schaue ich um Mitternacht noch einmal die Nachrichten an. Verfluchen hilft nicht, es herrschen die Nitups und Pmurts und bei uns, in Deutschland, Österreich, neuerdings auch Belgien, lange schon in Ungarn und Italien usw. regiert die Verkürzung unseres Lebens durch Abbau von Demokratie, Solidarität und Kooperation.

Wir sollten die Faschisten überall bekämpfen, und nicht die einen milder als die andern betrachten, nur weil sie uns scheinbar weniger schaden. Was wissen wir schon von uns selbst in der globalen Politik? Da zeigt der Wegweiser außer zur Bildung auch zum widerständigen Selbstbewusstsein. Solange wir leben und uns nicht von anderen zum Mord und Selbstmord treiben lassen. (Traurig, nicht zynisch: wer vor den Mördern seinem Leben ein Ende bereitet, begeht das Gegenteil von Mord…)

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Gegen die Angst

Von Mareen Linnartz (Süddeutsche Zeitung, 1.2.2025)

Auch das ist ein wichtiger Ansatz im Leben.