Israel, Palästina

Israel, Palästina. Dieser Essay wird demnächst in etwas erweiterter Form veröffentlicht. Für Rückmeldungen und Kritik bin ich aufgeschlossen.

   Michael Daxner

Essay, auf Basis eines Vortrags vom 13.12.2024 an der Universität Innsbruck

                                                                                                              Für Marion Näser-Lather und

                                                                                                              Tom Koenigs

 „Inter- und Transkulturalität“ war der Vortragstitel am 13.12.2024[1] in Innsbruck, er verweist schon auf einen Hauptstrang der Argumentation in diesem Essay. Große Übereinstimmung mit Marion Näser in Wissenschaft und Kommunikation, und sehr komplizierte Umgangsprobleme mit dem Thema haben mich seit Monaten mit Blick auf diesen Essay beschäftigt. Im Sommersemester habe ich ein Seminar zur Geschichte Israels von 1895 bis zum 6. Oktober 2023 mit einer Handvoll Studierender durchgeführt, davor hatte ich im Februar einen Vortrag zum Thema in Wien gehalten[2] und mich in meinem Blog[3] mit den Problemen auseinandergesetzt, ohne mich in die dauernde Kommentierung der Kommentare einzubringen. Mit den wenigen noch lebenden Freundinnen und Freunden in Israel bin ich in ständigem Kontakt[4], und mit etlichen jüdischen Kontakten in Deutschland und Österreich bin ich ebenso zum Thema verbunden wie kontrovers im Diskurs, mit nichtjüdischen Menschen selbstverständlich auch. Diese Diskurslandschaft allein wäre schon ein wichtiger Rahmen oder aber der Inhalt für den Essay, und den zur Grundlage dienenden Vortrag. Ich könnte aber auch die Einleitung des Essays damit anlegen, die Ursachen, Anlässe und Gründe für die gegenwärtige Situation übersichtlich aufzuzählen und kurze Hinweise auf Zusammenhänge, Kontingenzen und Personalisierung geben, spannend genug. Beides für sich und gemeinsam würde aber dem Essay und dem zugrunde liegenden Vortragfür das Seminar nicht gerecht und man bräuchte ein Zeitmaß wie das von Karl Kraus, um das Thema zu bewältigen. In diesen Tagen über Israel und den Nahen Osten zu sprechen, ist ein eigenes wissenschaftliches Feld, und wollte man zu Definitionen und Ausgangspositionen kommen, die auf Verständnis und Interesse stoßen, müsste man schon deshalb weit ausholen, weil viele etwas wissen und nicht vieles wissen, und das ist eine wirkliche Hemmschwelle für den Diskurs. Obwohl es gar nicht nur um Wissen geht.

Einfache Fragen, schwierige Antworten

Können wir erklären, warum es den Schritt vom Judenstaat zum Jüdischen Staat gegeben hatte, und was das nicht nur impliziert, sondern auch bewirkt hatte?

  • Natürlich gibt es dazu eine Unmenge Literatur. Aber schon von den Begriffen können wir verstehen, dass es in einem Judenstaat nur Juden gibt, im Jüdischen Staat aber neben der jüdischen Mehrheit auch nichtjüdische Minderheiten. Zugegeben, das ist eine retrospektive Erklärung. Außerdem war der Judenstaat eine nicht verwirklichte Vision, und den Judenstaat gibt’s lange Zeit nur als Planung, verwirklicht aber erst seit 1948, und dann sollte man „Staat“ betonen, „Jüdisch“ ein auswechselbares Attribut, das aber die Rhetorik der rechtsradikalen Regierungspartner heute in Richtung auf „Juden-“Staat bestimmt. Ungefähr so, wie viele Gegner Israels die Vorstellung haben, wenn man die Israelis=Juden ins Meer treibt, wird ein arabischer/muslimischer/ palästinensischer Staat/Staatsteil entstehen. Bleiben wir bei den Juden. In meiner Auslegung, v.a. der Wissenschaft, sind Juden/Jüdinnen ein ethnologischer Begriff, und „jüdisch“ ein interpretierbares moralisches, kulturelles, letztlich auch politisches Attribut. Wenn ich die jüdische Religion meine, muss ich das dazu sagen. Es gibt hier keinen Automatismus der normalisierten[5] Religionszugehörigkeit. Hier gibt es übrigens viele Analogien zwischen religiösen Juden und Arabern.

Wer sind die Juden, um die es geht? Wer sind die Palästinenser?

  • Dass nicht alle Israelis jüdisch sind, wissen mittlerweile viele, nicht alle. Um welche geht es – um die israelischen Staatsbürger jüdischer Abstammung, jüdischer Religion, oder um zugeordnete Personengruppen? Nicht lachen bitte: Seit langer Zeit gibt es jüdische Untergruppen, die anderen die Zugehörigkeit zum Judentum absprechen[6] …aber im Alltagsdiskurs ist die Frage, wer ist Jude, noch verwirrender, also wird sie geglättet.

Welche Rolle spielen die Religionen, die Weltanschauungen, die politischen Rahmenbedingungen? Welche Rolle spielen Zionismus, Antizionismus, Revisionismus, allein fürs Judentum?[7]

  • Diese Fragen kumulieren in allen möglichen Diskussionen zum Thema und entheben die jüdischen Menschen und das Judentum der Realitätsverpflichtung solcher Diskurse. Viele Vorurteile, nicht nur im Antisemitismus, entstehen durch die Ungenauigkeit der Vermeidung von Festlegungen, wonach „man wirklich frägt“. Ich kann das an einem Beispiel zeigen: anstatt von „jüdischen Deutschen“ zu sprechen, sagen viele „deutsche Juden“. Damit wird eine Eindeutigkeit simuliert, die es (natürlich) nicht gibt. Das hat über lange Zeit Kultur, Politik, Alltagsverständnis stark beeinflusst. Es kommt auch nicht zufällig , wird aber im Alltag nicht oberflächlich, schon gar nicht analytisch erklärt. Ich gehe auf keine Fragen und Begriffe ein, die sollten zusammenhängend erklärt und verstanden werden. Ganz einfach, zu einfach: Videos von jüdische Deutsche – deutsche Juden, bing.com/videos (17.12.2024).

Ich habe diese Fragen an den Anfang gestellt, um eine Brücke zwischen Alltagsfragen und Expertenantworten zu schlagen und deutlich zu machen, dass es hier um wichtige Aspekte geht und nicht einfach um den Konflikt zwischen Laien und Experten. Aber man kann natürlich auch anders fragen, man sollte nur immer deutlich machen, was das Thema der Fragestellung ist. Antisemiten nützen jede Unschärfe dieser Fragen aus, um ihr Judentum zu erschaffen.

Autobiographischer Einstieg

Es gibt vielfältige Zusammenhänge zwischen intellektueller und emotionaler Konstruktion der eigenen Identität. Ich komme später noch ausführlicher auf Eva Illouz zu sprechen, die das gut erklärt. Zunächst geht es mir aber darum deutlich zu machen, warum ich so und nicht anders das Thema behandle, nicht zuletzt, weil sich mein Judentum nicht als Selbstverständlichkeit in und aus einer unhinterfragten sozialen Struktur entwickelt. Dass ich als Jude zum Judentum übertreten musste, um jüdisch zu werden und so zu erscheinen, ist paradox. Gerade diese Paradoxie aber hat viele Jahrzehnte meines Lebens geformt. Darum möchte ich auch nicht in die thematisch variationenreiche jüdische Biographik einsteigen, die sich immer analog, manchmal sogar spannend, liest. Vielleicht sehen andere dies auch nur als Variation. Aber mir geht es um etwas anderes: was ich wurde und was mich heute kennzeichnet, ist nicht unwesentlich über die späte Akquisition meines Judentums entstanden, und ohne die nachaltige Bearbeitung der jüdischen Identität hätten andere Identitäten mehr Macht über mich bekommen. Ich beschreibe zunächst einige Aspekte aus meiner Biographie: Mein Großvater[8] Sigmund Berger (1885-1943) mütterlicherseits um die Jahrhundertwende jüdisch, er heißt ja auch Sigmund, studiert Pharmazie, konvertiert katholisch, um in Apotheken-Lizenz und Ehe mit einer christlichen Wienerin einzusteigen (1908), keine auffällige Religionsumwertung bei ihm. Konversion nützt ihm 1938 nichts, seine Geschichte ist einen Roman wert. Aber nach seiner Migration und seiner Misshandlung durch die Briten stand weniger das Judentum als seine Sicht familiärer Probleme im Vordergrund. Meine Mutter (1927-2022) hatte, ohne selbst aktiv katholisch zu sein, die Religiosität des Großvaters ebenso hervorgehoben wie der Familienhistoriker, mein Halbbruder Martin. Fragen: was ist ein Jude, war der Großvater jüdisch?

Die gleiche Frage an meinen leiblichen Vater: Itzhak, später Fritz Weimersheimer (1922-2011), ich frage auch nach seiner jüdischen Lebensqualität. Manche Biographien blenden sein Leben in Palästina und Österreich 1940-1948 aus[9], gerade diese Zeit aber ist entscheidend nicht nur für meine Existenz, sondern vorher für sein Überleben und die Geschichte meiner Nachkriegsfamilie[10]. Darüber schreibe ich jetzt nicht, aber die amerikanische Geschichte meines Vaters kenne ich sehr gut, war viel mit ihm und seiner dortigen Familie zugange, und das war so ein anderes „Jüdisch“ als in Europa in vielen Schichten gewesen, dass die Frage hier schon gesagt werden muss: was ist jüdisch?

Ich kann die Frage auch mit Namen beantworten, die mich über lange Zeiträume immer wieder begleiten: Hannah Arendt, Primo Levi, und mit ganz anderen Einsichten Jean Améry[11].

Aber bleiben wir bei einigen einfachen persönlichen Prämissen. Niemand hat nur eine Identität, und ob die jüdische wichtiger oder weniger wichtig gereiht wird, hat mit dem Lebenslauf der Person, ihren Aktivitäten und mit dem Druck, der auf sie ausgeübt wurde, zu tun. Unsinn, was Religion oder auch Rassismus verlangen, dass aus dem Judentum (oder einer anderen Ethnie) alle anderen Identitäten abgeleitet werden können und sollen. Das aber ist eine harte Barriere gegen die Freiheit – und ein Freibrief für eine Spielart des Antisemitismus, der sich zu entziehen für Betroffene schwierig ist.

*

Wenn Sie fragen, was das mit der Geschichte Israels zu tun hätte, haben Sie mit der Frage Recht. Mein Großvater ist paradigmatisch einer jener jüdischen Österreicher, die an Emigration oder Flucht vor 1938 gar nicht dachten – andere schon, da kann man historisch differenzieren. Und mein Vater durchlebte Palästina und das britische Mandat und die Realität vor der Staatsgründung und den Krieg gegen die Deutschen, bis er im wieder selbstständigen Österreich ankam: und da ist Geschichte drin, die heute kaum und schon gar nicht im Detail für Schulen, Gebildete, Zeitungsleser etc. zugänglich ist. Und dann will man den 7. Oktober 2023 verstehen.

Bevor man sich zur Geschichte Israels wendet

Aus vielen Gründen habe ich schon seit langem die Bücher der israelisch-französischen Wissenschaftlerin Eva Illouz gelesen und geschätzt. Sie ist jetzt aktuell mehrfach und bedenkenswert aufgetreten, aber mir geht es um besonderes Buch.[12] 2022 – also ein Jahr vor dem 7. Oktober 2023, erscheint ihr Buch „Undemokratische Emotionen“, und auch es wurde übersetzt vor diesem Datum. Mit einer im politischen Diskurs wie in der Wissenschaft seltenen Klarheit handelt sie die schrecklichen Bedingungen für die ebensolche Entwicklung von Netanjahu und seinen Faschisten ab, aber ohne übersteigerte subjektive Gefühlsausbrüche: das ist Wissenschaft, nicht politische Parteinahme. Sie handelt den Populismus Israels anhand von vier bestimmten Emotionen ab: „Angst, Abscheu, Ressentiment und Liebe“ (S.22). Sie handelt diese vier Phänomene wissenschaftlich ab, und die Einleitung davor ist die Lektion für alle, die sich ihrer Beurteilung der Situation zu sicher sind. „Wissenschaftlich“ heißt in diesem Fall auch eine nachvollziehbare Angabe von Quellen und Vorgaben. Ich habe das Buch in Ergänzung zu Delphine Horvilleur gelesen, die ihre persönliche Wandlung und Entwicklung seit dem 7. Oktober gut beschreibt: (Horvilleur 2024). Aus ihrer Praxis der rabbinischen Kommunikation kommt nach dem Ereignis ein Satz, den ich mir selbst überziehen kann: „Ich sage ihnen (Gesprächspartnern, MD) nicht, wie stark meine Paranoia geworden ist oder weshalb ich überall nur noch „Juden“ sehe. Keine jüdischen Menschen, sondern das Wort „Juden““(S.29). Wenn viele Intellektuelle und Politiker den 7. Oktober „für sich“ als Basis ihrer Kommentare nutzen, verstehen sie so gut wie nichts von der Geschichte, die zu diesem Moment der Weltgeschichte geführt. Aber lassen wir das einen Nebenschauplatz sein. Die vier Kategorien von Eva Illouz sind auf den ersten Blick verständlich, oder? Angst, Abscheu, Ressentiment…damit können wir unmittelbar etwas anfangen. Aber Liebe? Sie meint Liebe zu Israel, aber das ist nur ein Fragment. Der Topos geht auf das lateinische Amor patriae zurück, die Liebe zum Vaterland und die Liebe des Vaterlands zum Subjekt, zum „Staats-“Bürger. Israel musste erst ein Heimat/Vater/Mutter-Land werden, das diese Zuneigungsdialektik produzieren kann – andere waren da schon früher dran. Diese Amor patriae überbrückt tiefgreifende Differenzen, zwischen säkularen und religiösen, aschkenasischen und sephardischen, weltbürgerlichen und lokalwurzelnden „Juden“, die nicht durch eine bestimmte Definition von „jüdisch“ verbunden sind, sondern durch die Liebe zu Israel. Diese Liebe kann die Beziehung zwischen Menschen stören und zerstören. Und wenn jemand die vier Kategorien ausnützt, dann Netanjahu und seine Truppe.

Diese Argumentation ist übrigens nicht unmittelbar auf die arabischen oder palästinensischen Israelis und die nichtjüdischen Bewohner der Region zu übertragen, deren einigendes Band ist anders gestrickt, zum einen in der essentiellen Abneigung zu Israel (den Juden) nach der Nakba und den Kriegen, zum anderen nach den unscharfen religiösen und herkunftsbezogenen Abgrenzungen. Aber Amor patriae gilt auch dort.

Vor dem 7. Oktober

Nun ist es schon ein Jahr her, dass die Hamas Israel überfallen hat, dass Israel darauf geantwortet hat, und die Eskalation seither kennen Sie ja alle. Auch wissen Sie, dass in den meisten Ländern der Antisemitismus zugenommen hat und dass die Ursachenforschung bzw. ihr journalistisches Äquivalent für die gesamteuropäische Entwicklung von Faschismen ihre ersten Produkte auf den Markt bringt, wieder ein Berg an Literatur und Gedanken.

Mir ist die Vorgeschichte des 7.10.2023 wichtig, je nach Blickwinkel und Vorurteilen beginnt sie vor 4000 Jahren oder 1896 oder 1948 oder mit dem Aufstieg von Likud und Netanjahu … Man könnte auch verschiedene Ausgangspunkte für wahr nehmen und ihre Verknüpfungen beschreiben, und diese Wahrheiten – im Plural – sind dann nicht der höchste Maßstab unserer Bewertung. Beim Philosophen Omri Boehm ist es die Gerechtigkeit[13], aber insgesamt wird die Staatsgründung Israels auffällig anders gesehen als die meisten Staatsgründungen, v.a. die nach dem Zweiten Weltkrieg. Hat das etwas mit „den Juden“ zu tun? Jedenfalls waren die Vision und Initiative zur Staatsgründung des Judenstaates/jüdischen Staates erheblich älter die Shoah, obwohl diese seit den 50er Jahren als wichtig(st)es Element der Staatsgründung weit verbreitet ist. Andererseits ist die dauernde Umdeutung der Gründungsgeschichte nichts außergewöhnliches, denkt nur an Deutschland seit 1871 oder an Österreich nach 1918 bis zur Besetzung durch die Nazis und dann wieder nach 1945.

Was seit den ersten zionistischen Akten deutlich wird, sind drei Fakten:

  • Der zunehmende Konflikt zwischen jüdischer Einwanderung und Festsetzung vor allem mit den palästinensischen Bewohnern;
  • Die permanenten Interventionen kolonialer und postkolonialer (Welt)mächte in die vorstaatliche und staatliche Realität Israels;
  • Die nichthomogene Struktur sowohl des Judentums als auch der anderen Ethnien auf dem Gebiet von Palästina und Israel.

Alle drei Aspekte sind empirisch gut erforscht, reich an internen Widersprüchen und so differenziert, dass die jetzigen aktuellen Israel/Nahostdiskurse geradezu platt erscheinen, was taktisch schon wieder von vielen Akteursgruppen ausgenutzt wird.

Interne Widersprüche aller Gruppen müssen wenigstens in einigen Aspekten präsent sein, damit wir verstehen können, welche Kräfte sich wie durchsetzen: ich bleibe zunächst im Land und in der Region.

Die Jüdische Dimension:

  • Der staatszentrierte, überwiegend zionistische Grundansatz setzt sich, vor allem seit 1917, gegenüber dem soziokulturellen Ansatz der Revisionisten vor und nach der Staatsgründung durch und wird erst im Zuge der Auseinandersetzungen in den Kriegen und der Änderung der jüdischen Ethnizität schwächer, bis er sich auflöst;
  • Die überwiegende aschkenasische Dominanz in Politik, Ökonomie und Kultur wird erst spät durch die sephardischen Mehrheiten abgelöst, was wiederum mit dem Abbau des Zionismus korreliert; auch die Folgen weiterer Einwanderungen sind hier zu wenig konnotiert;[14]
  • Damit einher geht eine religiöse Radikalisierung, die mit der Umschichtung der Bevölkerung einhergeht. Das hat gegenwärtig starke Folgen für Politik, Kriegsgeschehen und interne Diskurse von Siedlern und Religiösen.

Die Palästinensische Dimension:

  • Andauernde Selbstdefinition in der Krise, v.a. ob der souveräne Staat Israel überhaupt als solcher anerkannt wird;
  • Analog zum jüdischen Israel wachsende Konflikte zwischen säkularer politischer Identität und wachsendem religiösen Einfluss, der Israel nicht anerkennt und sich auf die Folgen des Kriegs von 1948 und späterer Kriege beruft; Konflikt zwischen PLO und Hamas[15], Retrospektion der beiden palästinensischen Gebiete;
  • Zunehmende geschlossene Frontstellung gegen Israel, ob als Antwort oder genuin oder beides.

Übergreifende Akteure und Schauplätze:

  • Ohne die Kolonialgeschichte seit der türkischen Herrschaft, dann britischen Kolonialzeit und der jeweiligen externen Unterstützungen bzw. sekundären Feindschaften mit jüdischen Israelis und dem Staat Israel bzw. Muslimen, Palästinensern u.a. kann man den jetzigen Zustand nicht erklären, wobei die Abhängigkeit von Israel und den USA wechselseitig ist.
  • Die Achse Iran, Hizbollah, Huthi und der Schauplatz Libanon müssen sowohl zusammenhängend als auch kontingent analysiert werden;
  • Die internationalen Verbindungen sowohl pro- als auch anti- israelischen/palästinensischen/jüdischen/muslimischen/christlichen Akteursgruppen und ihrer Aktionsgebiete müssen genau differenziert werden. Viel Anti-Israelisches ist antisemitisch, aber nicht alles, und viel Arabisches ist auch antisemitisch, aber nicht alles, und hier findet ein internationaler Konflikt auf einer Metadiskursebene statt, besonders in Deutschland und Österreich, aber auch in den USA.

Es gibt zahlreiche zusätzliche Variablen, lassen wir sie jetzt einmal vor. Die Wirkung des 7. Oktober hat in diesem Jahr 2024 ein Aufbrechen der Diskurse erzeugt, die teilweise erschreckende, aber viel realistische Kritik an den wirklichen Ereignissen öffentlich gemacht hat.[16] Lange war die Vorgeschichte des 7.10. in Deutschland tabuisiert bzw. der Parteinahme untergeordnet. Deshalb ist es unerwartet wirkungsvoll, wenn im SPIEGEL vom 5.10. Thore Schröder die israelische Meinungsforscherin Scheindlin zitiert und anmerkt:

„…Scheindlin sagt, nach dem 7. Oktober habe Netanjahu zunächst geschockt gewirkt. Das Massaker nicht verhindert zu haben, war auch sein Versagen. Er hatte jahrelang Gelder aus Katar an die Hamas passieren lassen. Die stabile Herrschaft der Terrororganisation in Gaza war für ihn und seine rechtsextremen Partner eine Möglichkeit, die gemäßigtere Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen. Im März 2019, bei einem Treffen seiner Likud-Fraktion, soll er sinngemäß gesagt haben: „Wer die Gründung eines palästinensischen Staats verhindern will, muss die Unterstützung der Hamas und den Geldtransfer an die Hamas unterstützen.“ (Schröder 2024)[17]

Das ist ein Grund, warum Netanjahu bislang eine Untersuchung des Sachverhalts verhindert hat. Aber es ist auch ein Grund, warum die deutsche Quellenzurückhaltung und besondere Lagerbildung stattfinden: weil man als „Deutsche“ die Differenzierung zwischen der schutz- und anerkennungswürdigen Nation Israel und einer durchaus kritikwürdigen Regierung verweigert, was gerade an diesem Tag aufgebrochen wird. Die besondere Position Deutschlands und Österreichs mit Blick auf die NS-Vergangenheit und damit eine Begründung der Staatsgründung ist hochkontrovers, weil die Shoah zu Beginn des Staates Israel gerade nicht diese kausal abgeleitete Rolle gespielt hatte.[18] Und gerade, weil und wenn man, wie ich, die Existenz Israels als notwendig, vielleicht lebensnotwendig? erachtet, kann man sich nicht von den Schrecken abwenden, die im demokratischen Staat viel weniger ihren Platz haben als bei den Terroristen, z.B. beim grausamen Umgang der Israelis mit palästinensischen Gefangenen. Das ist schwer zu ertragen (Neier 2024),[19] aber man kann es nicht umgehen. Was die Hamas am 7. Oktober angerichtet hat, wird nicht verkleinert oder gegengerechnet. Das muss man nicht wie eine Gebetsformel dauernd vor sich hertragen und -sagen.

*

Ich hatte ja deutlich angekündigt, die Herkunft der jetzigen Situation zu thematisieren, das bedeutet mehr als nur das Geschehen auf der Zeitlinie darzustellen. Heute fällt es vielen oberflächlichen Beobachtern nicht schwer, die Bruchstellen der Entwicklung schon im Programm der frühen Zionisten und schon vor Balfour 1917 aufzuzeigen. Aber was es bedeutet, wenn sich die eine, erstmals stärkere westliche Gruppe aus der nicht erfüllten Emanzipation und Integration in einer Nation befreien wollte, und wenn sich die andere vor allem aus dem Osten kommende Gruppe der Identitätsbildung ohne Unterdrückung widmen wollte, das sollten wir schon rekonstruieren, nicht als Ausgangspunkte, sondern als Etappen einer Entwicklung, die zu keinem Zeitpunkt bruchlos und ohne Widerspruch sein konnte – wenn bedenkt, dass hier Weltkriege, Kolonialismus, Kulturkämpfe, ethnische, religiöse, kulturelle, ökonomische Konflikte stattfanden, die ja mit der Staatsgründung nicht in den Geschichtsbüchern kodifiziert wurden. Diese, teilweise weit zurückgehenden Überlegungen münden in die vier Qualitäten des Populismus, die ich bei Eva Illouz oben beschrieben habe. Nun bleibt Netanjahu nicht beim Populismus stehen. 

In vieler Hinsicht unterscheiden sich die Staatsgründungen der Neuzeit in wesentlichen Aspekten weniger als die nationalen Geschichtspolitiken behaupten. Denken wir doch daran, wie sich das Deutsche Reich nach 1871 entwickelte, festigte und selbst nach 1989 noch nicht als wiedervereinigtes Deutschland gänzlich zur Ruhe gekommen ist. Dagegen ist Israel eine junge Staatsnation, mit der Besonderheit, die einzige nationale Heimstatt für jüdische Menschen zu sein anzustreben. Die dahinter stehenden Vorstellungen sind idealistisch und politisch (vgl. Jukic 2024)[20]. Meine Zusammenfassung dazu ist, dass damit „civic“ (i.S. von bürgerlich-republikanisch) und „ethnic“ Qualitäten über das Judentum verbunden würden.

Diese Besonderheit hatte lange Zeit eine Mehrheit in der zionistischen Staatsideologie gefunden, die seit Anbeginn Nebenwidersprüche bekämpfen oder marginalisieren musste. Nach der Staatsgründung allerdings zählten die globalen Bedingungen demokratischer Staatlichkeit mehr denn je.

Gerade seit dem 7. Oktober 2023 bringt diese Geschichte alle Facetten wieder zum Vorschein, und es kommen damit die Widersprüche vor und nach der Staatsgründung wieder zu Wort. Damit auch die in verschiedenen Gesellschaften und Staaten unterschiedlichen anti-israelischen, antisemitischen, anti-arabischen etc. Vorurteile, die übergeordneten politischen Interessen eingeschrieben werden.

*

An dieser Stelle hätte ich eine Schlussformel zum Ende des Essays eingefügt.  vorgetragen. Nun wurde die Vorlesung aber von Anfang Oktober auf Mitte Dezember verschoben, und es ist die Gegenwart der Konfrontationen nicht beendet. Und seit einigen Tagen hat sich die Situation im Nahen Osten massiv verändert, Syrien ist nur das Zentrum einer weiter ausgreifenden Entwicklung. Ich enthalte mich in diesem Essay, wie auch im Vortrag, der Kommentierung von allzu gegenwärtigen Ereignissen und Handlungen. Das ist kein Zurückweichen vor Einsichten, Interpretationen und Vermutungen. Ich behaupte, dass man politisch nicht wirklich absehen kann, was jetzt wie sich entwickelt. Dass die Türkei an Gewicht und Macht gewonnen hat, Russland und der Iran diese verloren haben, Israel sich den Golan weiter aneignet, die Kurden unter Druck stehen, sind Splitter einer Installation, die noch in ihren Einzelteilen auf Eingriffe, Zugriffe, Aktion und Reaktion von sozialen und kulturellen Gruppen usw. warten bzw. diese selbst vorbereiten oder bremsen. Die demokratische Zuversicht mag größer sein als bei gescheiterten Demokratisierungen im Nahen Osten, aber wie gesagt, man sollte nicht spekulieren, wo das Bewusstsein und die Fakten schwanken. Dies ist ein Angriff der Wissenschaft auf die mediale Meinungsmache. Und deshalb an dieser Stelle angebracht, weil es zum Beispiel unsinnig und bösartig war, vor wenigen Wochen in Deutschland (CDU) die „Rückführung“ von Syrern zu fordern…Zurück zum Thema. Die Rolle von Israel, innen- wie außenpolitisch, wird sich verändern (müssen), aber wir wissen noch nicht wie.

Ich will als Überleitung eine mögliche Abschiedscoda einbauen. Viele Bekannte, Profikolleginnen und -kollegen, Freundinnen und Freunde kritisieren die Kritik an Netanjahu als unpassend oder unverhältnismäßig. Ich habe diese Kritik so zurückgewiesen, wie ich auch die Gleichsetzungen von Hamas, Islam, Palästinensern für unzutreffend halte. Aber ich will einer Kritik eine konfrontative Frage stellen: nehmen wir an, es hätte seit Jahren, jedenfalls seit länger als 2023, in Israel eine durchweg demokratische Regierung gegeben, mit der Avoda als stärkster Partei, mit Ha‘aretz als Leitmedium, mit engen Beziehungen zum demokratischen Westen und mit der historisch begründeten Abneigung gegen alle Staaten, die Israel als Staat nicht anerkennen und gar zerstören wollen. Wenn wir das annehmen und alle Vorgeschichte ausblenden: wie hätte eine demokratische Regierung nach dem 7. Oktober 2023 reagiert und wie wäre die Geschichte bis heute weitergegangen? Ich stelle diese Frage, ohne sie im Detail selbst zu beantworten. Ich will in die Blase der unscharfen, vorurteilsbehafteten Israelansichten hineinstechen, um zu zeigen, wieviel Vorurteil, Antisemitismus, Israelkritik und Palästinenserabwehr, aber vor allem wieviel Halbwissen die Diskurse gerade zu Israel bestimmen. Wissen ist auch Politik. Die Differenz der Antworten zu den Geschehnissen seit dem 7. Oktober macht unsere moralische und politische Verpflichtung gegenüber Israel aus, und sie geht über Meinungsvielfalt hinaus.

Die Ereignisse Oktober-November bis 13. Dezember 2024 kommentiere ich jetzt und in absehbarer Zukunft nicht, angesichts der syrischen Dynamik und der Neuaufstellung der teilhabenden Super- und Minimalmächte schon gar nicht. Natürlich sind weder Netanjahu noch Hamas „besser“ geworden, aber die Umgruppierungen von Macht geben andere ausnutzbare moralische und politische Perspektiven – vor denen ich kurzfristig absehe.

Studentische Fragen von Bedeutung

Im Vorfeld meines Vortrags in Innsbruck haben Studierende Fragen bei Marion Näser eingereicht, die ich vorab teilweise beantwortet habe. Sie waren alle sinnvoll, hier gebe ich nur drei vollständig wieder, weil sie die diskussionsfähige Version des Essays stützen. Auch die restlichen Fragen sind und waren sinnvoll.

  • Inwieweit beeinflussen die innenpolitischen Entwicklungen in Israel und

Palästina den Verlauf des Konflikts und die Friedensverhandlungen?

Grundsätzlich ist hier eine Trennung von Innen- und Außenpolitik nicht sinnvoll. Nachdem Israel unter Netanjahu die Zweistaatenlösung ebenso ablehnt wie die Hamas, handelt es im Kern um eine grundsätzliche regionale Konfrontation mit vielen innenpolitischen Aspekten und einigen außenpolitischen Interventionen für beide Seiten. In Israel gibt es zudem den innenpolitischen Kernkonflikt zwischen dem Regime von Netanjahu und seiner teilweise faschistischen Koalition, in Palästina ist ein analoger Konflikt schwieriger zu orten, weil das Verhältnis der nicht Hamas-nahen Bevölkerung zur Kriegsführung weniger offen liegt. Dazu kommen auf beiden Seiten die sekundären, teilweise heftigen innenpolitischen Konflikte, in Israel zB. um die Störung von Justiz und Presse und die Geiselproblematik, in Palästina und der Westbank der Kampf um die politische Deutungshoheit.

  • Wie können zivilgesellschaftliche Initiativen und der Dialog zwischen

den Bevölkerungen des Israel-Palästina-Konflikts unter Berücksichtigung

der objektiven politischen und geostrategischen Realitäten des Konflikts

zur Deeskalation beitragen, ohne die grundlegenden Machtstrukturen und

Interessenskonflikte zu ignorieren?

Die Antwort liegt in dem letzten Satzteil. Die Machtstrukturen in Israel und Palästina kann nur ignorieren, wer von außen ein- und angreift, und zu den Interessenkonflikten gehört auch, dass sie Israel innerhalb eines verfassungsmäßigen, bedrohten Staates stattfinden – prekär und gefährdet – , während Hamas nicht mit dem palästinensischen Staat (proto-Staat PLO) oder einem vergleichsweisen politischen Gebilde gleichzusetzen ist.

  • Welche Rolle spielen internationale Akteur: innen und deren

Einflussnahme in der Region?

Eine vielfältige und in sich kontroverse Rolle. Israel kann und muss sich auf die USA verlassen (können), aber natürlich auch politisch sich teilweise deren Diktat beugen (da spielen die Kontroversen in den USA eine Rolle). Die EU hätte hier eine möglicherweise noch zu verstärkende friedensstiftende Rolle, Deutschland ist in einer zwiespältigen Rolle (das muss man diskutieren). Die Rolle des Internationalen Straf-Gerichtshofes ist ambivalent.

Regional sind die Einflussnahmen entlang der Linien Hamas-Hizbollah-Iran, Hizbollah – Syrien, Iran-Saudi.Arabien, Russland, Türkei, Kurden, auch in Bezug auf das Kriegsdreieck Libanon-Huthi-Israel und die Ausweitung in Syrien kompliziert und teils widersprüchlich. Alle internationale Nahostpolitik steht unter dem ungeklärten und zweifelnden Einfluß der künftigen US Politik unter Trump und der Bindung wirkungsvolle russischer Unterstützung von Syrien durch den Ukrainekrieg.

Ich hätte die Diskussion gerne weitergeführt. Nicht nur aus didaktischen Gründen. Viele Studierende sind nicht infiziert von der geschichtsverdrehten Vorsicht und vorurteilsbehafteten Urteilsbereitschaft meiner Generation, in allen Schattierungen – Sie seien an die vielen „Pro-„ und „Anti-„ Stellungnahmen erinnert. Aber es war ein guter Nachmittag an der Universität Innsbruck, und nicht von sinnlosen Kontroversen überschattet.

Coda

Zum Abschluss möchte ich keine umfassende Stellungnahme abgeben, die alle Zuhörenden gleichermaßen beruhigt; das ist weder möglich, noch halte ich es für sinnvoll. Ich denke daran, welche Vorbilder der intellektuellen und zeitgeschichtlichen Bewertung ich mir aussuche, um die vielen angegebenen israelischen und anderen zu ergänzen: das ist ja nicht nur intellektuell, auch emotional, denn Vorbild ist etwas anderes als Referenz. Sie haben schon bemerkt, wie sehr ich mich auf Hannah Arendt beziehe, und da war vor kurzem eine recht gute ergänzende Sendung: „Was würde Hannah Arendt heute dazu sagen? | Gert Scobel – YouTube (aufgerufen am 21.10.2024). Es waren Hinweise auf Arendts direkte Beziehung zur innerisraelischen und palästinensischen Konfliktsituation, die sie 1958 gegeben hatte. Sie hatte sich frühzeitig auf die Schlüsselfunktion der 1948 geflüchteten Palästinenser bezogen. Es hätte auch eine Vorschau auf die Gegenwart sein können. Vgl. auch die späten Nachdenklichkeiten von Hannah Arendt.  (Arendt 1970, Arendt 1991). Andere Bezüge werfen meine Gedanken immer in historische Ringe, die weit vor der Gegenwart liegen, nicht nur bei den wichtigen israelischen Quellen – wir haben ja hier in Europa auch Primo Levi und viele andere – sondern für die eigene Entwicklung bedeutsam. Da kommt bei mir Jean Améry sehr früh und wirksam vor: Die politischen Aufsätze (Améry 2005) und der „Terror der Aktualität“ (Améry 1971). Ich habe es versäumt, ihn vor seinem Freitod 1978 kennenzulernen, das bedaure ich bis heute. Aber es geht nicht primär um die Rahmung meiner Gedanken für die heutige Vorlesung. Im Grunde ist es für alle, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht, eine Herausforderung, sich aus dem binären politischen Denken zu befreien und für die eigene Gesellschaft und für die Menschen in anderen Gesellschaften vergleichbare und wirksame Einstellungen, Empathie und Rationalität zu entwickeln. In diesen Zeiten besonders.

22.10.2024/26.12.2024

Literatur

Soweit unmittelbar zitiert.

Améry, J. (1971). Terror der Aktualität. Widersprüche. J. Améry. Stuttgart, Klett: 7-20.

Améry, J. (2005). Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte Stuttgart, Klett-Cotta.

Arendt, H. (1970). On Violence, Harcourt, Brace & World, Inc.

Arendt, H. (1991). Israel, Palästina und der Antisemitismus. Berlin, Wagenbach.

Avineri, S. (1998). Zionism and the Jewish Religious Tradition: The Dialectics of Redemption and Secularization. Zionism and Religion. S. Almog, J. Reinharz and A. Shapira. Hanover, NH, Brandeis UP: 1-9.

Boehm, O. (2023). Radikaler Universalismus. Berlin, Ullstein.

Brenner, M. (2002). Geschichte des Zionismus. München, Beck.

Croitoru, J. (2024). Die Hamas – Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel. München, C.H.Beck.

Deutscher, I. (2023). Der nichtjüdische Jude. Berlin, Wagenbach.

Harkabi, Y. (1979). Das palästinensische Manifest und seine Bedeutung. Stuttgart, Seewald.

Hertzberg, A. and A. Hirt-Manheimer (2000). Wer ist Jude? München, Hanser.

Herzl, T. (1985). Der Judenstaat. Königstein, Athenäum.

Horvilleur, D. (2024). Wie geht’s? Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober. München, Hanser.

Illouz, E. (2023). Undemokratische Emotionen. Berlin, Suhrkamp.

Jukic, L. I. (2024). „The Forging of Countries.“ aeon.

Link, J. (2009). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität erzeugt wird. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht.

Neier, A. (2024). „Torture in Israel’s Prisons.“ NYRB LXXI(16): 26-29.

Schröder, T. (2024). „Das Prinzip der Gewalt.“ SPIEGEL(41): 8-12.

Segev, T. (2001). One Palestine, complete. Jews and Arabs under the British Mandate. London, Abacus.

Trepp, G. (2024). Wer ist Jude? Berlin, Hentrich & Hentrich.

Prof. Dr. Michael Daxner

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[1] Eingeladen von Prof. Marion Näser, mit der ich seit Jahren zusammenarbeite, und ursprünglich für Oktober 2024 ausgearbeitet, sollte der Vortrag in eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen um die Situation im Nahen Osten fallen. Er war in jeder Hinsicht friedlich und konstruktiv, und vor mir lag auch noch eine Frageliste von Studierenden der Ethnologie bei der Kollegin Näser, die ich in den vorliegenden Essay teilweise einarbeite. Die Kooperation mit Marion Näser-Lather und Dietger Lather, Oberst a.D., hat sich als sehr transdisziplinär und produktiv erwiesen.

[2] Vortrag Wien: Israel. 17.1.2024

[3] Blogs michaeldaxner.com 2.1., 20.1., 26.8.,8.10., 12.10. 2024

[4] U.a. in Israel Familie des 2011 verstorbenen Aron Ronald Bodenheimer, Psychiater und Autor, und Irit Salmon, über viele Jahre führende Kuratorin des Israel Museums.

[5] Mit diesem Begriff verweise ich auf den Normalismus, dass viele, auch nichtjüdische Menschen, die Zuschreibung des Jüdischseins automatisch mit der Religionszugehörigkeit verbinden. Einige Aspekte habe vom Normalismus aus der Theorie von Jürgen Link entnommen: Link, J. (2009). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität erzeugt wird. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht.

[6] Abgesehen von Israel-bezogenen Ablehnungen des Judentums z.B. in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen, gibt es gewichtige Konflikte, die sich auch stark gegen unzutreffende „linke“ Verengungen richten: z.B. Deutscher, I. (2023). Der nichtjüdische Jude. Berlin, Wagenbach.

                Vgl. dazu Isaac Deutscher – Wikipedia . Dazu Oliver Tolmein: Der nichtjüdische Jude | taz.de 2.7.1988. Ich umschreibe das so genau, weil hier viele gegenwärtige Probleme gut angesprochen werden.

[7] Herzl, T. (1985). Der Judenstaat. Königstein, Athenäum.

                , Avineri, S. (1998). Zionism and the Jewish Religious Tradition: The Dialectics of Redemption and Secularization. Zionism and Religion. S. Almog, J. Reinharz and A. Shapira. Hanover, NH, Brandeis UP: 1-9.

                , Segev, T. (2001). One Palestine, complete. Jews and Arabs under the British Mandate. London, Abacus.

                , Brenner, M. (2002). Geschichte des Zionismus. München, Beck.

                , Die umfangreichen Aufarbeitungen der Schriften Herzls mit widersprüchlichen Kommentaren sind ein eigenes, kompliziertes Kapitel der Aufarbeitung: Herzl, T. (1985). Der Judenstaat. Königstein, Athenäum.

[8] Arisierung der Schutzengelapotheke und Curriculum des davon betroffenen Apothekers Mag.pharm Sigmund Berger (memorial-ebensee.at), teilweise problematisch: „strenggläubiger Katholik“? Diernesberger Eleonore – biografiA (sabiado.at), Berger_Sigmund.pdf (ku-linz.at),

[9] So z.B. Franz-Josef Wittstamm (April 2024): Weimersheimer Fritz – Spuren im Vest; mein Vater Hertzberg, A. and A. Hirt-Manheimer (2000). Wer ist Jude? München, Hanser.

                 selbst hat mir zu Lebzeiten eine umfangreiche Autobiographie in vielen Variationen gegeben, in der aber entscheidende Perioden (Nordafrika, Ankunft in Österreich) fehlen oder unscharf sind.

[10] Meine private Nachkriegsgeschichte hat hier nur einen Randplatz. So viel aber ist wichtig, dass ich erst sehr spät mit den realen Details konfrontiert wurde, die je nach familiärer Auskunftsperson widersprüchlich und bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind. 

[11] Eine späte, äußerst komprimierte Selbstdarstellung ist Jean Améry: „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, dem letzten Kapitel eines 1966 erschienen Buchs, dessen Titel schon einiges aussagt: “Jenseits von Schuld und Sühne – Bewältigungsversuche eines Überwältigten“. Irgendwie altmodisch, aus der Zeit gefallen erscheint die geschichtsorientierte Zusammenfassung, deren Titel schon „alles“ sagt und wegdrückt: Wer ist Jude? München, Hanser. Die regressive, letztlich katechetische Rückkehr zur einseitigen Bestimmung findet sich religionsorientiert mit dem gleichen Titel bei Gunda Trepp: Trepp, G. (2024). Wer ist Jude? Berlin, Hentrich & Hentrich.

[12] Illouz, E. (2023). Undemokratische Emotionen. Berlin, Suhrkamp.

[13] Boehm, O. (2023). Radikaler Universalismus. Berlin, Ullstein.

[14] Einwanderung in Israel: Historische Entwicklung der jüdischen Einwanderung | Israel (2008) | bpb.de: Hier wird die Dimension der Sepharden nicht ausgeführt. Einwanderungsland Israel – Israelnetz (14.10.2024). Schon konkreter: Äthiopier in Israel: Nur am Rande des Gelobten Landes – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de) (2.8.2022). Statistik: https://www.jewishvirtuallibrary.org/immigration-to-israel-graph-1948-2010?utm_content=cmp-true (14.10.2024). Mit vielen Verweisen Sephardim – Wikipedia (14.10.2024) . Das soziale Problem der sephardischen Einwanderung wird selten direkt angesprochen, ist aber essentiell. Vgl. Carlo Strenger: Das verdrängte Geheimnis der israelischen Gesellschaft | NZZ 15.3.2018

[15] Vielfältige und kontroverse Literatur, große Unterschiede in der deutschen und internationalen Bewertung.

PLO — Zwischen Terror und Diplomatie | APuZ 50/1979 | bpb.de . Palästinensische Befreiungsorganisation Palästinensische Befreiungsorganisation – Wikipedia . Dokumente (tendenziöser Kommentar):  Harkabi, Y. (1979). Das palästinensische Manifest und seine Bedeutung. Stuttgart, Seewald.

                Zur Hamas: Croitoru, J. (2024). Die Hamas – Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel. München, C.H.Beck.

                Was ist das Westjordanland, wem gehört es und was hat es mit dem Nahostkonflikt zu tun? (rnd.de) (14.10.2024). Westjordanland – Wikipedia (14.10.2024).

[16] DLF Kontrovers 7.10.2024, 10.00-11.30, mit Trittin (Grüne), Hardt (CDU), Lüders (BSW). Eine typische, ganz gute Diskussion, die ein wichtiges Zweitthema für Interessierte aufscheinen lässt: den Unterschied des Diskurses in Deutschland und Österreich im Vergleich zu fast allen, vor allem demokratischen Diskursen in Europa und den USA (Nicht demokratische Länder sind hier ausdrücklich nicht relevant für die Diskurskritik).

[17] Übrigens irrt Schröder, wenn er den 7.10. als Infragestellung des Zionistischen Israelprojekts notiert. Das ist viel früher geschehen, mit der Übernahme der Regierung durch den Revisionisten Menachem Begin 1977 und damit dem Ende der zionistisch-sozialdemokratischen Regierungsperiode (Vgl. Menachem Begin – Wikipedia). Wichtige Namen vor 1977 waren natürlich Ben Gurion, Golda Meir, Ygal Allon und Jitzhak Rabin (alle Mapai oder Awoda).

[18] Vorgeschichte der Republik: Die Vorgeschichte Israels bis zum 14.5.1948 ist gekennzeichnet durch eine dominante zionistische Argumentation. Die Überlebenden der Shoah spielten nach 1945 bei der Einwanderung schon eine Rolle, aber der Holocaust wurde erst später, in den 50er Jahren und immer stärker zum Gründungsmythos. Sehr komplizierte Beziehung zur langdauernd starken sozialistischen Regierungsdominanz (Mapai, Awoda), die aber abnahm, auch und weil zunehmend Einwanderung aus nichteuropäischen Gebieten zunahm. Erste und umfassende Informationen Die Gründung des Staates Israel | Israel | bpb.de, (9.10.2024) (Angelika Timm); umstritten, lang und literaturvoll: History of Israel – Wikipedia (9.10.2024); ob der Holocaust die Staatsgründung beschleunigt hat, ob die nach-Shoah-Einwanderung eher durch die Überlebenden oder durch jüdische Einwanderung aus Osteuropa beschleunigt hatte etc. sind historisch kontroverse Themen. Insgesamt gibt es eine unübersichtliche Vielzahl deutschsprachiger Geschichten Israels und der Palästinenser. Ich empfehle weiterhin Tom Segev, Moshe Zimmermann, Yuval Harari, Saul Friedlaender, Gudrun Kraemer u.a. mit durchaus nicht deckungsgleichen Ansätzen.

[19] Vgl. B’Tselem – Wikipedia, vgl. Katja Belousova: Warum die Verwaltungshaft in der Kritik steht (ZDF 6.12.2023, incl. Hinweise auf Kritik an B’Tselem). Man sollte Aryeh Neier genauer nachverfolgen: auch seine Funktionen im Menschenrechtsdiskurs sind wichtig (Aryeh Neier – Wikipedia), und die Kritiklinien in Israel selbst.

[20] Jukic bezieht sich ausführlich auf Kohn, Hans (1962): Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution. Frankfurt am Main, Fischer. Kohn selbst hat sich präzise auf Palästina bezogen, bevor er in die USA ging. Dank an Jochen Fried für den Hinweis. Eine wichtige Zusammenfassung, die ich ausführlich wiedergebe, im Anhang.

Politisches Glücksgift

Wer freut sich nicht, dass Assad aus Syrien abgehauen ist, dass die Russen dort zurückgedrängt werden, dass die Gefängnisse geöffnet wurden, dass…?

Wer hat in den letzten Tagen nicht Assad als das kleinere Übel gegenüber den erobernden Terrorbrigaden bezeichnet?

Wer hat nicht die Faust in der Tasche geballt, als der Präsident im Wartestand neben dem französischen Präsidenten die Kathedrale mit eröffnete?

Auch die politischen Korrekturen, Kurs oder Moment, können kurzfristig nachdenklich stimmen, die Meinungen sind nur bis zu einem bestimmten Moment stabil, dann schwurbeln sie im Kopf herum, bis sich wieder eine Überzeugung herausbildet, für eine Weile.

*

Im Marxismus gibt es Haupt- und Nebenwidersprüche. Im christlichen Glauben gibt es Todsünden und lässliche Sünden. Im Strafrecht gibt es Sicherungsverwahrung nach lebenslänglichem Urteil und Strafen auf Bewährung…so ist nicht nur die Politik und Gesellschaft, die Differenzen gehören dazu. ABER nicht so ohne weiteres, nirgends.

Anderswo ist es immer schlimmer als dort, wo man gerade nachdenkt oder handelt. Oder es ist weniger schlimm. Das ist nicht dialektisch, sondern bloß wirklich, fordert zum nachdenklichen Abstand vor jeder Reaktion auf, ist also ethisch oder moralisch eingebunden.

Was sagt es zu Österreich, da komme ich her, wenn der Islamismus dort besonders gedeiht? „Die deutsch-türkische Imamin und Aktivistin Seyran Ates sieht im politischen Islam das größte Problem für Europa. Besonders Österreich sei ein „Hotspot für Islamisten“, die sich in Parallelgesellschaften ungestört organisieren würden.

Die Parallelgesellschaften, über die nicht gesprochen werden sollte – weil man es als Fremdenfeindlichkeit und Stigmatisierung bezeichnet –, sind inzwischen Gegengesellschaften geworden“, sagte Ates gestern in einem APA-Interview beim Mediengipfel in Lech„.

Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland oder anderswo solche Hotspots nicht gibt, Aber in Österreich fällt es besonders auf, da sollte ein besonderer Anlass oder eine Reaktion auf Untaten die Nachricht bewegt haben.

Weil nichts schwarz-weiß ist, ist noch lange nicht alles relativ. Darum meine Eingangsbemerkungen, die könnte ich täglich machen und zu viel mehr Themen. Aber auch das ist wichtig, was einem „Ins Auge springt“. Ihr erinnert euch meiner Kommentare zum Terror der Aktualität. Über diese Wichtigkeit und ihre Anordnung in unserem Bewusstsein denke ich heute besonders nach, etwa über die Reihenfolge der Nachrichten: erst Assad, dann Notre Dame. Erst Notre Dame, dann die Besucher von Macron. Anderes wird nach hinten geschoben, oft erleichtert, dass man nicht über Sudan, oder afghanische Frauen, oder Gewalt in Haiti erfahren muss…Die Medienwissenschaften wissen dazu viel und genaues. Die Alltagswahrnehmung kann nicht auf die Theorie ihrer andauernden Praxis warten, auch das ist klar. Aber dazwischen sind so seltsame Erfahrungen mit der „Reaktion“. Plötzlich ist in Syrien, im Mittleren Osten, in der Türkei, in Israel … alles anders. Plötzlich und anders. Der Gegensatz zu beständig und gleichbleibend. Schon nach wenigen Stunden hat die Umdeutung der siegreichen „Milizen“ begonnen, in allen seriösen Medien. Kurz davor wurde Haiat Tahrir al-Scham (HTS) analysiert, die wichtigste von mehreren Rebellengruppen. Vgl. https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/sturz-von-assad-das-ist-der-anf%C3%BChrer-der-islamistischen-k%C3%A4mpfer/vi-AA1vtqym?ocid=msedgntp&pc=U531&cvid=f8d9462bedef4e4bb8e560b9cc77d88a&ei=21 (AFP)

Man kann sich freuen und dennoch wissen, wo mögliches oder wirkliches Gift wartet oder schon wirkt. Das muss politisch und empathisch und rational bedacht werden, nicht intuitiv oder gar im Rahmen der eigenen festgefügten Überzeugungen. Die Wirklichkeit hat wieder einmal die Wahrheiten übertroffen, Notre Dame übersteht die Einweihung und ihr Erstbesucher, und vielleicht kommen in Syrien auch die Menschen zum Wort. Besserwissen werden für einen Augenblick von Besserdenkern ausgebremst.

Abwerten. Nicht zu lange.

Israel, jüdisch und anders. Deutsch?

Diesen seltsamen Titel habe ich gewählt, weil mir im derzeitigen Konflikt der Diskurse keine geradlinige Ansprache einfällt. Der Konflikt der Diskurse ist nicht der wirkliche Konflikt, und dieser ist eine Summe von Konflikten. Ich wiederhole: Pro-Israel, Anti-Israel, Pro-Palästina, Anti-Palästina sind moralisch und intellektuell verbotene Vereinfachungen. Wenn man für die Einen ist, ist man nicht automatisch gegen die Anderen bzw. für Beide und gegen Beide geht so auch nicht.

Da ich in Deutschland lebe, als Jude, Deutscher und Österreicher, sage ich einigermaßen bitter: Deutsche, wenn ihr nicht jüdisch seid, haltet euch zurück und aus manchen Diskursen raus. Eure Geschichte mit den jüdischen Menschen, vor 1933, nach 1933, nach 1945, nach 1989 bis heute wird durch zu viele teils arrogante, teils wehleidige Selbstpositionierungen verzerrt. Wir sind wieder in der Situation, dass viele hier sagen Deutsche und Juden, dass man jüdischen Menschen rät, mal ohne Kippa in einem Berliner Bezirk zu gehen oder dass man bei „pro-palästinensischen“ Demonstrationen nicht weiß, wer oder was Palästinenser, Araber, Muslime, sind wer woher kommt und wer wofür steht. Deutschland (und teilweise Österreich) haben hier eine besondere historische, moralische, kulturelle Selbstbezogenheit, die nur teilweise etwas mit dem Holocaust, teilweise mit der Nachkriegszeit, teilweise mit der Zweistaatenrealität vor 1989, teilweise mit dem vereinigten Deutschland zu tun hat, teilweise auch mit einer Kulturgeschichte im Verhältnis zu jüdischen Menschen, die ans Paradoxe grenzt: Deutsche und Juden seit 1700 Jahren…sagt man, aber seit wann gibt es „Deutsche“?

Ich verweise hier nicht auf meine Forschungen, auf meine Schriften und Reden. Nicht auf meine jüdischen und nicht-jüdischen Freunde und Bekannten hierzulande oder in Israel oder in Palästina oder in den USA. Ich verweise auf niemanden, mit dem ich nicht direkte Kommunikation pflege. Was ich aber nicht ertragen will, dass es eine Art von deutscher Besserwisserei gegenüber „den Juden“ gibt, die in der Tat zu Spaltung und menschlicher Differenz führt.

Um es klar zu sagen. An der Politik der Regierung Netanjahu und seinen Faschisten habe ich seit langem offen Kritik geübt. An dem Recht des Israelischen Volkes an seinem Staat habe ich nie gezweifelt, das sind mehrheitlich Juden und andere Menschen. An der Zweistaatenlösung oder einer Föderation halte ich fest, auch wenn vielleicht eine Einstaatenlösung besser gewesen wäre.

Um es auch klar zu sagen: Schuldzuweisungen darf und soll es weiterhin geben, wobei die Schuldigen nicht notwendig zu einander positiv stehen. Schuldvermengungen wie durch den Europäischen Gerichtshof, die einen Staat und Terroristen gleichsetzen, darf es natürlich so wenig geben, wie die Einen den Anderen menschlich vorziehen.

Was sich in den letzten Monaten an sekundärer und tertiärer Kommentierung der Probleme hier abspielt, lässt einen oft an der Evolution von Vernunft (ver)zweifeln. Dass sich Politik vieler Staaten jeweils in die Politik von Israel und der weiteren Region einmischt, darf und muss genauso kritisiert werden wie die Haltung extremer religiöser Akteure.

Nur, bitte denkt daran, wenn der Antisemitismus jüdische Menschen wieder und wieder vertreibt, dann sollte doch Israel die sichere, demokratische Zuflucht als letztes Ziel sein können. Daran können alle arbeiten.

English version: commentary. From 9/11 to 10/7

Dear family and friends, who do not speak German. It is no real pleasure to condense my views and commentaries on Israel and the Gaza and the region and global actions and reactions. And and and…But it does not help closing the eyes and ears, reality is penetrating all senses and thoughts, day and night.

October 7, 2023, was a terrible day. Its reality was bad enough, but the events created also an aura of almost unreal comparisons (e.g. 9/11/38) and made almost all actions in the context double bond. Germany reacted, as always, differently from almost all other societies, because of the permanent restructuring the post-1945 development and successful learning and … despite the fact that anti-semitism has grown immensely, and that right-wing and fascist movements are developing even faster than in many other European countries. Within the Jewish communities and organizations in Germany, and also between the Germans and the Jews there are increasing rifts and conflicts. This is not new, and it can be explained. But communication on the socials and private levels is deficient. The parliament, as an example, has produced an anti-anti-semitic resolution that was supported on the one side by one right wing party and still is being heavily critized by Jewish and other organizations and intellectuals for being the opposite of the intended pro-Jewish unfication of democrats (cf. Vera Weidenbach, Ha’aretz Nov. 7). Over most of the last year there is a hefty antagonism between those who support the Jewish people of Israel and the intention to create a two-state solution in order to regain peace, and the increasing conflict between supporters and critics of Netanjahu and his partially fascist government. A famous politician of the 1968 period, Daniel Cohn-Bendit, has uttered just recently how much it does hurt him, when Jews are fascists (in Israel).(FAZ Nov. 8). The situation of Israel is more than one among many points of conflict, because Israel as a possible last aim of rescue for Jews is in danger. For many reasons, both externally (complete annihilation) and internally (becoming a fascist state no longer open to Jewish immigration and refugees).

Israeli Hostage’s Father: ‚We’re Second-class Citizens in a Fascist Country‘
 
Liza Rozovsky  Ha’aretz 14/11/2024

This situation makes it difficult and urgent at once to reflect the „real reality“ in Israel and the whole region and its political outposts and open and hidden actors. On the other side, without learning (again) the history of what has happened and why during the last 100, 50, 30, 5 years…makes it difficult to understand anything of the conflicts within the Jewish and the Palestinian people, and between them.

The situation in the USA, as one main actor, does not make things easier since the crazy victory of Donald Trump, which does also the split the Jewish and the Muslim people in the US. We really have no idea how Trump will act on behalf of Israel, of Jews, of peace. (Or do we, and are afraid of what we foresee?).

The events after October 7 have indeed changed the structure of Jewish people, everywhere, and in Germany. Now its too late to regret all the ignorance and superficiality with which the questions of peace in the region, the critique and support of Israel and the Palestinians etc. have been pushed into the corner. But there are only a few signs that politics become awake. And I am afraid that the danger of Israel simply disappearing from the world map has become bigger than ever. That is no good perspectives for those who find Israel as their last resort and for those who do not want to settle in a country dominated by fascists and outlaw settlers on the one side, while the attacks and hostility by Hamas, Hizbollah and other neighbors is growing and will not be diminished by military perpetuation.

*

Since I have many Jewish members of my family and many friends in Israel, I was also emotionally engaged, of course, before October 7, and in a very different way afterwards. But in this complex ideological battleground, I thought the best solution for me would be to stay in touch with my friends in Israel and to create an aura of rationality around me: I held a seminar at the University, about the history of Israel and region between 1896 and October 6, 2023 – not many students, but interested and not aggressive ones. I have been adding some posts to my permanent communication michaeldaxner.com and I am giving some public lectures or preparing them. The real difficulty is not to stumble into one of the many ideological traps. And if you love Israel, like me, and if you prefer two democratic nations or states in a confederation or two-states-unit, neither religion nor ethnic prejudice should be allowed to produce future politics – the present policies are sad enough

*

Of course, this is just a superficial commentary on the view on Israel and region. I am reading Ha’aretz and listening to BBC and get information by my friends in Israel, and read and re-read books on the history of Israel. YOU do probably the same, and I am sure that many of the texts are the same. I am writing this short commentary on the present reaction to the events in Israel and Palestine, because I have the impression that many people – also many politicians – do lack empathy and insight into the human feelings and reactions after October 7, and concentrate too much on what happened since. I want to follow Omri Boehm (2023) who claims that we should not fight for the „really“ right truth among controversial truths, but insist on a higher instance, that is justice in the sense of righteousness. This is complicated and not easy to understand that there will be no shared truth between Israeli Jews and Palestiniens…but we must go ahead.

7. Oktober III

Martenstein rezensiert Ron Leshems Buch Feuer. Um dieses Buch geht es mir jetzt nicht. Es geht Martenstein aber in erster Linie um eine Wahrheit, die man den Relativierern des Kriegs in Nahost nicht oft genug sagen kann. Martenstein schließt seine Rubrik mit den Worten: „Der erste Krieg aber, den Israel verliert, bedeutet sein Ende. Keine Waffen mehr? Bilder, die man am 7. Oktober tausendfach gesehen hat, wird die Welt dann millionenfach sehen. Haben alle Juden den Tod verdient, zur Strafe für Netanjahu? Das kann nicht euer Ernst sein?“ Für sich ist dieser Absatz schon schwer gewichtig. Aber er kommt dazu mit einer Beschreibung, die noch schwerer wiegt und nicht hintergehbar ist, dazu später mehr. „Ich glaube, es ist unmöglich, sich zu diesem Krieg eine Meinung zu bilden, ohne ein paar Details zu kennen, auch wenn sie schwer auszuhalten sind. In Israel kennt sie jeder. Man kann sehen, dass die Mörder Frauen vor den Augen ihrer Kinder wieder und wieder vergewaltigen, bevor alle erschossen wurden, man weiß, dass Opfern bei lebendigem Leib die Brüste abgeschnitten wurden. Sie zwangen Familien, dabei zuzusehen, wie dem gefesselten Vater die Augen ausgestochen wurden oder das Genital abgeschnitten wurde…Es ging darum…dass niemand, der damit zu tun hatte, je in der Lage sein würde, zu vergessen und zu vergeben. Das Kriegsziel hieß: unendlicher Hass. Es wurde erreicht“. Das ist keine wilde Phantasie, keine Übersteigerung der Wirklichkeit, es ist zunächst eine Beschreibung dieser Wirklichkeit, die als Reaktion meines Erachtens Empathie vor Politik setzt, Mitleiden vor Analyse und Reaktion. Empathie in dem Sinn, dass wir den Opfern, Geiseln, Mitbetroffenen dieser Wirklichkeit mehr als nur Mitleid oder Parteinahme zuwenden, sondern wenigstens am Rande unserer Vorstellungskraft nachvollziehen, was dort tatsächlich geschehen ist.

Man kann, in Grenzen, unterschiedlicher Meinung sein, wie „es“ dazu gekommen ist. Man kann das, was am 7. Oktober 2023 geschehen ist, nicht an diesen Grenzen relativieren.

Ich wiederhole meine Frage von letzthin: wenn es nicht Netanjahu und seine rechte Regierung gewesen wäre, sondern eine demokratische, humanitäre Regierung: wie hätte sie auf den 7. Oktober reagieren können und sollen? Das widerspricht nicht meiner Auffassung, dass Kriegsführung und Diplomatie anders hätten sein können und heute sein sollen. Hier geht es um die Reaktion auf das, was wirklich vor aller Wahrnehmung geschehen ist.

Ein seltsamer Gedanke schleicht sich ein: wenn wir dieses Geschehen auch in die Herkunft und Geschichte der Wirklichkeit des 7. Oktober „einpacken“, dann wird es dadurch bereits relativiert, aber noch lange nicht behandelbar und verhandelbar? Andererseits ist die Geschichte nicht abzustreifen wie eine un-denkbare, un-bedenkbare Vergangenheit, aber was sie bestenfalls erklärt, hat mit dem 7. Oktober wenig zu tun, und mit seiner Verkleinerung durch Israelgegner und Antisemiten schon gar nicht. Hier setzt zu Recht die Kritik an den anti-israelischen, pro-palästinensischen Demonstrationen an: Was wird da demonstriert, gezeigt, hochgehalten?

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Mich lässt das Geschehen nicht in Ruhe. Der 7. Oktober hätte Freunde treffen können, er hat tausende Menschen und ihre Angehörigen wirklich getroffen, und die Wellen breiten sich so aus wie der Stein, ins Wasser geworfen, sie ausbreitet. Lest die Rezension: Buchkritik: „Feuer. Israel und der 7. Oktober“ von Ron Leshem (7.6.2024 Hueck, DLF) und dann das Buch. Man kann auch viel mehr und anderes dazu erfahren, Nichts wissen gilt nicht.

Ich arbeite zur Zeit an der Geschichte Israels bis zum 6. Oktober 2023. Diese Geschichte wird von vielen, den Meisten, nur bruchstückhaft wahrgenommen, gewusst oder (un)bewusst verdrängt. Es geht um jüdische Menschen, aber nicht nur um sie. Das ist nur scheinbar trivial, aber es hilft erklären, warum es keinen Judenstaat, sondern einen jüdischen geben sollte. Ich habe bewusst die Ereignisse des 7.10.2023 so gut wie nicht kommentiert, werde es auch nur in ganz engen Maßen tun. Das hat auch etwas mit dem Vorrang von Mitgefühl vor der Politik zu tun.

*

Der Nachsatz klingt banal: ausgerechnet eine Kolumne in der ZEIT ist hier der Anlass zu diesem Post. Martenstein hat eine Tür geöffnet, die ohnedies nicht verschlossen ist.  Ich habe also doch zum 7. Oktober geschrieben.

7. Oktober II = Jom Kippur heute und morgen = immer wieder

7. Oktober II = Jom Kippur heute und morgen = immer wieder

Schaut erstmal nach, mit religiösen oder ganz säkularen Gefühlen, immerhin: DER Feiertag. Nachdenktag.

Jom Kippur – Wikipedia; Jüdisches Lexikon Bd. III, Frankfurt/M. 1987, S. 310ff: Jom kippur;

Entscheidend in der Geschichte dieses Tages ist, dass ein Schulderlass durch Gott erst auf die Versöhnung der Menschen miteinander folgen kann und darf. In vielen Variationen.

Der Jom kippur-Krieg (6.-25.10.1973) begann am Feiertag. Auch hier kann man anfangen nachzudenken, was dieser Tag auf sich hat. Wer an diesem >Tag angreift, kämpft, sich verweigert.

Der 7. Oktober 2023 hat eine tiefe Kerbe gegraben. Zum Jom kippur bewegen sich auch andere mit aufklärenden Ideen, z.B. (New Israel Fund: Zu Yom Kippur: Rückblick auf den Jahrestag des 7.10. & Einladung zu zwei Veranstaltungen)  und viele andere.

Aber das muss ich euch und Ihnen ja nicht erklären. Nur: heute kann man nicht darüber hinwegsehen, ohne an diesen Tag zu denken, wenn man schon an ihn gedacht hat.

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Zu den wichtigsten Rahmenbedingungen des konkreten Feiertags gehört, ordentlich und kritisch zu unterscheiden: Judentum, Staat Israel, israelische Gesellschaft, Regierung, Zionismus, Palästina…Begriffe sind nicht einfach wegweisende Aufschriften. Wenn man hier nicht genau ist, versteht man den 7. Oktober nicht. Das Verbrechen der Hamas wird durch Einsicht in die Wirklichkeit nicht geringer. Auch die Vorgeschichte, die mehrere Schuldige kennt, entschuldigt nichts. Aber sie lässt uns verstehen, wie und warum es zu diesem Verbrechen gekommen ist, und Verstehen ist immer an Kritik und Selbstkritik gebunden.

(Hier gibt es eine Linie zu Jom kippur: wenn ich mich in der Familie, meinem persönlichen und sozialen Umfeld ent-schuldigen soll, dann fragt sich schon, wofür).

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Netanjahu, die Geschichte des Likud, die Zusammensetzung der israelischen antizionistischen Politik seit 1978, die faschistischen und ultrareligiösen Politiken der Siedler und Ultraorthodoxen gehören zusammen und sind nicht als weißer Elefant im Laden zu verkleinern. Sie sind teilweise, aber eben nicht kausal und dominant für die Verbrechen und Aktionen der Israelfeinde mit verantwortlich. Das ist auch Politik, und solange man es nicht weiß, kann man es nicht verstehen. Man muss es aber verstehen, um die Politik Netanjahus zu begreifen, der ja als kleiner Rechtsbrecher nicht einfach Weltpolitik machen konnte, auch wenn er das wollte.

Die Vorgeschichte und Erklärung des Handelns der Hamas, der Muslime in Israel und im Westjordanland, in den umgebenden Staaten, vor allem in Syrien, im Iran, auch das Handeln der Hisbollah wird, fatal und zu Unrecht, der Israelkritik eingeschrieben, weltweit, oft bei den UN, oft aus Halbwissen. Schon die Verlegung des Staates Israel und der Terrororganisation Hamas auf eine diskursive Ebene ist grauenvoll und teilweise wirklich ein Schutzschild für den Antisemitismus.

(Jom kippur: schau genau, wer woran wirklich schuld ist, und dort verhandle, bevor du die Überzeugungen verfestigst, wenn du dich in Schuldfrage plötzlich selbst siehst, als Einzelner, als Staatsbürger, Religionsmitglied, Überzeugungstäter usw. Das ist schmerzhaft).

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Ich schreibe das heute. Mit der aktuellen Geschichte und Politik Israels setze ich mich seit Jahrzehnten auseinander, seit einem Jahr ist das noch schwieriger geworden als es immer war, und jetzt geht es um noch mehr als je zuvor: nämlich die Existenz Israels und die jüdische Unversehrtheit. Warum es mich interessiert und betrifft, ist heute nebensächlich, aber ich arbeite schon länger daran. Das ist der eine Fokus, der andere ist die Empathie für alle betroffenen Menschen, da tritt das Jude/Jüdin-Sein hinter die Menschlichkeit. Die und Empathie müssen eine Waffe gegen den Antisemitismus sein.

(Jom kippur: Buße und Versöhnung. Beides hat wenig mit Glauben zu tun und wird von der Religion nur so gefasst, wie eben die Gemeinschaftsbildung es möglich macht, mit Grenzen zu sektiererischen Extremen. Entscheidend ist die Praxis und nicht die Hoffnung auf eigene Rettung durch den richtigen Glauben).

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Heute wie an kaum einem anderen Tag wiederhole ich: Das teuflisch falsche Quadrat pro-Israel, anti-Israel, pro-Palästinenser, anti-Palästinenser kann sich nicht einen Moment lang begründen.  Allein die intervenierenden Akteure (=Variable!) verzerren jeden Blickpunkt von einem Standpunkt aus. Aber auch für uns ist das alles nicht eindimensional: wenn Israel das letzte Rückzugsland auf Erden bleiben soll, dann darf es nicht vernichtet werden. In meinen Augen sollte das weniger eine nicht mehr realisierbare Zweistaatenlösung ergeben, sondern eine Föderation (wie das z.Zt. Omri Boehm vorschlägt, oder wie sich das Tony Judt vor Jahrzehnten gedacht hatte). Dafür kann darf soll man sich einsetzen, öffentlich und laut und vor allem präzise. Und wenn Israel erhalten bleibt, dann muss es eine Demokratie und eine friedliche Nation (wieder) werden, sonst vernichtet es sich selbst.

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לשנה טובה תכתבו ותחתמו das kann man so UND so wünschen für ein gutes Leben, über das Jahr hinaus.

7. Oktober

Der 7. Oktober ist niemals vorbei. Er hat schon früh begonnen und er wird immer wiederkehren.

Am 7.10.1571 hat die Heilige Liga die Osmanen in der Schlacht von Lepanto besiegt. Schon der Begriff, und dann seine mehrfache Wiederholung, ist seltsam – und 1571 von Bedeutung (Heilige Liga (1571) – Wikipedia). Die Vorherrschaft der Osmanen ist erstmals beschädigt und wird sich weiter reduzieren, über die Jahrhunderte hinweg. Aber diese Schlacht hat nicht nur für die europäischen Reiche, Fürstentümer, Ökonomen eine große Bedeutung, auch für das Judentum – die Inquisition ist noch auf der Höhe ihrer Wirksamkeit – auch für einzelne jüdische Familien. Hier einmal das Beispiel einer reichen Familie, die von Beatriz de Luna (1510-1569) und ihrem Mann Francisco Mendes (1485-1535) und ihren Nachkommen handelt, „Kryptojuden“ oder Marranen. Ihre Lebensstationen sind Spanien, Portugal, die Niederlande, Venedig, Ferrara, Saloniki, Istanbul. Sie kaufen ihr Überleben den Herrschenden ab, sind von den Päpsten, der Inquisition und geldgierigen Fürsten abhängig, und reich genug, um dennoch Menschen zu retten und sozial Gutes zu tun. Mir geht es um die Fluchtpunkte der Juden. In der Globalgeschichte der frühen Neuzeit spielt diese jüdische Geschichte eine besondere Rolle (Behringer 2023). Immerhin von S. 336 bis 349 wird die Geschichte dieser jüdischen Familie genau beschrieben. Religion, Politik, Geld.

Warum ich das mit dem 7. Oktober verbinde: viele jüdische Menschen, in Israel und weltweit, müssen in diesen Tagen befürchten, dass Israel doch nicht der entscheidende Fluchtpunkt, das Ziel, eine letzte Heimat zu finden bleiben kann – wenn seine Feinde den Mehrfrontenkrieg gewinnen; oder dass es ein Land wird, das nicht als jüdische Heimstatt ohne weiteres erstrebenswert bleibt, unter Netanjahu und seinen faschistischen Koalitionspartnern. Aber natürlich: Israel kann und soll erhalten bleiben und seine Demokratie absichern, auch mit der nötigen Distanz zur religiösen Herrschaftsideologie. Dass das möglich ist, zeigen nicht nur die Demonstrationen.

Wenn normale religiöse Jüdinnen und Juden ihre Identität in Deutschland verbergen, zB. wenn Männer keine Kippa tragen, weil sie angegriffen werden, so ist das schlimm – moralisch, politisch, alltäglich. Wenn einzelne Gruppen – es gibt ja nicht viele Jüdinnen und Juden im Land, gerade einmal 0,2% – versuchen, entweder eine Einheitslinie, man möchte fast sagen: Einheitsgemeinde, zu schaffen, so wie die antisemitischen und antiisraelischen Gruppen sind homogenisieren wollen, dann spricht das gegen die Entwicklung der Demokratie in unserem demokratischen Land. Dass die antisemitischen Gruppen zahlenmäßig die Anzahl der Jüdinnen und Juden bei weitem übertreffen, sei schon angemerkt – es wird in den Nachrichten oft übergangen.

Man darf nicht zurückweichen von den Forderungen, die alle mit einem Waffenstillstand beginnen müssen, der aber in weiter Ferne scheint: die Geiseln müssen befreit werden, die Zweistaatenlösung oder die Alternative einer Einstaatenunion müssen politisch gewollt und vom Ausland unterstützt und beschützt werden (Interview mit Rula Hardal und Omri Boehm: „Die Zwei-Staaten-Lösung wäre ein Desaster“ – Kultur – SZ.de (sueddeutsche.de) 7.10.2024; schon früher: Binationale Föderation – Ein alter, neuer Lösungsansatz für den Nahost-Konflikt (deutschlandfunk.de) 28.1.2021; und noch früher die Gedanken meines Freundes Tony Judt (Tony Judt – Wikipedia), ab 2003 und stark umstritten.

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Ich komme immer wieder auf Omri Boehm zurück. Der ist ein politisch versierter Philosoph, kein Politiker. Seine schon schwierige Ableitung, dass es jenseits der Wahrheiten etwas Wichtigeres, Gerechtigkeit, geben müsse, kann man umsetzen in Praxis, man muss es nicht diskutierend zerfasern (Boehm 2023). Boehm fasst zusammen: „Das Problem…besteht nicht darin, dass Israel nur eine unvollkommene westliche liberale Demokratie ist, sondern darin, dass es so ist, wie westliche liberale Demokratien nun einmal sind: Sie sind für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ (152). Und darauf folgt unmittelbar die Kritik des Identitätsdogmas, die dem Stärkeren immer auch Macht über die Schwächeren gibt.

Ich habe seit langem schon meine Kritik an der einen Identitätskonstruktion oder an einer vertikalen Hierarchie von Identitäten entwickelt. Das ist keine philosophische Spielerei, sondern heute wirklicher Ernst, wenn man die entsetzlichen Aussagen der Kontrahenten in den Nahostkriegen zur Kenntnis nimmt. Aber um gegen die Identitätspolitik zu kämpfen, reicht es nicht sie zu kritisieren. Man muss die Schwächen der „westlichen liberalen Demokratien“ aufgreifen, um sie zu stärken, z.B. indem man die scheinbar liberale, de facto aber neoliberale ökonomische Machstruktur ebenso angreift wie die Vorstellung, dass autoritäre Bindungen an Religion und andere Ideologien den Weg zur Stabilisierung abkürzen.

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Uns stehen Wanderungen, Fluchten, Abschiebungen ebenso bevor wie Ankommen, Lagerungen und starres Ausharren dort, wo wir sind. Nicht nur uns jüdischen Menschen, uns Menschen.

Behringer, W. (2023). Der grosse Aufbruch. München, Beck.

Boehm, O. (2023). Radikaler Universalismus. Berlin, Ullstein.

Der jüdische Wald

Gerade zurück aus den Alpen: erneuert schon durch Anblicke und Perspektiven. Im Urgestein zieht sich der Wald hoch hinauf, bevor die Felsenbeginnen, auch die Almen sind hoch und es scheint fast zu schön um wahr zu sein. Es ist nicht wahr. Schaut man genauer auf die großen Wälder, sieht man größere Flächen abgestorbener, entnadelter Fichten; man sieht, wie sich die steilen Hänge nach den wilden Stürmen vor 8 Jahren wieder bepflanzen, das werden aber keinen Nadelwälder, und irgendwie ändert sich vieles mehr, Erdrutsche, Trockenheit, Überschwemmungen, das Detail verändert das Ganze, aber die Perspektive bleibt.

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Schaut man aufs Judentum, so ist da etwas ähnliches: der Blick auf die jüdische Geschichte ist wie ein Panorama, das man sich sattsehen kann…wie? fragt der Skeptiker: Jüdische Geschichte, das ist Verfolgung, Demütigung, Shoah…da kann man nur sagen: das auch, leider und immer wieder, ABER eben nicht die ganze jüdische Geschichte. Die darf auch heute weder mit der Shoah noch mit dem 7. Oktober 2023 noch mit der Regierung Netanjahus noch mit dem Auftritt unsäglicher jüdischer Aktivisten religiöser oder auch faschistischer Struktur festgeschrieben werden. Die jüdische Geschichte wird aus den Situationen, in denen sie jetzt scheinbar stecken geblieben ist, wieder ausbrechen, in eine Zukunft, von der wir nicht alles wissen oder genau vorhersagen können – z.B. wie entwickelt sich die Geiselopposition in Israel, oder wie formieren sich die kleinen Minderheiten wie in Deutschland zu größeren humanistischen Koalitionen, oder wie emanzipieren sich jüdischen US WählerInnen vom Trumpismus etc. Wenn es nicht um „Juden“ ginge, wären solche Fragen bei jeder anderen Ethnie politisch, kulturell, „ethnologisch“ ganz alltäglich, normal?!

Aber die Juden. Was sich zur Zeit im Nahen Osten abspielt, nicht nur in Israel, ist ohne die Geschichte des Staates Israel, seine Vorgeschichte, seine Etablierung, seine Verteidigung, seine Diplomatie, seine Wirtschaft, seine widerspruchsvolle Einwanderung etc. nicht verständlich. Wir können da vor langer Zeit zB. religionsgeschichtlich anfangen, um die ultrareligiösen Politiker richtig kritisieren zu können; wir können aber auch ins 20. Jahrhundert gehen und sehen, wie der Zionismus der Staatsgründung umgeschlagen hat in eine ethnisch und politisch ganz andere politische Richtung, die nicht nur die Siedler und die Landnahme, sondern auch das Verhältnis zu den Palästinensern stark beeinflusst, und diese Menschengruppe müssen wir, was Israel betrifft, natürlich auch verstehen, historisch, politisch, religionskritisch, was ist denn der Unt5erschied von PLO und Hamas etc.?

Glauben denn die arroganten Israelkritiker wirklich, einen Staat, dessen Gründung in einem Krieg begann, nach 75 Jahren bewerten zu können? Schaut euch die Deutschen an: seit 1871 angeblich EIN Staat, aber die Leute bezeichnen sich weitgehend heute noch als Bayern, Sachsen und Hamburger. Jaja, ich weiß schon, der Vergleich hat dünne Stellen, aber gerade die muss man füllen, mit der wirklichen Geschichte Israel und nicht den vielfältigen Narrativen der politischen und kulturellen Akteursgruppen.

Eine Konsequenz ist, dass es geradezu moralisch und ethisch verboten ist, ein dogmatisches Quadrat zu praktizieren: Pro-Israel, Pro-Palästinensisch, Kontra-Israel, Kontra-Palästinenser. Das geht nicht, und wird es trotzdem gemacht, ist es ein Anlass zu weiteren Kämpfen. Auch die Zuordnung des Antisemitismus zu den Positionen ist meist fatal, weil Israelkritik und Antisemitismus so wenig deckungsgleich sind wie das komplizierte Gegenbild auf muslimischer oder palästinensischer Seite (Vorsicht, das ist nicht analog, und noch komplizierter…).

UND WAS HAT DAS MIT DEM WALD ZU TUN?

Die Analogie ist einfach: die Perspektive, das Panorama der jüdischen (Welt?)geschichte ist schon beachtlich. Aber es ist auch wichtig, genau hinzusehen, die Verwerfungen, die durch Religion und ethnisch Antagonismen hervorgerufen wurden, nicht zu ignorieren, und – in der Gegenwart – nicht ideologisch Politik und Ethnie unrecht zu vermischen. Darum übrigens schreibe ich gerade an einem Buch, in dem ich „die Juden“ (Ethnie( und „jüdisch“ strengt unterscheide.

Umgekehrt, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, kann man keine Politik der Erhaltung und Zukunft machen.

Dazu kommt noch einiges, aber keine Analyse des gegenwärtigen Kriegs. Erstmals, ganz aktuell: Meron Mendel https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/meron-mendel-wir-juden-brauchen-nicht-den-holocaust-um-in-deutschland-solidarit%C3%A4t-zu-fordern/ar-AA1rLF5N?ocid=msedgdhp&pc=U531&cvid=d218c936e58147499a1c691932366098&ei=28