100 na und?

Rose Albach-Retty war eine berühmte Schauspielerin, die 105 Jahre alt wurde, die in der Nazi-Zeit auch brillierte und danach weiterhin berühmt war, bis zu ihrem Ende. Angeblich hat sie mit 101 wieder zu rauchen begonnen, und mit 102 nahm sie beim Stiegensteigen im Burgtheater den Arm eines 86 Jährigen und sagte, sie sei ja nicht mehr hundert.

Es gibt viele Hundertjährige, aber nur wenige schaffen es in die Medien. Viele, die schon lange vor dem Geburtstag dement sind oder schlicht den öffentlichen Äuglein entgehen, schaffen die Hürde auch ohne Gemeindeblumen, Bürgermeister und Ständchen.

Nicht aber Prominente, in welchem Zustand Sie und ihre Afficcionados auch sein mögen. Henry Kissinger ist hundert. Na und? Mein Vater, der aus der gleichen Gegend wie er stammte, und ihn kannte, sagte, wenn man ihm weiße Socken gegeben hätte, wäre er zur HJ gegangen. Wissen wir nicht.

Er war ein wichtiger US Politiker, er gesteht – was heißt: gesteht, er sagt sie eben – seine Fehler ein, dann können Journalisten und andere Gratulanten ihn ungestört hochleben lassen. Was heißt das „Fehler“. Vietnam, Kambodscha, Chile, Argentinien. Das reicht schon, es gibt noch mehr. Demgegenüber steht kluge Geschichtsschreibung (Metternich), demgegenüber steht Nachhaltigkeit beim Wirken für die deutsche Einheit, demgegenüber steht ein globales Denken auch gegen die deutsche Zwergstaaterei im Denken…Lest bitte die Zeit (Do), den Tagesspiegel (Sa) incl. Joschka Fischer (ziemlich gut),. den Freitag (Fr).

Und? die menschlichen Opfer seiner Politik – mehr viel mehr als die anderer PolitikerInnen? Und? Die Folgen seiner Politik, z.B. in Lateinamerika und Asien? Ich hab noch 30 dreckige amerikanische Namen, 50 russische und mindestens 10 deutsche und n+1 österreichische. So dreckig? dreckiger? so ambivalent – er hat ja auch Gutes getan, nicht?

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Unabhängig vom Geburtstag wäre ein Würdigung und Kritik auf hoher Ebene gleichermaßen angemessen. Und man müsste nicht das Eine gegen das Andere ausspielen. Dass er sehr weit rechts stand, wissen wir, das tun andere auch. Dass Rechte auch klug sein können, bestreiten nur Linke in der Kaffeehausblase, dass Kissinger sogar sehr klug, sagt über seine Moral und seine Politik nicht viel aus. Aber die Rhetorik seiner KommentatorInnen zum 100er, die Unsicherheit „was denn nun?“ irritiert. Ist sein Geburtstag ein Ablass – wie nach einer Wallfahrt zu den Tempeln der Erinnerung?

Ich frage das nicht, weil er mich NOCH interessiert. Für Historiker ist er spannend, und für uns, wenn diese etwas aus seinen Handlungen rauslesen, das wir für die heutige Politik brauchen können. Aber das hätte man schon im letzten Jahr machen können und wir werden sehen, ob ers mit 101 noch ins Feuilleton schafft.

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