Wirklich und wahr: Marlenes klare Schrift

Nichts ist vorbei. Was wir jetzt durchleben, trägt immer auch Vergangenes, Erinnertes, erwünscht Erinnertes und wirkliches, mit sich. Sonst könnte ja niemand die Zukunft aus der schlechten Vergangenheit lösen. Was war da mit CoVid? was war da mit verschiedenen Temperaturen von Wohlstand und Sorgen um Verarmung, oder auch Sorgen um Gesundheit und Körper? Wie erreicht uns der erneute Krieg, der andere Waffengänge überdeckt, und wo lässt er sich nicht oder doch ausblenden?

Solche Fragen lösen sich berufen Fühlende meist durch Einblenden bekannter Namen, die manchmal wie „Leuchttürme“ repräsentieren, worüber Antworten gesucht werden. Weniger sensibel heißt das auch, dass sich viele Diskurse nur innerhalb von Eliten oder Personen im Rampenlicht verstehen lassen, vom großen Rest der Informierten soll es eben geglaubt werden oder hingenommen. Manchmal mit, meist ohne Protest.

Marlene Streeruwitz, unbeirrt und genau, geht einen anderen Weg, nicht zum ersten Mal, aber genauer und hautnah an der Wirklichkeit. Es ist ein Einblick in die Normalität, wie selten geglückt. Mutter und Tochter, auch die Großmütter, auch einige andere in unmittelbarer oder erinnerter oder vorgestellter Kommunikation. Tage im Mai. So heißt das Buch (Fischer, 2023), so wird es in die Zeitläufte eingeschrieben. Die meisten Rezensionen geben ganz gut wieder, was hier abläuft. Aber kaum erfahren wir darin, was mich so fasziniert: Marlene Streeruwitz beschreibt normale Menschen in einer Welt, die wie eh und je von Normalität weit entfernt ist, aber in Wellen besseren oder weniger guten Extremen sich nähert.

Normalität heißt zum einen, dass alle Menschen, deren Tage und Nächte hier beschrieben werden, ihre Besonderheiten mit sich tragen, mehr oder weniger bewusst oder reflektiert: Mutter Konstanze und Tochter Veronica wie ein Zwillingsgestirn in einem Sternbild, das einen guten Ausschnitt aus der Wirklichkeit darstellt, aber unbegrenzt endlich ist. Endlich, weil alle sternemüssen, die in der menschlichen Gesellschaft leben, weil das den Überlebenden zu bedenken nicht erspart bleibt, und doch müssen sie weiter leben. Normal. Nicht zusätzlich herausgehoben. Denn das macht diesen Text so faszinierend, gerade bei den Normalen ist das, wir oft pathetisch menschlich nennen, nicht durch die Wirkung, durch die ständig neuen Kleider sichtbar.

Mich hat dieses Buch enorm erleichtert. Das muss ich kurz erklären. Zur Zeit sind introspektive Lebenserinnerungen jeder Art, Deutungen aus sich heraus, angesagt. Das hebt die Textfabrikation von der Normalität der Wirklichkeit ab, macht die Schreibenden und Erzählenden zu „Besonderen“. Ich mag das nicht, schon, weil es mich vom genauen Beobachten der beschriebenen individualisierten Wirklichkeit ablenkt und ich mir diesen besonderen Menschen zusätzlich vorstellen muss.

Bei Marlene Streeruwitz kann ich innerhalb der Grenzen des Normalen vergleichen: das kenne ich, das ist wahrscheinlich, das tut mir in der Übertragung weh, das ist so. Als hätte ich. Als wäre ich dabei.

Wenn Mutter und Tochter beim Anschauen einer Telenovela „Tango para Estrellas“, Kapitel II, beisammen sind, und die Bedeutungsknappheit der Kommunikation gerade nicht stattfindet, dann ist Inhalt insofern schon bedeutend, als er die schlechte Unendlichkeit einer nicht selbst erlebten Wirklichkeit Folge für Folge für Folge anbietet. Man kann auch vieles überspringen, das Grundmuster bleibt erhalten. Wer dann nicht lachen kann, wenn „Lippen schweigen, flüstern Geigen…“ in englischer Übersetzung erklingt, und die weiße und die schwarze Francine sich in Lehàrn wiegen, der oder dem ist nicht zu helfen.

Aber nach dem Lachen kann man zum Beispiel genau und materialreich erkunden, warum die Telenovelas ein wichtiger Bestandteil einer uns nur oberflächlich bewussten „anderen“ Kultur sind, einer Normalität in anderem Gewand.

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Was mich an diesem Buch noch mehr als an früheren von Marlene Streeruwitz so fasziniert ist die Kunst uns auf die Wahrheitssuche zu schicken, indem sie die Wirklichkeit, die Normalität wirklicher Menschen, darstellt. Es gibt da nicht die überlegene Bosheit eines überlegenen Draufschauens nach dem Motto, wir hätten andere Probleme. Diese Kunst.

Aufmerksame Rezensionen erwähnen in diesem Zusammenhang Marlene Streeruwitz´ Vorlesungen von 2021 Geschlecht. Zahl. Fall. (Fischer). Zu Recht. Denn der Humanismus der geschlechtszugewandten, feministischen, Wahrnehmung ist so wichtig wie die Kritik am Singular der herausgehobenen und damit kommunikationsdefekten Individuen (ich baue die Brücke zu den „unnormalen“ Persönlichkeiten). Und schon vor dem jetzigen Krieg wird die Kritik am kulturellen, unter der Haut nistenden Bellizismus deutlich, die auch in den Vorträgen und Vorlesungen seitdem immer wieder deutlich wird. Der Krieg wird nicht durch Friedenserklärungen gebannt.

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Für jedes gute Buch ist man dankbar. Hier kommen aber noch Augmente der Hoffnung dazu. Die normale, also nicht ganzheitliche Kommunikation, nicht nur zwischen Mutter und Tochter, ist so wichtig gegenüber allen, die das Ungenügen gerne in die unmögliche Utopie des so-könnte-sollte-müsste-es doch sein verlagern. Und sich dann auch noch opportunistisch im Ungenügen einrichten, besser als nichts.

Die Hoffnung besteht in den Tagen im Mai unter anderem darin, dass im Reden, vor allem von Konstanze und Veronica, aber auch in anderen Wortwechseln, die Brüchigkeit, das geringe Trefferpotenzial der gewechselten Worte, die oft keine Begriffe deutlich wird. ABER. Die beiden haben sich eine Menge zu sagen. Mein Freund Aron Bodenheimer hat vor Jahrzehnten shon auf diese Differenz hingewiesen, und wenn sich Menschen etwas zu sagen haben, muss man sich nicht auf die Rede verlassen. Was sich beiden zu sagen haben, wird so unheimlich deutlich im Dialog der letzten beiden Seiten, dass einen gerade herausreißt aus der selbstmitleidigen Gegenwart und zu einer vita activa auffordert, für die wir vielleicht noch nicht richtigen Worte haben. Das ist normal.

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