Schiebt Seehofer nach Bayern ab

Es gibt keine Ruhe. Ein deutscher Täter muss schizophren sein, wenn er Ausländer, Migranten gar, töten will. Ein afghanischer, irakischer, syrischer Jugendlicher greift gesund und wahrscheinlich längst erwachsen deutsche und ? andere Menschen an, verletzt sie: er ist von vornherein voll schuldfähig, weil er ja aus unserem deutschen Wohlwollen überhaupt nur hier ist, und wir nehmen keine pubertierenden Jugendlichen, schizophrenen, traumatisierten Flüchtlinge auf, bestenfalls Arbeitskräfte.

Das Strafrecht, auch die Trennung von Polizei und Gericht, kommen den abseitigen Politikern, nicht nur Seehofer oder Reul, abhanden. Das wissen wir. Aber man muss es täglich wiederholen. Seehofer, getrieben von Schuldgefühlen (Familienpolitik und -beschädigung, Beleidigung der Kanzlerin, Verarschung der Bevölkerung) will in seiner Angstblüte noch einmal er selbst sein – sein CSU Kollege Schuster hat die oben angesprochenen Vorfälle gelassen und klug dorthin befördert, wo sie hingehören, zu Polizei und Justiz (DLF 3.1., 7.15).

Ich würde Seehofer aus vielen Gründen gern vergessen. Sich an einem Fossil reiben, macht so viel Spaß wie an die Aschermittwochzeltwand der CSU pinkeln. Aber dieser Mann ist so genannter Innenminister in einer nicht nur so genannten Demokratie. Da muss er haften.

Was die beiden Vorfälle von Amberg und Bottrop betrifft, sind sich alle vernünftigen Menschen quer durch die Parteien einig: beide Vorfälle eignen sich nicht als Präzedenz für neue politische Kontroversen. Bei schweren Straftaten war mein Motto immer, sperrt die Täter ein, aber schiebt sie nicht ab.

Bei Seehofer kommt etwas anderes hinzu. Viele der zu Recht oder Unrecht Abgeschobenen kommen wieder, als Gefährder,  unerkannt, getarnt und voller Vergeltungsdrang. Dann geht’s es dem Innenminister direkt oder indirekt an den Kragen. Das ist nicht zu wünschen, aber kein unrealistisches Szenario: warum sollen Herkunftsländer die Abgeschobenen wegen Taten foltern, die in Deutschland begangen wurden (sie foltern sie ohnedies, weshalb sie ja früher geflohen; und „Folter“ kann durchaus durch andere Vokabeln ersetzt werden, in diesem Fall). Dazu kommt etwas ganz anderes. Ausgerechnet der bayrische Übeltäter argumentiert, dass man ja von Asylbewerbern besondere moralische Verantwortung und ein dem Aufnahmeland konformes Verhalten erwarten müsse.

Um es  klar und fast aggressiv zu formulieren: Asyl wird nicht gewährt, wenn und weil es mit Dankbarkeit und Unterwerfung gekoppelt ist – der oder die Geschützte kann dankbar sein, aber er und sie müssen es nicht. Aus Zeiten voraufgeklärter Huldbezeugung sind wir raus.

Es gibt einen berühmten Fall eines Auschwitzüberlebenden. Der Unternehmer wurde massiv wegen seines Verhaltens angegriffen („…nach dem, was er erlebt hatte, müsste er doch anständiger sein…“). Das “Müsste“ könnte auch „Sollte“ lauten, um den moralischen Standpunkt der Kritiker deutlich hervorzuheben. Der Mann wurde im Fernsehen angegriffen, erst KZ-Opfer, und jetzt hartherziger Kapitalist…da entblößte er seinen Unterarm, deutete auf die Häftlingsnummer und meinte, niemand brauche ihm Moral beizubringen. Richtig und falsch zugleich.

Millionen Flüchtlinge, nicht erst seit 2015, haben schrecklichstes durchgemacht. Nach dem, was sie durchgemacht haben, müssten sie doch dankbarer sein…oder williger, sich zu integrieren…oder wenigstens respektvoller zu den Deutschen…Richtig und falsch zugleich. Zunächst schulden wir ihnen Respekt, dass sie nicht ertrunken sind, dass sie die Grenzen überwunden haben, dass sie endlich im Schutz des Art. 16 GG angekommen sind. Respekt, dass sie überlebt haben. Wer kennt die Opfer, die sie dafür gebracht haben, nicht nur das aufgewendete Geld. Familien, die sich nie wieder sehen werden; im Stich gelassene soziale und kulturelle Umgebungen; und was wissen wir, welche Traumata zu Neurosen und Psychosen geführt haben, alle der Flucht geschuldet, oder der Entscheidung zu ihr, oder dem Leiden am Überleben. Nicht nur Deutsche werden irrsinnig, um strafmindernd bewertet zu werden.

Aber niemand, auch nicht die grassesten Asyl- und Ausländerfreunde, hat je gefordert, diese Asylanten und Ausländer sollen als Straftäter nicht zur Verantwortung gezogen werden, und da kommt es wieder zu auf Seehofer, wie auf seinen Vorgänger, wie auf die Vorfeldorganisationen der Rechtsradikalen im Polizei- und Justizapparat…Ich sage immer, sperrt die deutschen und nichtdeutschen Straftäter nach den selben Kriterien ein und analysiert die Umgebung der Taten bei allen Menschen gleichmäßig.  

Abschiebungsverschärfung ist der infantile Sadismus eines überflüssigen Politikers. Nur ihn selber können wir nicht abschieben, ein anderes Land nimmt ihn nicht auf, in eine Diktatur dürfen wir ihn nicht schicken (obwohl er in Ungarn oder Brasilien gut aufgehoben wäre), und nach Bayern? Jetzt, wo die Bayern gerade vom Fluch des Horst befreit werden, sie wieder ins moralische Elend stoßen…Also was jetzt? Vielleicht doch Bayern, soll er doch im Kloster Seeon bleiben, und bis zu seinem seligen Ableben glauben, die ersten drei Buchstaben seien ihm gewidmet.

 

Das war 2019

Propheten sagen nicht die Zukunft voraus. Sie geben eine Gegenwartsdiagnose, der die wenigstens glauben wollen, weshalb man sich für die Zukunft wappnen will – entweder die Propheten verbrennt, oder Gegenmaßnahmen ergreift. Jede Diagnose enthält im besten Fall auch einen Ausblick auf die Folgen des Handelns in der Gegenwart – wenn das Zukunft sein soll, bitte. Bestes Beispiel im Kleinen: Feuerwerke in der Silvesternacht. 25% des Verkehrsfeinstaubs in ein paar Stunden. Beispiel im Großen: Trump und die Mauer zu Mexiko. Ein nationales Regierungssystem in die Erosion treiben für einen unrealistischen (und bezahlbaren, aber undurchführbaren) Plan.

Das Kalenderjahr hat begonnen wie das letzte geendet hat.  Mit phrasenhaften Vorsätzen (die werden übrigens merklich weniger, je weniger die Menschen ihren eigenen Fähigkeit glauben, dass sie sich ändern wollen und können), mit hohlen Ermahnungen und mit Neujahrsempfängen (die hießen im Dezember noch Rückblicke).

2019 also, 5779 im jüdischen, 1440 im islamischen und xyzxyz in vielen anderen Kalendern. Über Jahres- und Lebenszyklen schreibe ich im nächsten Blog, das ist eine Ankündigung, keine Prophezeiung. Also: wie wird 2019 gewesen sein?

(Auszüge aus einem berühmten Lied von Georg Kreisler: Dreh das Fernsehen ab…[1](1963).

Man verbot jetzt April und Musik in A-Dur
Und begoss uns’re Straßen mit Leim –
Jeder Bürger erhält eine goldene Uhr
Doch das Wetter bleibt weiter geheim
An der Staatsgrenze streicht man die Schlagbäume weiß
Und man muss jetzt die Semmeln verzoll’n –
Unser Nachbar bekam einen Förderungspreis
Damit Andere auch einen woll’n!

Dreh das Fernsehen ab, Mutter, es zieht!
Auf den Feldern reift das gestrige Gemüse
Die Antennen wachsen langsam durch die Wiese
Wer noch jung ist, wird schon jede Woche zäher
Und die Tränenlieferanten kommen näher
Irgendwer schreit, irgendwer flieht –
Dreh das Fernsehen ab, Mutter, es zieht!

So ist es, so wird es kommen?

Die Wahrnehmung der Umstände, die sich nicht nur abzeichnen, sondern schon da sind, nur noch nicht voll und gleichzeitig entfaltet,  ist die Voraussetzung von politischem Handeln, von Agieren in einer Umwelt, die einem das Handeln gerne zugunsten der Herrschaft ersparen möchte oder muss.

Das sieht Hans-Joachim Schellnhuber genauso (DLF 31.12.2018). Er ist optimistisch, nicht wegen der miserablen Klimapolitik, sondern wegen der Wahrnehmung der Klimakatastrophe durch immer mehr Bürger*innen. Zwischen den Zeilen höre ich eine Kausalkette: Realität à Angst à Handlungsdruck à Politik. Das ist eine reale Angst vor Zuständen, wie sie Robert Habeck als worst case gezeichnet hat  (siehe den letzten Blog (31.12.)). Und nicht die Angst vor der Angst (auch ein Liedzitat von Kreisler), eines der stärksten Motive der Realpolitiker gegen die Realisten. Hoffnung auf die neue Generation? In gewisser Hinsicht ja, weil sie des Geschichtsfatalismus müde ist. Der ist ein Element der Wohlstandsverwahrlosung in den reichen Ländern, also bei uns, und der Hoffnungslosigkeit in den armen Ländern (warum wählen Menschen Duterte oder Bolsonaro?).  Das Ersetzen von Realitätskonstruktionen durch die Wirklichkeit kann erst den Realismus zum Bestandteil von Politik machen. (N.B. Hier hinkt die Sprache, weil Realität eben eine Konstruktion ist, die Wirklich zwar wirklich, aber als solche nicht unmittelbar zu erkennen – weshalb nicht  nur die Lügner, sondern die Fake-Produzenten, Ideologen usw. Hochkonjunktur immer hatten, Trump ist nur das letzte, aber nicht einzige Beispiel).

Das andere Beispiel ist der Krieg, der längst im Gange ist, zugleich sich ankündigt, zugleich unendlich fern erscheint, je nachdem, wo wir gerade sind, wie wir ihn uns denken oder vorwegnehmen. Für mich ist die Variation des Vorkriegs, konkret in unserer Gegend analog zur Periode 1918-1938, die passende Schablone. Dass das alles nicht genauso abläuft, ist so klar, wie dass die Analogie besonderen wert auf die Unterschiede legen muss, geschenkt.  Wenn dann an einem bestimmten Punkt ein Krieg ausbricht, ist er längst im Gange gewesen. Das ist ein Problem des „Anderswo“. Aber territorial sollte man im Zeitalter der Globalisierung nichtdenken, das haben sich die Globalisten selbst zuzuschreiben. Denkt doch an die vielen wohlständigen Urlauber, die ungerührt in kriegführende Länder zur Erholung und zum Baden reisen oder auf ihren Kreuzfahrtschiffen munter von kriegführender Diktatur zur nächsten gondeln…nein, die sind nicht kriegsblind, die sind nur „Realisten“, weil ja überall Teile dieses Kriegs anzutreffen sind.

Das ist allerdings eine Problematik der rückwärtsgewandten Wahrnehmung von „Krieg“, die immer die Erinnerung und das kollektive wie kulturelle Gedächtnis bemühen muss, um Krieg sich vorstellen zu können – die subjektiven Narrative rennen oft gegen diese Erinnerungen erfolglos an, manchmal erfolgreich.

Auch bei der Wahrnehmung der Klimakatstrophe ist diese Wahrnehmung darauf gerichtet, die Frage zu beantworten, wie es dazu gekommen ist und warum wir/man/ich/ nichts dagegen tun. Was (wahrscheinlich) kommt, ist sozusagen konsekutiv in den Film eingespannt, der immer vor dem Heute beginnt. Vorkrieg ist in den meisten Fällen schon Krieg, nur nicht ausgebrochen.

Der Golfkrieg war ausgebrochen, als Irak Kuwait überfiel, und dann die USA den Irak angriff. Krieg. Als die Russen die Krim überfielen und dann die Ostukraine, wurde dies kein Krieg, sondern wie eine eingekapselte Sicherung von Interessenssphären aus dem Westen betrachtet. Kein Krieg? Bürgerkrieg ist nur Krieg, wenn die Fronten nicht unsere ideologischen Lager durcheinander bringen.

Was unterscheidet den „Frieden“ vom Vorkrieg?  Das ist eine Auseinandersetzung der Geschichtsbücher. Der nicht ausgebrochene Krieg wird Frieden genannt; der wirkliche Frieden ist kein stabiler Zustand, der Vorkriegsfrieden ein Aufschub.

2019 also ein Kriegsjahr im Vorkrieg. Soviel erscheint mir sicher. Der Rest: wie umgeht man die Angst vor der Angst?

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Die übrigen Prognosen sind mühselig gestückelte Allgemeinplätze (Aktienkurse),  Gewaltandrohungen (der Angstblütler Seehofer), und ein Weiter so. Das letztere verurteile ich nicht, denn „Nichtweiterso“ würde ja Selbstaufgabe, Revolution oder wenigstens Handeln verlangen.

Vorschlag: Sammelt Prognosen der mandatierten Volksvertreter und Ammtsträger und Pundits. Bei zu großen Abweichungen von den Vorhersagen zur Jahresmitte überlegt euch Variationen von naming&shaming, einschließlich Strafandrohung bei allzu blödsinnigen Vorhersagen. Das entlastet und regt die Phantasie an.

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Klima und Krieg.

Was fällt euch dazu ein?

 

[1] https://genius.com/Georg-kreisler-dreh-das-fernsehn-ab-lyrics 2.1.2018