Genaue Langsamkeit

Nach diesen grässlichen Tagen der Wahldebakel, des Hochredens von AfD und Wagenknecht, der Angriffe auf politische und kulturelle Resilienz eine Atempause. Wörtlich zu nehmen: eine Atempause, in der es mir nachläuft nachzudenken, was ich lese zwischen den Arbeitsaufgaben. Obwohl, das ist ja auch Arbeit, aber an einem selbst, für mich.

Marlen Haushofer, deren Wand ich immer wieder gelesen, gesehen, besprochen habe, hat mich eingeholt (Haushofer 2004). Und das ist gut so. Band 6 der Gesamtausgabe ist 2023 erschienen und die fast 800 Seiten beglücken und fordern einen, auch wenn man nicht alles zugleich und der Reihe nach lesen kann (Haushofer 2023). Für die Formalen: beginnt mit dem Vorwort von Clemens Setz, für die Einsteiger Marlen Haushofer – Wikipedia, und wer vertraut: fangt an zu lesen.

Das ist heute nicht schwierig, und man vergisst, wie lange die Haushofer nach ihrem Tod 1970 vergessen und unscheinbar war. Und ihre Wiederbegegnung mit dem kulturellen Interesse nicht nur in Österreich beginnt mit der Wahrnehmung, wie früh, wie genau, wie illusionslos die Fragen des Geschlechts, der Rolle der Frau, des sozialen Zusammenhalts, die Dialektik von Stadt und Land und die von Kunst und Wirklichkeit bei ihr in makellosem Stil und genauer Darstellung vorgelegt wurden. Da ich kein Literaturkritiker oder Rezensent bin, werde ich mich diesem Metier auch nicht laienhaft nähern. Aus Ergriffenheit und Vergleichen sage ich zunächst „wieder eine von diesen Österreicherinnen“, wie die Bachmann, geboren 1926 und damit ein wenig jünger als Haushofer (*1920), wie die jetzt schreibenden und also lebenden Streeruwitz, Menasse, Sargnagel…es gibt noch ein paar dazwischen, aber wenige, die sich durch maskuline Wände so durchkämpfen konnten und können. Aber dass das wieder eine von den Österreicherinnen ist, das ist mir wichtig, eine andere Literatur als die von deutschen Autorinnen, und in einer anderen Beziehung zu Politik und Geschlecht. Das ist mir wichtig, weil die beiden Gesellschaften unterschiedlich sind und zu oft nur durch die Verlagspolitik verschwimmen. Also zur Haushofer. Das dauert schon quantitativ, sich da durchzulesen, und ich muss mir den Sog erklären, der mich da hineinzieht. Zwei Wahrnehmungen zunächst: die „üblichen“ Metaphern sind einfach nicht da, es wird die Wirklichkeit ohne Wegweiser so beschrieben, dass sie die Leserin und den Leser „trifft“. Anders gesagt: man=ich, erkennt sich in vielen Situationen im Text, und zwar nicht aus analogen Erlebnissen, sondern strukturell: …so wie bei mir… Und: Der Blick und die Gedanken der Frau, ihr Stil und ihre Betonung, kippt nicht die Maskulinität, wie viele heute das tun, sondern zerbricht systematisch das Gefäß der ungleichen und ungerechten Geschlechterrollen. Bedenkt – vor über 70 Jahren fängt sie an. Mich fasziniert es, und ich stelle mir vor, wie es im Kreis der Wiener Intellektuellen und Autoinnen und Autoren sich entwickelt und demonstriert hatte, und das dann auf dem Land, im Wortsinn, verarbeitet hatte.

Soweit die Leseempfehlung.

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Das Unterbrechen der angeschlagenen politischen Resilienz hat den Vorteil, dass man sich „erholen“ kann, dass das Lesen und Durchdenken andere Reviere der eigenen Wahrnehmung aufweckt und stärkt (und dazu bedarf es bestimmter Qualitäten und – Zeit). Die nimmt man sich besser, bevor man – vorschnell – die jetzige Situation für sich analysiert und dann in einem immer beschränkten Rahmen mit anderen teilt, man ist ja kein Lautsprecher. Ich frage mich zum Beispiel, wie man in einer solchen Situation agieren kann, die einerseits die Formen eines Weltkriegs neuer Form schon angenommen hat (nicht einfach droht…), und andererseits lokale Umgebungsprobleme thematisch aufblasen lässt. Haushofer füllt eine Lücke in der unentwegten Wahrnehmungsrallye, die ja für Politik-Adepten die Zugehörigkeit markiert: ich bin da, ich bin hier, und nicht das ich wird wirklich betont. Dass man in der wirklichen Krise und Auseinandersetzung die Natur wahrnimmt, hat nichts mit Ganzheitlichkeit zu tun, sondern mit dem eigenen Leben inmitten einer zergliederten, nicht ganzen, sondern vielteiligen Welt, der man nur einmal – nämlich in u8nserem kurzen Leben – nicht entkommt.

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Der Tag schreitet fort, mit Besuchen, Terminen, Antworten, – und eine Wirkung des beschriebenen Lesens und Bedenkens ist, dass ich nicht umgehend – per Blog oder Meeting oder auch nur Selbstgespräch – auf die neuesten Nachrichten von der Renazifizierung des Landes in seiner Fläche reagiere. Ich sammle sozusagen Kraft für das Agieren, das Handeln, statt für die Raffinierung der Meinung.

Haushofer, M. (2004). Die Wand. Hamburg, Claassen.

Haushofer, M. (2023). Gesammelte Erzählungen. Berlin, Claassen.

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