Heute schreiben viele zum einjährigen Krieg der Russen gegen die Ukraine, und die Klügeren gehen unter die Oberfläche, um Ursachen, Anlässe, Mythen und Realitäten genauer zu erkunden als einfache Parteinahme zu wiederholen. Ich halte zunächst den Atem an, und versuche, einfach darüber nachzudenken, was ich morgen oder in einem Jahr dazu zu sagen habe und was ich fordere und wofür ich aktiv bin. Spontaneität ist dann oft gefährlich, wenn man – ich – ohnedies eine feste Überzeugung hat über die Wirklichkeit des Krieges und über gebotene oder wenigstens mögliche Handlungen, reale und symbolische.
Was hat das mit Juden zu tun? Putin – ein Wiedergänger Hitlers – denunziert die Ukraine als Naziregime, das vom Westen auf die Zerstückelung des russischen Reichs benutzt wird. Gegen die wahre Geschichte nicht nur des Zweiten Weltkriegs, sondern gegen die antisemitische europäische Geschichte der letzten Jahrhunderte wird hier eine neue Front verfestigt. Und wieder, immer wieder sind die Juden Schuld, sagen wir: auch Schuld.
Und das wirkt nicht nur in Russland nach, es hat in vielen Ländern unterschiedlich nachgewirkt. Und es wirkt bei uns, in Deutschland nach – obwohl wir doch das Musterland der Vergangenheitsbewältigung, der Aufarbeitung, der Judenfreundlichkeit sind. Naja, Musterland, man wird doch relativieren dürfen.
Nicht wahr, Herr Staatsanwalt. Ronen Steinke spießt auf, was mich seit Stunden von anderen wichtigen Themen ablenkt: „Die Staatsanwaltschaft Braunschweig sieht in der Tirade eines rechtsextremen Politikers keine Volksverhetzung. Begründung: Sie habe sich lediglich gegen Journalisten gerichtet und sei nicht als Hetze gegen Juden zu werten. Doch daran entzündet sich Kritik.“ SZ 24.2.2023. Zu Recht. Nun geht es mir nicht um einen antisemitischen oder dummen Staatsanwalt. Zu häufig gibt es eine gewisse Blindheit gegen die antisemitischen Aussagen, die sich im Schutz der Meinu8ngsfreiheitn ausleben dürfen. Zunächst ein Konjunktiv: Sagte ich, der rechtsradikale Braunschweiger Staatsanwalt sei ein Antisemit und dürfe neonazistische Volksverhetzung von der Anklage befreien, könnte mich das strafrechtlich einiges kosten, wenn es im Indikativ und feststellend beschrieben wäre. Ist es nicht. Rechtsstaat. Danach aber eine schärfere Vermutung: noch immer gibt es eine Minderheit im deutschen Justizwesen, die gegenüber rechten, faschistoiden, nazistischen Aussagen eine größere Toleranz walten lässt als gegen alle anderen, nicht nur linken Auslotungen der Meinungsfreiheit. Kennt ihr die Texte von Emil Julius Gumbel? Es lohnt, sich die Darstellung und Analyse anzuschauen, und ich muss immer daran denken, wenn ich Ausflüchte der juristischen Minderheit zur Freigabe rechtsradikaler Meinungen lese. Denn darum geht es mir: Meinungen, das Haben von Meinungen, ihre Freiheit…werden immer dann dem Grundrechtkatalog vorangestellt, wenn man partout ihre Herkunft und vor allem ihre Wirkung nicht beurteilen möchte, obwohl man beides kann. Kritik am Einzelfall ist am obigen Beispiel sicher gerechtfertigt. Aber wie Jusristen, Staatsanwälte, heute noch dazu kommen, hat etwas mit der noch nicht abgeschlossenen Geschichte demokratischen Bewusstseins in der Republik zu tun.
Und dem Braunschweiger Staatsanwalt kann man nur zurufen, dass es noch nicht zu spät ist, sich in die nicht-abgeschlossene Vergangenheitsbewältigung zu begeben, solange es noch „Juden“ gibt, die im Bewusstsein der Rechten, nicht des Rechtsstaats, kein offenbar keine Menschen sind, wie wir alle.