Das weite Land

An einem Entwicklungsprojekt beteiligt, muss ich eine ganze Reihe von festgefahrenen Vorstellungen revidieren. Was wird in dem kleinen Ort, der aus sechs kleineren Orten besteht, in den nächsten 25 Jahren geschehen, und wie werden die BürgerInnen einbezogen? Details werde ich HIER nicht bringen, die kommen später. Es geht um die Bilder und Vorstellungen, die sich mit den Jahren festgelegt hatten, sozusagen eingerostet in meinem Bewusstsein verschraubt und schwer zu bewegen, zu revidieren – aber das ist notwendig um zu verstehen, was die BewohnerInnen des Ortes verstehen sollen, damit sie und nicht wir aktiv an der Entwicklung ihres Ortes beteiligt sein werden.

Stadt-Land, ein dauerndes Diskurspotenzial, nicht nur für Demographen, Wahlinterpreten und Kulturkritiker, für Verkehrsexperten und alle diejenigen, die ihre Welt gern von oben, vom Feldherrnhügel betrachten. Stadt-Land gibt es bei uns in Europa, konkret in Österreich, so wenig wie die Dyade Zivilisation-Kultur, oder Kultur-Natur. Das ist schon ein Aspekt: die Dyade, schwarz-weiß…man fährt mit einem schnellen, aber nicht eiligen Zug aus der Hauptstadt in den Ort, alle zwei Stunden ein direkter Zug, eine Stunde Fahrzeit. Von der Stadt aufs Land? Das sagen viele. Aber was ist das Land, das schneller erreichbar ist als ein Außenbezirk zum andern in der Stadt? Ich habe den naheliegenden Begriff Dorf oder Kleinstadt oder Landgemeinde nicht verwendet, weil man sich da etwas anderes darunter vorstellen kann als wirklich ist. Ein Pol ist sicher die Landwirtschaft, ein anderer die professionelle Auspendelei, man kommt ja schnell in die Bezirksstadt, in die Hauptstadt, und dort leben viele, die schon einmal hier gelebt hatten, Verwandte der nächsten und übernächsten Generation. Warum mich das irritiert, ist nicht, weil es so ist, sondern welche Bilder es verzerrt und demontiert, die einem mit Stadt vs. Land eingepflanzt wurden. Wer weiß in dem Ort, was „ANDERS“ ist als dort, wo man „herkommt“? Die Frage ist natürlich uralt und wurde von Generation zu Generation anders aber immer beantwortet. Aber es ist kaum übersehbar, wie stark die digitalisierte Kommunikation die Antworten verändert hat (das kann ich mit meinen Generationssprüngen schon feststellen, muss mir niemand erzählen). Was aber anders ist als in dem Ort, an dem ich als Kind, Jahre vor der Großstadt, aufgewachsen bin, ist Zusammenhalt und Kommunikation – Offenlegung und Verbergen – in einem überschaubaren Bereich, in dem fast jeder fast jeden „kennt“, und doch vielfach vom andern weniger und anderes weiß. Auf den ersten Blick ein wirklicher Unterschied zur ganz andersartigen Anonymität der Großstadt, und dann doch analog. Spannend. Zu dem „Anders“ gehört die falsche Idyllisierung und die falsche Abwertung der jeweils anderen Kultur, weil die ja nur partiell so anders ist. Und doch das, was dem Ort fehlt und die Stadt (noch, noch!) hat, untersuchenswert macht: nicht immer Ausweichen, eher anders entwickelt: kein Kino, (mehr), aber Fernsehen, wenige bis keine Kneipen (mehr), aber andere Treffpunkte, große Kommunikationsagenten durch Religion und Vereinsleben (nicht durch Glauben und Identitätserzeugung im Kollektiv) erzeugen ganz andere soziale Verbindungen als wir „gewohnt“ sind. Lohnt es, darüber nachzudenken? Für mich lohnt es, meine Werkzeuge, v.a. aus der Sozialwissenschaft und Kultur, zu überprüfen und justieren, weil ich vieles „kenne“, aber nicht mehr genau „weiß“. Und um die Wohnprojekte abzusprechen, etwas über die Vorstellung der älteren Einwohner zu erfahren, verlasse ich das System wissenschaftlichen Zuordnens, lasse mich in die Vorstellungen treiben, die meine Erinnerungen mitstrukturieren: zum Beispiel die andere Perspektive des Nahblicks und vor allem der Aussicht im und über das Land. Die anderen Farben, Proportionen und Strukturen – ist das nicht, fragen manche, genau die Differenz von LAND gegenüber der Erfahrung von STADT. Und da sage ich spontan „nein“, das eine und das andere sind längst eine Mischung. Und im Projekt besteht die Chance, die Menschen, die hier wohnen, in den Diskurs zu dieser Mischung einzubeziehen, für uns ist das learning by doing. Spannend, auch so etwas wie die „Land-Schaft“ zu rekonstruieren, ohne die Romantik des Rückblicks. Was möchte man mit den hier lebenden Menschen bewahrt wissen, was kann auch verändert werden (Lampedusa: Man muss die Dinge ändern, damit sie gleichen bleiben). Das kann für alle Beteiligten befreiend wirken, und schon einige Vorläufer dieser Befreiung sind für mich durchaus auch befreiend – von meinen Vorurteilen und festgefügten Vorstellungen: also – neu.

Und dann begibt man sich wieder in das Projekt, dessen Endergebnis ich wahrscheinlich nicht mehr oder kaum erleben werde, und der dem Ort die Gewissheit geben soll, bis dahin nicht verlassen oder reduziert zu sein. So, wie manche Grundbesitzer vor 200 Jahren Bäume gepflanzt haben, die erst zu Enkelzeiten groß waren und die Perspektiven auf das Land und im Land verändert hatten.

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