Hannah Arendt & Dorothy L. Sayers – In Potsdam

am 3. Juli fand im Rahmen des Literaturfestivals Potsdam ein Doppelabend statt: Zunächst

Anpassung oder Autonomie? Thomas Meyer: Hannah Arendt: Die Biografie, Über Palästina von Hannah Arendt Natan Sznaider: Die jüdische Wunde. Lesung und Gespräch Moderation: Miryam Schellbach

Nach einer Pause: Dietmar Bär liest Dorothy L. Sayers Moderation: Denis Scheck​.

Da ich kein Literaturkritiker bin und nicht in der Lage, die Kritik der kritischen Kritik zu AutorInnen und ihren Interpreten anzubringen, wozu schreibe ich dann dazu? DAS IST ES, spannend, wie man so einen Doppelabend verarbeitet, ich sage nicht verdaut. Hannah Arendt beschäftigt mich seit Jahrzehnten, und schon deshalb hatte mich der Dialog zweier Autoren interessiert. Die Bücher:

Thomas Meyer: Hannah Arendt: Die Biographie. Piper 2023

Natan Sznaider: Die jüdische Wunde. Hanser 2024

Beide Autoren sind gut besprochen, in den entsprechenden intellektuellen Blasen. Meyers Buch überrascht mich, denn es gibt viel Biographisches zu Hannah Arendt, und da ist der Titel schon anmaßend. Beide Bücher sind interessant. Und die Diskussion? Darüber habe ich während und danach schon nachgedacht, was einem an Form und Inhalt des Dialogs (gut moderiert) wie interessiert hat. Ich bin kein Arendt-Experte der ersten Reihe, aber ich bin gut mit denen vernetzt, die da wirklich sind – deren Erwähnung hat mir sehr gefehlt: vor allem Antonia Grunenberg, aber die 10 Autorinnen zu Arendt in meiner Bibliothek hätten schon neben den Piper-Namen ihren Platz haben sollen…aber gut, das ist ja auch eine Buchvorstellung. Inhaltlich fand ich das ganze eher gut, ob alles verstanden wurde, wenn man Arendt nicht genauer kennt, weiß ich nicht, aber es war schon von beiden gut zusammengefasst. Es ging letztlich darum, wie und warum jüdische Menschen (Juden also) beides sein wollten und konnten: universalistisch, human, aufgeklärt, und menschlich wie alle Menschen, und partikularistisch, also „Juden“, trotz allem, wobei das Alles natürlich nicht breit ausgeführt werden konnte. Hätten wir das diskutiert, wären wir schnell zu meinem Thema gekommen, der Differenz zwischen Juden und jüdisch, ethnologisch vs. kulturell und moralisch. Dass die Religion draußen blieb, war richtig, paradoxerweise hätte man es begründen können.

Die Diskussion, v.a. Meyer bezieht sich an das frühe Werk von Arendt zu Rahel Varnhagen. In der lexikalischen Beschreibung finden sich alle die Bezüge, die mir, siehe oben, gefehlt haben (https://de.wikipedia.org/wiki/Rahel_Varnhagen_(Arendt)). Aber die Weiterentwicklung der Konzepte in den 30er Jahren sind schon von großem Interesse für einen Einstieg in die Werksgeschichte von Arendt, die ja teilweise mit einem fatalen Missverständnis „nach Deutschland“ zurück charakterisiert wurde (Das war auf dem Podium gut dargestellt).

Also? Solche Veranstaltungen sind wichtig und sinnvoll. Mehr davon, und am besten mit Fragen und Diskussionen mit den Zuhörerinnen und Zuhörern. Mehr von Arendt.

*

Nach einer Pause, mit Sonnenlicht, Wein und Begegnungen, dann Dorothy Sayers. Wer sie nie gelesen hat, hat von dieser Vorlesung von Bär nicht so viel, aber es ist schon spannend, wie vor hundert Jahren in die Krimiwelt eine andere Form von Klassenironie einzieht, als man gemeinhin gewohnt war und ist. Ich hatte Sayers gelesen, als ich vor mehr als 60 Jahren Bücher für meine Großmutter aus der Bibliothek holte. Die theatralische Beschreibung der britischen Klassenstruktur hatte sich lang anhaltend eingeprägt, seltsam nur, dass ich das alles nie als „Krimi“ verstanden habe. Zu langer Abstand zurück.

*

Das reicht nicht, für mehr als einen Hinweis. Die Diskussion um Hannah Arendt hat mich weit in die Vergangenheit geführt, nach Freiburg und Marburg, und die frühe Begegnung mit Arendt war eine mit dem Namen, ich hatte begonnen, über Ernst Bloch zu dissertieren, und die Beziehung von Bloch zu Arendt wird später eine wenn auch marginale, so doch wichtige, als ich begonnen hatte, mich mit Arendt auch zu beschäftigen. Angeregt durch Antonia Grunenberg, die später nach Oldenburg kommen sollte, durch das Archiv, durch die amerikanischen Schlüsselorte (Bard College, New York). Aber ich habe eben in den letzten Jahren (Jahrzehnten) immer mehr von Arendt gelesen, manchmal auch etwas dazu geschrieben, und was mich an ihr bis heute fasziniert, ist eine Metapher, der Zwischenraum, zwischen zwei Polen, Thesen, Entwicklungen – und die Intensität, mit der sie Themen zu Begriffen machte, nicht selten contra der hauptsächlichen Auffassung. Natürlich der Eichmann-Prozess (Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1963). Die Kontroverse dauert bis heute. Aber für mich noch wichtiger ihre vielfältigen Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus, sekundär mit Israel (vgl. Israel, Palästina und der Antisemitismus, 1991; u.v.m.). Es beschäftigt mich bis heute – und lernen kann und will ich natürlich von ihrem Denktagebuch 1950-1975: aus diesen vielen Seiten kann ich immer wieder lernen, – und das führt mich zur Diskussion in Potsdam: es geht nicht darum, was sie denkt und sagt, sondern wie sie denkt. Ich habe auch viel darüber gelesen, wie sie mit und gegen Heidegger gedacht und gelebt hat, aber das muss und soll nicht im Vordergrund stehen, wenn sie vorgestellt wird und gar, wenn man sich mit ihr beschäftigt. Der Abend in Potsdam war sinnvoll um Menschen anzuregen, sich auf Arendt einzulassen, weil sie ja nicht über Klappentexte verstanden werden kann. Viele ihrer Freunde und Bekannten, Jaspers und McCarthy und… kann man (kann ich) von ihr aus besser verfolgen als im direkten Zugang. Jetzt stehen sie beide in meinen Regalen, Bloch in der Philosophie und sie in der Politik (sie wollte keine Philosophin sein), aber das ist fast trivial, beide waren fast alles.

Als der Abend an der Potsdamer Orangerie vorbei war, da klang sie nach und entfaltete Erinnerung an Texte (hätte ich sie doch in ihren letzten Jahren in New York kennengelernt, passé…), und was ich heute noch für mich ganz wichtig erachte, war ihre Wahrnehmung des Nachkriegs, NachNS, Deutschlands, das sich in früh schon, bei aller Entwicklung, den Illusionen auch hingab, die die heutige Debatte zu Israel so unerträglich schwierig macht.

P.S. Sayers wirkte anders nach: wie denkt man nach mehr als 60 Jahren an (zu) frühe Lektüre? Das hat mehr mit früher Biographie und wenig mit Text zu tun…

Hinterlasse einen Kommentar