Abschied auf Raten

Im Privaten ist es, wenn nicht lebensbedrohlich, einfach: Beziehungen ausdünnen, verblasen und verblassen (lassen), kein Machtwort, wo die Wahrheit reicht. Politisch geht das nicht so einfach. Der Übergang von der Demokratie zum Faschismus, von der Umwelterhaltung zu Verrecken, vom Frieden zur Vernichtung geht in Stufen (Quanten vielleicht), fast nichts ist umkehrbar – und das, was wir schon wissen oder als wirklich erachten, erleben wir teilweise selbst nicht mehr – oder aber unerwartet schnell. Daraus folgt so ziemlich alles, das wir bedenken.

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Erderwärmung auf 3°…erleben wir nicht, unsere Kinder vielleicht, unsere Enkel sicher. Das ist ein wichtiges Beispiel. Die Verbrennertrottel werden es nicht erleben, sie werden ihre Kinder nicht leiden sehen, und ihre Enkel werden den Großeltern nur Flüche nachrufen, wenn überhaupt.

Die Kriege werden anders, bleiben aber tödlich. Wer sich den Machthabern freiwillig ergibt, wird erleben, wie sich Unfreiheit nicht leben lässt. (und wenn die meisten Westeuropäer lieber in den Trump hineinkriechen als in den Putin, ist das kein Zeichen von Fehlstrategie, sondern nur eines für ihre objektive subalterne Position. Das kann man mittragen, als befristetes Mittel, ohne jeden berechtigten Zweck. Aber frei werden wir so nicht.

Meine These wird bestritten. Wir sind gegenüber den Drei Atomdiktatoren wie Karthago III gegenüber Rom. Das geht mir durch den Kopf, wenn ich durch Marienbad laufe, mir die Zukunft dieses Ortes vorstelle und seiner Geschichte vor zehn Jahren, als ich das erste Mal hier war, nachtrauere. Chicago II, wenn ich darf…(Zufall und notwendig: die Karthago-Legende stimmt so nicht, und einige Jahrhunderte später war es (wieder) äußerst groß und wichtig, römisch beherrscht: Catherine Conybeare: Augustine the African). Egal, der Mythos trägt die Wirklichkeit.

Vor zehn Jahren haben meine Frau und ich Marienbad bei Regen kennengelernt. Nur so gestreift, wir waren in Karlsbad. Wieder gekommen, vor ein paar Jahren beinahe ein Haus gekauft, aber im letzten Moment darauf verzichtet. Gut so. Der Ort hat eine gewisse Anziehung, und damals war er, erklärbar, russisch durchzogen, und aus Deutschland, vor allem dem Osten, heftig besucht. Natürlich haben wir die Geschichte etwas genauer studiert, die belle epoque, mit Kaiser Franz Joseph und dem Englischen König Edward, mit Künstlern und hohem Publikum, aber auch der oberen Mittelschicht. Kurhäuser, Hotels **** und ***, Gastronomie und eben die Quellen und Bäder, und dazu die Legenden und Goethes etwas absurde Altersflirtation, von der angestrebten Schwiegermutter abgebrochen, ein etwas seltsamer, etwas romantischer, etwas künstlerischer Ort, in dem man gerne die Vergangenheit etwas lustig studiert und bei einigermaßen gutem Wetter wirklich eine Menge schöner Ausflüge machen kann, mit und ohne Hund. Weil wir die Möglichkeit eines Hauskaufs erwogen hatten, haben wir den Ort natürlich genauer studiert. Schöne Architektur, besucherfreundlich, touristophil, naja…aber wenn man genauer hingeschaut hat, war damals schon viel Fassade, manchmal sogar nur die Fassade und dahinter Leerstand und Verfall. Aber schön, sonst wären wir jetzt ja nicht mehr für ein paar Tage wiedergekommen. Die Russen sind weitgehend fort, und – das ist der Fokus – der Abbau, noch sage ich nicht: Verfall, geht weiter. Mehr Geschäfte geschlossen, mehr Hotels stillgelegt, mehr Fassaden ohne Hintergrund, Drogen, und eine gewisse Leerung. Noch immer schön, darum sind wir ja hier, aber eben in einem Status des Abbaus. Als ob fast alle Leute hier das wüssten, Einheimische und Touristen. Minimalistische Soziodetails sind sinnvoll. Noch ist fast alles so, wie es vor zehn Jahren, vielleicht vor zwanzig Jahren war, und Sozialismus gibt es ja keinen mehr, darum passen die anderen Stadtteile auch nicht mehr zum Gesamtbild. Es geht auch anderen Kurorten so, nicht nur in Tschechien, aber hier haben wir Erfahrung. Kommen wieder, aber nicht unaufmerksam.

Verallgemeinern, was im Anfangsabschnitt beschrieben ist. Der Übergang zu Karthago III. Sagen wir: weltweit.

Ohne eigene Erfahrung und Wahrnehmung werden die politischen Theorien seltsam körperlos, früher hätte man gesagt „seelenlos“, abstrakt sowieso, das muss ja sein. Aber wenn man sieht, wie manches sich dem Ende zuneigt, dann wird einem klar, nicht nur selbst, sondern unsere Gesellschaft, vielleicht „alles“ ist auf einem abschüssigen Weg. Vorsicht: kein Spengler, kein Weltuntergang, kein Kitsch oder Vorbote einer religiösen Endzeit, – nein, eher eine durchaus materiale Evolutionsmüdigkeit, von uns Menschen, homines sapientes, herbeigeführt, indem wir uns endlich haben überholen lassen von unseren fortgeschrittenen Produkten. Das steht so nicht nur in der Philosophie. Aber ich schreibe es in der Trauer, dass meine möglichen Urenkel die Entwicklung von Marienbad vielleicht nicht erleben wollen und werden.

Zurück in die Gegenwart. Dass soviele Mernschen, politische, ökonomische, private, nicht mehr Umweltpolitik machen, sondern glauben, wirtschaftliches Wachstum kann die Heilkräfte für ein vielfältiges Universum besser als die Evolution befördern, gibt mir unsichere Gedanken. Die teile ich mit vielen Rezensionen, die nicht zaghaft, aber höflich eben diese Entwicklung beschreiben, und vor allem: Dieses Ende kann von einem Atomschlag oder Diktatorenkrieg beschleunigt werden, von selbst kommt es auf leisen Sohlen, unumkehrbar. Wir haben nicht mehr viel Zeit, die haben wir. Darum denke ich das überhaupt.

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